Der Wecker schrillte und riss mich aus dem Schlaf. Es dauerte einen Moment, bis ich so weit wach war, dass ich meine Umgebung bewusst wahrnahm. Die Sonne, die zum Fenster hereinschien, kitzelte meine Nase. Eigenartig, denn im Wetterbericht hatten sie eigentlich etwas vollkommen Anderes vorhergesagt.
Ich schwang meine Beine aus dem Bett und erhob mich, wobei ich meine Glieder streckte, um die letzten Reste von Müdigkeit und Trägheit daraus zu vertreiben. Es war wichtig, wach und fit zu sein – gerade heute. Mein Blick ging zur großen Wanduhr. Es war noch früh. Ich würde also noch eine Menge Zeit haben, zu frühstücken und mich fertig zu machen.
Mein erster Weg führte mich in die Küche, wo ich einen Kessel mit Wasser füllte und ihn auf den Herd stellte. Kochendes Wasser war wichtig. Zu einem guten Frühstück gehörte einfach eine schöne heiße Tasse schwarzen Tees. Sonst aß ich morgens häufig nur ein Müsli mit Milch, doch heute würde ich mir ein richtig kräftiges Frühstück bereiten und freute mich bereits auf ein kräftiges Brot mit Ei und diversen anderen Dingen, die der Kühlschrank hergeben würde.
Während der Wasserkessel auf dem Herd stand, ging ich ins Bad und klatschte mir ein paar Hände voll eiskalten Wassers ins Gesicht. Es war einfach herrlich, dieses Gefühl von kaltem Wasser auf der Haut zu spüren, nachdem man aufgestanden war.  Ich hatte erstaunlich gut geschlafen. Gestern hatte ich noch überlegt, ob ich eine halbe Schlaftablette nehmen sollte, doch dann hatte ich darauf verzichtet – und wie es aussah, war es ja auch nicht notwendig gewesen. Ich hatte geschlafen wie ein Murmeltier. Ich hatte nicht einmal davon geträumt, was ich heute tun würde. Ein letzter Blick in den Spiegel zeigte mir, dass ich gut aussah – jedenfalls nach meinem eigenen Geschmack. Wenn ich an die Reihe der Freundinnen dachte, die ich in den letzten Jahren gehabt hatte, dann schien es so zu sein, dass Frauen es wohl ebenso empfinden mussten. Ich hatte jedenfalls nie Probleme gehabt, Kontakt zum anderen Geschlecht zu finden. Ich musste schmunzeln, wurde jedoch schnell wieder ernst. Das war es nicht, worauf ich mich heute konzentrieren musste.

Inzwischen pfiff der Kessel in der Küche. Ich ging los und zog ihn von der heißen Herdplatte. Um die Hitze auszunutzen, stellte ich schnell eine Pfanne darauf und schlug ein paar Eier auf, um sie darin zu braten. Ich liebte Eier, ganz egal, ob sie nun als Spielgeleier, zerstochen oder gerührt zubereitet wurden. Auf einem frischen Brot mit Schinken waren sie einfach ein Genuss. Doch Schinken aß ich nicht mehr, also belegte ich das Brot mit Käse und gab dann das Ei darauf. Der Tee war zwischenzeitlich auch fertig und ich setzte mich an den Küchentisch. Im Radio kamen gerade Nachrichten, doch sie interessierten mich heute nicht. Vielleicht noch gestern, aber nicht mehr heute.
Ich aß das Ei mit dem Brot bis zum letzten Krümel auf. Mein Blick ging wieder zur Uhr. Allmählich wurde es Zeit. Meine Sachen, die ich heute tragen würde, hatte ich mir bereits am Vortag herausgelegt. Früher war ich nie so ordentlich gewesen, doch meine neuen Freunde hatten mich überzeugt, dass ein Mindestmaß an Ordnung einfach unerlässlich war. Es gab Spielregeln und es war oft wichtig, sich an diese auch zu halten. Kleidung musste zweckmäßig und nicht zu auffällig sein. Mir fiel der neuhochdeutsche Begriff „overdressed“ ein und ich musste wieder schmunzeln. Nein, ich würde nicht overdressed sein, darauf hatten sie bestanden und sie hatten natürlich recht. Ich wählte also ein paar Jeans und ein schwarzes Hemd, sowie dunkle Lederschuhe. Da es draußen kalt war – die Sonne täuschte lediglich vor, als wäre es heute ein warmer Tag – wollte ich den dicken Anorak darüberziehen. Er würde auch nicht so sehr auftragen, wenn ich die Weste darunter trug.
Als ich fertig angezogen war, betrachtete ich meine Erscheinung noch einmal im Spiegel. Es sah vollkommen in Ordnung aus. Ich wirkte nicht zu dick, also würden die Anderen es auch nicht so empfinden. Ich blickte mich ein letztes Mal in meiner Wohnung um, dann trat ich auf den Flur hinaus und zog die Tür hinter mir zu.
Im Flug begegnete mir Frau Niederberg aus der ersten Etage.
„Guten Morgen“, grüßte ich freundlich und nickte ihr zu. „Schon so früh auf den Beinen?“
„Mein Mann will ja morgens seine Brötchen haben“, sagte sie. „Aber es ist lausig kalt.“
„Dann lassen Sie es sich mal schmecken“, sagte ich noch, dann ging ich weiter, denn ich musste den Bus erreichen, der zum Bahnhof fuhr. Frau Niederberg hatte nichts gesagt, also war er ihr nicht zu dick erschienen. Das war gut.
Die Fahrt mit dem Bus war eintönig langweilig. Die meisten der Fahrgäste saßen, in ihre Gedanken vertieft, auf ihren Sitzen und dösten vor sich hin. Niemand interessierte sich dafür, was die Anderen dachten oder taten. Jeder war dem Anderen gleichgültig. Das war so typisch für diese Gesellschaft. Sie erstickte in ihrer eigenen Ignoranz und die meisten merkten es noch nicht einmal. Auch ich war einer von ihnen gewesen, bis ich meine neuen Freunde kennen gelernt habe. Sie waren anders. Sie hielten zusammen. Einer war für den Anderen da und man half sich gegenseitig freiwillig und gern. Es hatte mich tief beeindruckt und es war das Größte gewesen, als sie mich zu sich einluden und mir anboten, einer von ihnen zu werden. Es war eine ganz neue Erfahrung für mich – eine regelrechte Offenbarung.
Der Bus fuhr in die Busstation am Bahnhof ein und die meisten Fahrgäste stiegen aus, ebenso wie ich, denn meine Aufgabe wartete hier am Bahnhof. Mein Blick ging wieder zur Uhr. Bahnhofsuhren gingen bekanntlich sehr genau, also würde ich mich danach richten und nicht nach meiner Armbanduhr. Es war noch zu früh, also bestellte ich mir an einem Kiosk noch einmal einen Tee. Früher mochte ich überhaupt keinen Tee, doch meine Freunde liebten Tee und irgendwann fand ich ebenfalls Gefallen daran.
Ich beobachtete die Menschen. Manche hasteten eilig vorbei – gehetzt von Terminen und Aufgaben, andere bummelten an den Schaufenstern der Geschäfte in der Bahnhofshalle entlang und vertrieben sich offenbar nur die Zeit. Vielleicht warteten sie auf einen Zug oder wollten jemanden abholen, der bald hier ankommen würde. Ein paar Schulkinder kauften sich am benachbarten Kiosk ein paar Süßigkeiten und liefen dann lärmend zur Straße hinaus. Aus irgendeinem Grunde beruhigte mich das. Ich mochte Kinder. Es war noch immer zu früh.
Ein paar Beamte der Bundespolizei liefen mit ein paar Mitarbeitern der Bahnpolizei Streife und schauten in alle Ecken der Halle. Was sie wohl suchten? Vielleicht ein paar Betrunkene, die hier übernachtet hatten. Mich würden sie ja wohl nicht suchen. Oder bildete ich mir ein, dass heute mehr Beamte hier herumliefen, als sonst üblich? Vielleicht wäre es besser, ich schaute noch einmal in den Zeitschriftenladen hinein, denn es war noch immer zu früh.
Sie hatten es mir genau erklärt. Der richtige Zeitpunkt war 12:34 Uhr. An genau diesem Zeitpunkt kamen gleichzeitig auf vier Gleisen Züge an und brachten Massen von Menschen hierher. Das war der Zeitpunkt auf den es ankam und ich war es, auf den es ankam. Früher hätte ich es selbst nicht für möglich gehalten, aber die Freunde haben es mir immer wieder erklärt. Schließlich hatte ich es begriffen und akzeptiert, dass es meine Aufgabe sein würde, den Menschen ihre Unzulänglichkeit klar zu machen.
13:34 Uhr. Es war Zeit. Ich begab mich in die große Halle und stellte mich dort auf, wo die Treppen von den Gleisen  von beiden Seiten  mündeten. Schon hörte ich die Züge, die in den Bahnhof einliefen. Die Bremsen quietschten und die ersten Menschen drängten die Treppen hinunter. Das war mein Tag. Ich öffnete meinen Anorak und angelte nach den Anschlüssen meiner Weste. Der Anorak war im Weg, also streifte ich ihn vollständig ab.
„Hey Sie, was tun Sie da?“, rief jemand hinter mir.
Ich drehte mich um und blickte in die Gesichter der Bundespolizisten, auf deren Gesichtern sich allmählich ein Erkennen abzeichnete. Ich konnte mir gut vorstellen, was sich in ihren Köpfen abspielte. Nicht jeden Tag sah man jemanden, der eine Weste trug, die mit gekoppelten Sprengsätzen gespickt war. Immer mehr Menschen strömten nun die Treppen herunter und flossen, wie ein träger Strom, in die Halle.
„Alle zurück!“, brüllte einer der Beamten, „Auf den Boden!“ ein anderer. Einige Leute schrien entsetzt auf, als sie begriffen, dass sie dem Unvermeidlichen gegenüberstanden.
Es war mein Tag. Es würde an mir liegen, das Signal zu setzen und die Ungläubigen in ihre Schranken zu weisen. Ich war nun erleuchtet vom wahren Glauben und war stolz, dass ich es sein würde, der über die Ungläubigen triumphieren würde.
Ich sah mich noch einmal in alle Richtungen um. Einer der Beamten hatte bereits seine Waffe gezogen und richtete sie auf mich, doch das konnte mich nicht mehr betreffen. Ein heftiger Schlag traf mich in der Brust und ich fühlte mich, wie in Feuer getaucht. Mit zusammengebissenen Zähnen griff ich nach dem Zünddraht und zog mit einem entschlossenen Ruck daran …