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1 Isla dos Flores
1.1 Heiligabend (Bearbeitungsstand 17.01.2025)
Es war früher Morgen, als ich mit meinem Fahrrad die letzte Steigung nach Farol de Albarnaz nahm. Bis zur Brücke über den Moinho war es immer recht angenehm zu fahren, doch das restliche Stück verlangte mir jedes Mal einiges ab. Im Grunde mochte ich es, so früh unterwegs zu sein. Es half mir, den Kopf freizubekommen und mich auf die Arbeit vorzubereiten. Es war dunkel und der Scheinwerferkegel des Rades tanzte mit jedem Tritt in die Pedalen über das rissige Pflaster der schmalen Straße. Das Meer zu meiner Rechten rauschte leise und trotz der Anstrengung genoss ich den milden Dezember dieses Jahres. Früher, in Deutschland, wäre ich zu dieser Zeit nicht auf die Idee gekommen, nur mit einer relativ dünnen Jacke bekleidet, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Das Meer war nur durch die leise Brandung zu erahnen, denn zu dieser Stunde präsentierte es sich in absoluter Schwärze. Früher hätte man die vorbeifahrenden Schiffe wie die Perlen einer imaginären Kette erkannt, doch das hatte inzwischen fast vollständig aufgehört.
In der Ferne erahnte ich schon die Außenbeleuchtung der Station und den Leuchtturm, nach dem dieser Platz benannt war. Dort lag meine Arbeitsstätte - ein Ort am Ende der Welt, in der Mitte von nirgendwo.
Ich legte mich ins Zeug, um die letzten Meter bis zum Parkplatz zu schaffen. Oben angekommen stellte ich mein Zweirad unter ein Vordach, das ursprünglich für die Autos der Angestellten vorgesehen war, aber heute fuhren - wenn überhaupt - nur Lastwagen und die Carports wurden anderweitig genutzt.
Nach der Dunkelheit des Weges und dem trüben Lichtkegel meiner Lampe stach das grelle Licht auf dem Parkplatz vor dem Stationsgebäude fast schmerzhaft in den Augen. Das Gebäude war keine Schönheit - halt ein Zweckbau, und die GulfGen-Corporation hatte seinerzeit sicher anderes im Sinn als ein gefälliges Design. Es war eben ein kalter, hässlicher Betonklotz. Ich betrat das Gebäude und lief sofort in die Messwarte, weil ich sicher war, dass mein Kollege Ronald auf seine Ablösung wartete.
Die Messwarte war ein großer, quadratischer Raum ohne Fenster, der mit Anzeigeinstrumenten übersät war. Ronald hatte die Deckenbeleuchtung abgeschaltet und so wurde der Raum nur gespenstisch durch die vielen Instrumentenbeleuchtungen etwas erhellt. Mein Kollege saß in seinem Drehsessel und schwang darin zu mir herum, als er mich bemerkte.
»Du hast das Licht draußen brennen lassen«, begrüßte ich ihn. Es war eine Art von Running Gag zwischen uns, denn elektrische Energie war das Einzige, woran auf Flores kein Mangel herrschte.
»Wie unaufmerksam von mir«, entgegnete Ronald lachend. »Du bist früh dran, heute.«
»Ach, ich konnte nicht mehr schlafen und da dachte ich, dass du es mir nicht übel nehmen würdest, wenn ich dich ablöse.«
Ronald grinste. »Worauf du einen lassen kannst. Aber mal im Ernst: In deiner Situation wäre ich garantiert nie so pünktlich hier wie du. Habt Ihr etwa Probleme?«
»Mach dir keine Hoffnungen, du Casanova. Zwischen Marina und mir ist alles in Ordnung. Das darfst du mir glauben.«
Ronald seufzte. »Man wird doch noch träumen dürfen. Ich hab sowieso nie verstanden, was sie an dir findet - wo sie doch einen Kerl wie mich haben könnte.«
»Tja, vielleicht bist du doch nicht der Adonis, der du gern sein möchtest. Vielleicht solltest du am Wochenende mal nach Ponto Delgada kommen. In manchen Lokalen gibt es Tanz, und soweit ich gehört habe, besteht fast immer Mangelware an netten, jungen Männern. Aber ich habe das Gefühl, dass du dich nicht traust.«
»Ich? Mich nicht trauen? Das sagt so ein schüchternes Bürschchen wie du?«
Ich lachte. »Ich hab nie behauptet, ein Weiberheld zu sein. Komm einfach am Wochenende bei uns vorbei und wir gehen zusammen in eines der Lokale, die Marina kennt. Da ist sicher für dich was Passendes dabei.«
Er verzog das Gesicht und wandte sich dem Kontrollpult zu. Ich wusste, dass er meine Frau mochte, und auch, dass alles Gerede nur Spaß war. Er fühlte sich einsam und konnte nicht aus seiner Haut heraus - genau wie ich, nur dass Marina mich aus meinem Gefängnis befreit hatte. Ronald war offenbar nicht bereit, das Thema weiterzuführen, daher wurde ich dienstlich.
»Gab es während deiner Schicht Besonderheiten?«
»Turbine 9 hatte ein paar Aussetzer. Ich konnte die Spannung aber durch Lastverteilung über die Reserveturbinen konstant halten. Ich hab Sea-Eye vorbeigeschickt.«
»Und? Hat die Drohne etwas herausgefunden?«
»Es war nur ein dicker Ballen Seetang, der sich am Rotor verfangen hatte und ihn gebremst hat. Nichts Ernstes, aber wir sollten das Wartungsteam mit dem U-Boot dort hin beordern. Ich möchte die Reserveturbinen nicht zu lange in Betrieb halten.«
»Das muss ja auch nicht sein. Wir hatten in den letzten Wochen dauernd diesen verdammten Tang in den Turbinen. Wir sollten über Abschirmungen nachdenken.«
Ronald lachte humorlos auf. »Tolle Idee. Und wo willst du das Material dafür herbekommen?«
»Ja, ich weiß. Es kommen aber sicher wieder bessere Tage.«
»Sicher?«
»Was heißt sicher? Es muss einfach wieder besser werden!«
Wir schwiegen einen Moment, bis Ronald sagte: »Du denkst daran, dass um zehn der turnusmäßige Funkspruch mit São Miguel fällig ist?«
»Na klar. Ich mach das schon. Sieh du zu, dass du in die Koje kommst und etwas Schlaf bekommst.«
Ronald erhob sich träge und streckte seine Glieder. Dabei gähnte er herzhaft. »Weißt du was? Genau das werde ich jetzt tun. Ich überlass dich deinem Schicksal. Du kannst mich aber jederzeit anfunken, wenn es hier brennt. Aber bitte auch nur dann.«
Ich winkte ab. »Hau einfach ab. Was soll schon geschehen? Schlaf dich aus - wir sehen uns später.«
Ronald grinste und zog seine alte, speckige Jacke über. »Wenn man so nett gebeten wird, ziert man sich nicht länger. Bis später dann.«
Er hob grüßend die Hand und verließ die Messwarte. Ich ließ mich auf den Drehsessel gleiten, auf dem Ronald eben gesessen hatte, und stellte ihn für meine Größe ein. Auf dem Monitor der Eingangskamera sah ich ihn zu seinem Fahrrad gehen. Als wüsste er, dass ich ihn beobachte, grüßte er militärisch mit der Hand, bevor er aufs Rad stieg und den Parkplatz verließ. Nun war ich allein. Bis die Wartungsteams kamen, dauerte es ein paar Stunden - Zeit genug, alle Systeme in Ruhe zu checken. Ich lief in die kleine Teeküche, die neben der Messwarte gelegen war, und stellte zufrieden fest, dass Ronald eine große Kanne Kaffee gekocht hatte. Noch gab es genug davon auf Flores, aber was käme, wenn die ersten gravierenden Versorgungslücken entstanden? Ich füllte mir einen Becher und schlenderte zurück zu meinem Sessel. Die trübe Beleuchtung machte mich müde, also schaltete ich das Deckenlicht ein. Auf dem Pult lag die Checkliste, die ich durcharbeiten musste. Ein flüchtiger Blick darauf sagte mir, dass die Probleme an Turbine 9 das Einzige war, das in Ronalds Schicht vorgefallen war. Routinemäßig ging ich die einzelnen Positionen durch und nach einer knappen Stunde war ich damit fertig. Jetzt drang die Müdigkeit wieder durch - vermutlich der Tribut an das frühe Aufstehen am Morgen. Ich nickte ein, wissend, dass die automatischen Sensoren an unseren unterseeischen Generatoren sofort Alarm auslösen würden, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.
Erst das durchdringende Piepsen des Funkgeräts ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Die große Uhr über dem Messpult zeigte zehn Uhr - es war der Routineruf von unserer Zentrale auf der Hauptinsel São Miguel.
Hektisch drückte ich auf den Knopf für die Rufannahme. »Messwarte auf Flores, Ferdinand Menzel hier.«
»Na, hab ich dich geweckt?«, drang es aus dem Lautsprecher, und es folgte ein wissendes Lachen. »Hier ist Sebasto Pereira, GulfGen-Labor Achada, São Miguel. Wie geht es euch?«
»Danke der Nachfrage«, sagte ich lachend. »Mensch, Sebasto, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen. Wenn ich das nächste Mal auf São Miguel bin, sollten wir mal zusammen einen trinken gehen. Bist du noch immer mit dieser kleinen Schwarzhaarigen zusammen?«
»Constanzia? Nun, wir haben im Oktober geheiratet, wenn du das meinst.«
»Meinen Glückwunsch, Sebasto.«
»Danke. Und wie ist es bei dir? Noch immer der einsame Wolf?«
»Als einsamen Wolf hab ich mich eigentlich nie empfunden. Aber nein, ich bin nicht mehr solo. Ich bin seit ein paar Monaten ebenfalls verheiratet.«
»Ach, mach keinen Quatsch! Du hast doch immer gesagt, dass du von Flores weg bist, sobald sich wieder eine Gelegenheit ergibt - und nun heiratest du sogar eines von unseren Mädels? Wie heißt sie denn?«
»Marina. Und, wie du dir denken kannst, bin ich gar nicht mehr so scharf darauf, hier wegzukommen.«
Sebasto lachte. »Ja, die Azoren haben durchaus ihre Reize, was? Aber mal was anderes: Gibt es bei euch Besonderheiten? Laufen die Generatoren? Wie sieht es an der Ersatzteilfront aus?«
»Alles im grünen Bereich. Die Unregelmäßigkeiten betreffen meist nur Tang, der sich in den Rotoren verfängt. Das bekommen die Wartungsteams immer schnell in den Griff. Die U-Boote sind in Ordnung. Ersatzteile haben wir während der letzten Wochen nur wenige gebraucht. Der Bestand ist auch noch reichlich. Was uns fehlt, sind Masten.«
»Masten?«
»Ja, wir leben ja auf einer sehr kleinen Insel und haben entschieden, sie, soweit es geht, zu elektrifizieren. Wir haben so viel von diesem verdammten Strom und können ihn nicht unter die Leute bringen. Wir haben kilometerweise Kabel, aber kaum Masten, um es zu verlegen. Wir können ja schlecht alle Bäume auf Flores dafür fällen.«
Sebasto schwieg einen Moment. »Eure Idee ist nicht schlecht, aber wir können euch keine Masten liefern. Da müsst ihr schon selbst sehen, wie ihr zurechtkommt. Die Vorräte an brennbaren Treibstoffen werden nicht mehr lange reichen. Da wäre es schon gut, so viele Haushalte wie möglich an das Versorgungsnetz anzuschließen. Ich werde diesen Vorschlag auch mal in der nächsten Nachmittagsbesprechung vorbringen. Das wäre eventuell auch was für São Miguel.«
Jedes Mal, wenn ich mit den Leuten in Achada sprach, dachte ich an meine Familie, die im fernen Deutschland lebte - sofern sie noch am Leben war. Achada hatte mitunter schon mal Kontakt zum Festland. Die Insel lag eben fünfhundert Kilometer näher am Festland als Flores. »Sag mal, habt ihr etwas aus Europa gehört?«
»Ja, das haben wir tatsächlich. Wir hatten erst gestern Funkkontakt zu einem privaten Funker in Spanien und mit einem in Stockholm. Keine Ahnung, wie lange die noch Kontakt halten können. Ich kann dir sagen, dass wir es wirklich nicht schlecht getroffen haben. Die Situation auf dem Festland ist katastrophal. Die ersten beiden Weltkriege waren ja schon schlimm genug, aber dieser Krieg hat eine ganz andere Qualität. Diesmal haben sie uns in die Steinzeit zurückgeworfen. Na ja, nicht wirklich, aber den Menschen wird es so vorkommen. Regierungen gibt es im Grunde nicht mehr. Alle, die behaupten, die Ordnung wiederherstellen zu wollen, sind eigentlich Führer von irgendwelchen Milizen, die selbst jetzt noch eine Scheibe vom Kuchen abhaben wollen. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie auf dem letzten Ast sitzen, der noch am Baum ist, und sägen fleißig daran herum.«
»Also stimmt es, dass die gesamte Technologie nicht mehr funktioniert?«
»So ist es. Alles, was mit Kupfer zu tun hat, ist nur noch bröseliger Dreck. Leiterplatinen in Computern, Stromleitungen, Wicklungen in Motoren, einfach nichts funktioniert mehr. Die Kommunikation ist quasi vollständig zum Erliegen gekommen, die Versorgung der Städte klappt nicht, sie haben keine medizinische Versorgung mehr. Diese verdammten Naniten haben ganze Arbeit geleistet.«
»Weiß man denn inzwischen, wo diese Dinger hergekommen sind? Wir hatten alle Angst vor nuklearen Waffen und nun werden wir von - kaum sichtbaren - Winzlingen in die Knie gezwungen.«
»Da hast du Recht, Ferdi. Aber es gab sehr wohl auch nukleare Zwischenfälle. Man machte zwar immer Terroristen dafür verantwortlich, als die Reaktorkerne in Olkiluoto in Finnland oder Flamanville in Frankreich durchbrannten, oder die Explosion beim Zwischenlager für Brennelemente in Brokdorf, aber ich bin fast sicher, dass es auch diese Naniten gewesen sein können, die das Steuer- und Kontrollsystem der Kraftwerke zerstört haben können. Wir haben es schlichtweg verbockt - ich meine: wir Menschen haben es verbockt. Wir sind so unglaublich verbohrt darin, unsere Vorteile zu nutzen, dass wir nie die Konsequenzen bedenken. Wir können uns nur glücklich schätzen, dass wir hier auf den Azoren so unwichtig waren, dass uns niemand beschossen hat.«
»Habt ihr diese Informationen nur durch diese Funkkontakte erhalten?«
»Na ja, nicht ganz. Du weißt ja selbst, welche Möglichkeiten wir hier in Achada haben. Einer unserer Softwarespezialisten hat früher mal für amerikanische Nachrichtendienste gearbeitet. Er hat uns erst kürzlich gestanden, dass er für die Steuerung von Spionagesatelliten zuständig war und gewisse Backdoors in seinen Programmen habe. Er meinte, dass es gang und gäbe wäre, und viele Programmierer sowas als eine Art von Signatur empfinden. Durch ihn kamen wir an das alte Satellitensystem der USA heran und konnten uns selbst ein Bild von der Situation in Europa und der übrigen Welt machen. Es sieht schlecht aus.«
»Könnt ihr uns die Steuercodes und Zugangscodes für die Satelliten schicken?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Wir würden uns auch gern mit unseren eigenen Augen ein Bild machen.«
»Ich weiß nicht ... ich müsste erst ...«
»Sebasto?«
»Ja?«
»Worin siehst du ein Problem? Die Amis werden wohl kaum im Augenblick Verwendung für die Dinger haben. Und sitzen wir nicht im selben Boot?«
»Hmm, ja du hast Recht. Weißt du was? Ich schick dir eine codierte Textmeldung. Lass deinen Empfänger eingeschaltet ... Gib mir ein paar Minuten.«
»Kein Problem. Und ... danke Sebasto.«
»Wir sind doch Freunde. Du musst uns mit deiner Frau mal besuchen kommen, wenn ihr nach São Miguel kommt.«
»Versprochen.«
»Aber wo wir gerade darüber sprechen: Du hast mir nie erzählt, wieso du ursprünglich unbedingt wieder zurück nach England wolltest.«
Ich grinste. Sebasto wollte mich nicht von Haken lassen. Aber warum ein Geheimnis daraus machen?
»Du weißt, dass ich meinen Abschluss in Elektrotechnik in Hannover gemacht habe. Dort bin ich aufgewachsen und dort lebt - hoffentlich - noch meine Familie. Schon im letzten Teil meines Studiums galt mein besonderes Interesse den Gezeitenkraftwerken, die man vor Cornwall und in der Irischen See errichtet hatte. Der Gedanke, an einem solchen Projekt beteiligt zu sein hatte mich fasziniert. So schwer es mir auch fiel, aber in Deutschland gab es solche Kraftwerke nicht, also musste ich meine Heimat verlassen.«
»Dieses Schicksal teilen aber viele Menschen, Ferdi. Damit stehst du nicht allein.«
»Stimmt, aber ich bin ziehmlich behütet in meiner elterlichen Familie aufgewachsen und da war der Schritt, nach Großbritannien zu ziehen, für mich schon ein recht großer. SeaGen Incorporated in Bristol war für mich ein tolles Betätigungsfeld und als Stadtpflanze fühlte ich mich in dieser Stadt wohl. Ich hatte gerade begonnen, erste Wurzeln zu bilden, als man mir empfahl, portugiesisch zu lernen.«
»Wie schrecklich«, entgegnete Sebasto lachend.
»Hör auf, du alter Spötter! Das war eine Scheißarbeit, neben dem Job noch eine Sprache zu lernen, die für eine deutsche Zunge nicht leicht zu sprechen ist. Und es hieß ja zunächst nur, es ginge um die Kommunikation mit den Leuten der neuen Anlage auf den Azoren. Gehört hatten wir alle davon und mir war durchaus klar, dass ich irgendwie damit zu tun haben würde.«
»Und plötzlich hieß es: Ab auf die Azoren. Und das war so schrecklich für dich?«
»Ganz ehrlich? Ja. Du ahnst nicht, wie sauer ich war. Natürlich war es eine Beförderung, aber sie kam mir vor wie eine Strafversetzung. Vielleicht verstehst du das nicht, aber ich war ein Stadtmensch und dann ... Flores ist ein Fliegenschiss im Atlantik.«
»Na hör mal!«, entrüstete sich Sebasto.
»Ich will dir doch nur verdeutlichen, wie ich das damals empfand. Hätte ich damals die Wahl gehabt, ich wäre mit derselben Maschine wieder zurückgeflogen.«
»Und das willst du heute nicht mehr. Dann lass mal hören. Wie hast du deine Frau kennen gelernt?«
Sebasto war unmöglich. »Du bist neugierig und indiskret.«
Sein Gelächter drang aus dem Lautsprecher des Funkgerätes. »Ach scheiß drauf, Ferdi! Ziehr dich nicht und erzähl schon. Wenn eines von unseren Mädels einen Schwerenöter wie dich so sehr verändern kann, will ich Einzelheiten. Also?«
»Na gut. Ich musste eines Tages mit unserem Geländewagen nach Santa Cruz, um Vorräte zu kaufen. Santa Cruz ist ein Nest, aber es gab dort einen Gemischtwarenladen, von dem unser Kollege Grover in höchsten Tönen schwärmte. Dort sollte man angeblich alles bekommen, was man brauchte. Nachdem ich den Laden betreten hatte, wusste ich plötzlich nicht mehr, was ich eigentlich kaufen wollte. Da stand sie hinter der Theke: Eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, ein Gesicht wie ein Engel, die mit einer Kundin mit sanfter, wohlklingender Stimme sprach. Ich muss sie wohl angestarrt haben, denn ich erntete von ihr einen irritierten Blick, wobei sie ihre Stirn runzelte.«
»Und da hast du sie gleich angesprochen?«
»Du kennst mich. Dazu war ich viel zu schüchtern. Als ich an der Reihe war, bestand meine Bestellung aus gesammeltem Stammeln. Ich glaube, ich habe mich damals richtig zum Affen gemacht. Marina jedenfalls hat sich köstlich amüsiert und mir war es peinlich. Ich war damals sogar froh, als ich den Laden wieder verlassen konnte. Allerdings musste ich sie wiedersehen. Drei Einkäufe später fragte ich sie dann, ob sie mit mir ausgehen würde - und sie sagte ja.«
»Das war alles?«
Ich schüttelte meinen Kopf, obwohl er das nicht sehen konnte. »Was willst du denn noch hören?«
»Ferdi, auf den Azoren heiratet niemand so einfach ein Mädchen. Wie hast du die Hürde ihrer Eltern genommen? Du bist Ausländer. Gab das keine Probleme?«
Ich stieß zischend Luft durch die Zähne. »Anfangs schon. Carlos, mein Schwiegervater, benahm sich anfangs, als wäre ich sein Gegner. Meine Schwiegermutter mochte mich, aber ich spürte bei ihr, dass sie Angst hatte, ich könnte ihre Tochter schwängern und sie dann sitzenlassen. Ich hielt dann offiziell bei Carlos um die Hand von Marina an. Ich musste ihm versprechen, dass wir uns katholisch trauen lassen würden und ich musste mit ihm eine ganze Flasche selbst gebrannten Medronho leeren. Mein Schädel fühlte sich danach schrecklich an.«
»Mein Mitleid hält sich in Grenzen. Eine Hochzeit mit Medronho besiegeln ... Ich finde, du bist gut dabei weggekommen.«
»Kann man so sagen. Am nächsten Morgen nahm er mich in die Arme wie einen alten Freund und wollte wissen, wann wir zu heiraten gedachten. Und dann hat er mir ins Ohr geflüstert, dass er mich kastrieren würde, wenn ich seiner Tochter jemals wehtun würde. Ich muss saublöd geschaut haben, denn er hat gelacht, bis ihm die Tränen kamen. Nachdem er sich beruhigt hatte, drückte er mich erneut an sich und meinte, er habe jetzt einen Sohn dazubekommen. Da begriff ich, dass ich endlich angekommen war.«
»Eine schöne Geschichte. Ich werde dir meine erzählen, wenn wir uns mal treffen. Aber ich rate dir, die Warnung deines Schwiegervaters ernst zu nehmen.«
»Ich würde Marina niemals wehtun. Ich denke, dass ich mit der Warnung leben kann.«
»Okay, dann bis zum nächsten Anruf. Ich bin jetzt weg, aber erst abschalten, wenn die Textmeldung bei dir eingetroffen ist.«
Es knackte und Sebasto hatte sich ausgeklinkt. Diese Routinemeldungen waren meist die einzigen Kontakte, die wir zu unserer Zentrale auf der Hauptinsel hatten. Es waren etwa fünfhundert Kilometer über den Ozean bis dorthin und diese Entfernung legte man nicht mal eben zurück - zumal jetzt nicht, wo Treibstoff immer mehr zur Mangelware wurde. Es gab zwar inzwischen wieder einige Segler, aber in diesen kleinen Schiffen über den Atlantik zu segeln, war nicht jedermanns Sache. Meine war es jedenfalls nicht.
Ein akustisches Signal ertönte und zeigte an, dass eine Textmeldung eingegangen war. Ich ließ die Datei ausdrucken und hielt nur wenig später einige Seiten in der Hand, die mit ‘Hieroglyphen’ übersät waren. Grover, unser Softwarespezialist und Elektroniker, konnte sicher etwas damit anfangen. Ich wollte ihm gleich bei der nächsten Ablösung die Unterlagen in die Hand drücken.
Der Rest meiner Schicht verlief recht ereignislos. Etwas Abwechslung gab es, als die Jungs vom Wartungsdienst kamen. Ich erzählte ihnen, dass Turbine 9 Schwierigkeiten hatte und sie machten sich mit einem der Klein-U-Boote auf den Weg zum Strömungskraftwerk. Ein paar Stunden später erschien Grover Lambert, um mich abzulösen.
»Hi Ferdi!«, rief er vom Eingang aus. »Alles klar mit unserem Baby?«
»Alles grün, Grover. Turbine 9 hatte ein Problem, aber die Jungs sind schon dabei, es in Ordnung zu bringen.«
»Cool, dann kann ich ja gleich ein Schläfchen machen, oder?«
Ich grinste, da ich genau wusste, dass er das niemals tun würde. Grover war ein Workaholic und suchte sich Arbeit, wenn er keine hatte. Ich hielt ihm die Ausdrucke hin, die ich erhalten hatte.
»Was ist das?«
»Hab ich von Sebasto bekommen. Es sollen Zugangs- und Steuercodes sein. Für mich ist das Fach-Chinesisch, aber du solltest damit was anfangen können.«
Stirnrunzelnd blickte er auf die Seiten und blätterte von Zeit zu Zeit um. Später setzte er sich und sah mich an. »Kannst du mir sagen, was man hiermit steuert?«
»Angeblich Spionagesatelliten der Vereinigten Staaten.«
»Im Ernst?«
Ich nickte. »Sebasto meinte, sie hätten bereits erste Bilder aus Europa gesehen.«
»Das wäre ja ... das ist ... einfach unglaublich. Ich werde mich gleich mal damit befassen und versuchen, einen dieser Dinger anzusteuern. Unsere große Schüssel sollte eigentlich in der Lage sein, Kontakt zu diesen Satelliten aufzunehmen. Mit etwas Glück bekommen auch wir auf Flores mal einen vernünftigen Einblick in die Situation auf dem Festland.«
Mir war bekannt, dass er Familie in England hatte und - genau wie ich - nicht wusste, was aus ihr geworden war. Ich war sicher, dass Grover schon in wenigen Stunden einen dieser Satelliten steuern würde.
»Ich mach dann mal Feierabend, okay?«
»Fahr nur. Es ist Heiliger Abend und deine Frau wird nicht böse sein, dich zu sehen.«
»Schon richtig, aber es ist ein eigenartiges Weihnachtsfest, nicht wahr?«
Grover nickte. »Aber ist Weihnachten nicht auch eine Zeit der Hoffnung? Wir sollten sie niemals aufgeben.«
»Ich gebe sie niemals auf. Ich wünsch dir eine ruhige Schicht.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter und wandte mich zum Gehen. Draußen war es hell, aber trübe, der Himmel grau. Es war so gar keine weihnachtliche Stimmung. Glücklicherweise regnete es nicht, als ich auf mein Rad stieg und den Weg nach Ponto Delgada einschlug. Ich liebte diese einsamen Wege durch die Natur von Flores. Es waren die Zeiten, in denen ich nachdenken - mich an Dinge erinnern konnte.Der Weg zurück nach Hause erschien mir von jeher kürzer, da er überwiegend bergab führte. Schon von Weitem waren die Häuser von Ponto Delgada in der Ferne zu erkennen, doch mein Ziel lag noch davor. Marinas Familie wohnte etwas außerhalb des Ortes. Carlos, hatte uns schweren Herzens seinen alten Anbau überlassen, damit Marina und ich aus ihm eine kleine Wohnung für uns einrichten konnten.
Am Haus der Dos Santos, welches nun auch mein Heim war, kam mir schon der Duft eines Bratens entgegen, den Elisa vorbereitet hatte. Carlos hatte eine Gans geschlachtet, die unser Festmahl sein sollte. Bestens gelaunt betrat ich die große Küche und meine Schwiegermutter lächelte mir zu. Ich drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ist Marina noch nicht da?«
»Sie müsste bald kommen. Sie fuhr nur noch einmal nach Santa Cruz ins Geschäft. Es ist zwar Heiliger Abend, aber die Menschen brauchen auch Lebensmittel für den Feiertag.«
»Gibt es denn überhaupt noch Waren? Es ist doch schon seit Monaten kein Schiff mehr vom Festland angekommen.«
»Seit die Notlage eingetreten ist, halten die Menschen hier auf Flores zusammen. Sie haben begonnen, ihre eigenen Produkte in die Läden zu bringen und nutzen sie als Tauschbörsen. Geld hat weitgehend seine Bedeutung verloren, solange die Versorgung von draußen ausbleibt.«
Ich nickte, denn ich hatte davon schon gehört, und es war vollkommen vernünftig, so zu handeln. Leider funktionierte ein solches System meist nur in kleinen Gemeinden, wie der Bevölkerung von Flores.
»Marina ist doch nicht etwa mit dem Fahrrad gefahren?«, fragte ich.
»Um Gottes Willen, nein! Sie hat die Kutsche genommen. Schau doch mal, ob du sie nicht schon sehen kannst. Sie wollte eigentlich schon zu Hause sein.«
Ich trat ans Fenster und spähte die Straße nach Ponto Delgada hinunter. Da es nur diese eine Straße gab, konnte sie auch nur aus dieser Richtung kommen. Viel Verkehr hat es auf dieser Straße nie gegeben, aber seit Ausbruch des Krieges in Europa war das Benzin knapp, und heute sah man höchstens mal Radfahrer oder Pferdekutschen, soweit es sie überhaupt gab. Carlos hatte aus reiner Liebhaberei stets ein Pferd und eine Kutsche behalten. Er war einer der wenigen, die noch Transporte durchführen konnten. Mir war es recht, dass Marina mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war, denn der Weg von Santa Cruz bis Ponto Delgada war beschwerlich, wenn man ihn mit dem Rad zurücklegen musste.
In der Ferne bemerkte ich eine Bewegung und trat zur Tür hinaus auf die Straße. Mit der Hand beschattete ich meine Augen und spähte angestrengt nach Osten. Es war eine Kutsche. Marina kam heim. Schon von Weitem winkte sie mir zu und ich sah ihre langen Haare im Wind fliegen. »Da kommt sie ja.«
Ich wandte mich um, und hatte gar nicht mitbekommen, dass Carlos ebenfalls vor das Haus getreten war. »Dann kann der Heilige Abend ja beginnen.«
Marina hielt die Kutsche vor uns an und sprang mit einem Satz vom Kutschbock. Mit zwei Schritten war sie bei mir und warf sich in meine Arme. Mein Herz pochte heftig, wenn sie so ungestüm war. Ich küsste sie lange und ausgiebig, bis Carlos sich hörbar räusperte. »Ihr benehmt euch, als hättet ihr euch seit Wochen nicht gesehen.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Und wenn es mir so vorkommt, Vater? War es bei dir und Mutter früher anders?«
»Das war auch früher etwas ganz anderes ...«, grummelte Carlos und breitete die Arme aus. »Willst du deinen alten Vater etwa nicht begrüßen?«
Marina lächelte und löste sich von mir, um Carlos zu begrüßen, der sie mit seinen Armen umfing und ihr einen Kuss gab. »Man darf doch auch erwarten, von seiner Lieblingstochter einen Kuss zu bekommen, oder?«
Sie boxte ihn leicht gegen die Schulter. »Ich bin deine einzige Tochter!«
Er lachte. »Na und? Aber geht schon, ihr zwei. Elisa bereitet in der Küche unsere Gans. Ich versorge schon mal das Pferd, damit es uns gleich die Nachtfahrt nicht übel nimmt.« Dabei zwinkerte er mir zu. Ich verstand nicht, was er meinte.
Marina wandte sich um. »Auf dem Wagen liegt noch ein Sack mit Kartoffeln und ein Sack Mehl. Es ist die Bezahlung für die Transporte, die du für die Sanchez aus Santa Cruz erledigt hast.«
»Ah, prima. Besonders das Mehl ist wichtig. Wir haben kaum noch etwas.«
Wir betraten gemeinsam das Haus und der Geruch der Gans im Ofen ließ uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Elisa lächelte, als sie uns Hand in Hand hereinkommen sah. Sie gab Marina einen Kuss. »Schön, dass du so zeitig gekommen bist, mein Schatz. Ich könnte noch etwas Hilfe gebrauchen, dann bleibt uns allen noch genügend Zeit, uns fertigzumachen.«
»Fertigzumachen?«, fragte ich.
Die Frauen sahen mich fragend an. »Ferdi, du willst doch nicht so am Heiligen Abend zur Kirche gehen?«
Ich schaute an mir herunter. »Was ist an meinem Aufzug auszusetzen?«
Marinas Gesicht drückte Missbilligung aus. »Nicht schon wieder ... Müssen wir das in jedem Jahr von Neuem diskutieren? An einem normalen Sonntag würde ich ja nichts sagen. Aber heute?«
»Also ich finde ...«
»So nehm ich dich jedenfalls nicht mit. Und zu essen bekommst du auch nichts. Es ist Heiliger Abend ...«
Ich begriff, dass es hier keinen Spielraum für Diskussionen gab. »Okay, dann zieh ich mich eben nochmal um.«
Nachdem ich den Raum verlassen hatte, hörte ich die Frauen hinter mir lachen. Mir war nicht klar, ob ich der Grund für ihre Heiterkeit war. Doch insgeheim gab ich ihnen recht.
Auch wenn ich schon seit einigen Jahren nicht mehr viel mit der Kirche zu tun hatte, konnte ich mich dennoch gut daran erinnern, dass wir früher - als Kind - in Hannover auch immer unsere besten Sachen angezogen hatten. Erst ging es dann in die Kirche und anschließend wurde geschlemmt. Meine Mutter war eine hervorragende Köchin und es war jedes Mal ein wahrer Festschmaus. Wieso sollte es hier auf Flores anders sein? Fast die gesamte Bevölkerung von Flores war katholisch. Ich zog mich ins Bad zurück und rasierte mich zum zweiten Mal an diesem Tag. Marina hatte es gern, wenn es nicht kratzte, wenn sie mich küsste, und ich wollte nicht riskieren, den ganzen Abend über keinen Kuss zu bekommen. Als ich fertig war und ins Schlafzimmer kam, um meine besten Sachen aus dem Schrank zu holen, stand sie vor dem Spiegel und trug ein Kleid, das ich nicht kannte. Es bestand aus einem schwarzen, glatten Stoff, reichte bis zu den Knien und ließ ihre Schultern frei, um die sie einen durchsichtigen Schal geschlungen hatte. Mit einer Bürste glättete sie ihre langen schwarzen Haare, die sie nach der Kutschfahrt wieder zu ordnen wollte. Ich blieb, wie eingefroren, in der Tür stehen und starrte sie an, wie eine Erscheinung. Marina musste meinen Blick gespürt haben, denn sie wandte kurz den Kopf zu mir und sah mich mit einem Augenaufschlag an, der meinen Herzschlag stocken ließ. »Hallo Fremder, was machen Sie hier in meinem Schlafzimmer?«
Ihr Lächeln wurde breiter und ihre großen, dunklen Augen schienen mich gefangenzunehmen. Ich weiß, dass sich das kitschig anhört, aber in dieser Situation kam es mir exakt so vor.
»Du weißt, dass du ... atemberaubend aussiehst?«, fragte ich. Ich trat hinter sie, worauf sie mir ihre Halsbeuge präsentierte, damit ich sie küsste.
»Ja«, antwortete sie schlicht. »Für dich will ich das auch sein.«
»Dir ist schon klar, dass du mich auf eine ganz bestimmte Idee bringst?«
Sie lachte. »Vielleicht ist das ja Absicht. Später. Jetzt zieh dich bitte an. Die Eltern warten.«
Als wir die Stube wieder betraten, standen Carlos und Elisa schon bereit und sahen so elegant aus wie zu unserer Hochzeitsfeier. Es war mir ein Rätsel, wie sie das so schnell geschafft hatten.
»Schön, dass ihr auch noch erscheint«, empfing uns Carlos. »Ich hab schon das Pferd versorgt und ihr müsst nur in die Kutsche steigen. Der Pfarrer in Santa Cruz wird nicht auf uns warten, bevor er mit der Messe beginnt. Es wird Zeit.«
Elisa warf einen kurzen Blick auf die Gans in der Bratröhre. »Sie braucht sicher noch zwei Stunden. Wenn wir zurück sind, können wir bald essen.«
Wir löschten das Licht im Haus und stiegen auf die Kutsche. Wie üblich ließ Carlos die Türe unverschlossen, da es äußerst unwahrscheinlich war, dass jemand in unserer Abwesenheit dort eindrang. Carlos nahm die Zügel in die Hand, nachdem er sich in eine dicke Wolldecke gewickelt hatte. Wir griffen ebenfalls zu solchen Decken. Marina und ich teilten uns eine und wärmten einander gegenseitig. Elisa lächelte still, als sie uns anblickte. Es war ihr anzusehen, dass sie glücklich war.
Das Wetter war trocken und kühl, sodass nicht zu befürchten war, auf dem Weg zur Kirche nass zu werden. Das Klackern der Hufe auf dem rissigen Pflaster waren die einzigen Geräusche, die uns bis Ponto Delgada begleiteten. Von dort aus schlossen sich uns weitere Kutschen an, deren Insassen ebenfalls zur Kirche nach Santa Cruz fuhren. Für mich war es ein ungewohntes Gefühl, wieder einmal eine Messe am Heiligen Abend zu besuchen, doch stellte fest, dass ich dadurch allmählich in eine feierliche Stimmung kam.
An der Kirche in Santa Cruz angekommen, war es schon stockfinster und der Platz vor dem Eingang wurde durch zahlreiche Fackeln erleuchtet, die in eigens dafür vorgesehenen Ständern steckten. Das durch die Fenster fallende Licht erzeugte eine einladende Atmosphäre. Carlos übergab einem Mann, den er offenbar gut kannte, unsere Kutsche, nachdem er Elisa beim Absteigen geholfen hatte. Ich hob Marina herunter, wofür ich ein strahlendes Lächeln erntete.
Carlos zwinkerte mir zu, griff Elisas Arm und hakte ihn bei sich ein. Ich bot Marina meinen Arm, und lächelnd hakte sie sich bei mir ein. Gemeinsam führten wir feierlich unsere Frauen in die Kirche. Drinnen war es recht voll und man hatte zusätzliche Klappstühle aufgestellt. Die Kirche von Santa Cruz war nicht sonderlich groß, dennoch gab es eine Orgel, an der ein talentierter Organist spielte und ein Chor stimmte sich auf die anstehenden Lieder ein. Die Atmosphäre war feierlich und ich ließ mich davon anstecken. Ich war niemand, der gern sang, aber mitten zwischen all den Bürgern von Flores, die alle Kirchenlieder voller Inbrunst mitsangen, überwand ich mich und sang ebenfalls, was mir ein Lächeln Marinas einbrachte. Elisa drehte sich überrascht zu mir um und lachte. In den zwei Stunden, die wir in der Kirche verbrachten, gab es nur das Weihnachtsfest, und niemand verschwendete einen Gedanken an die Situation, in der wir uns befanden. Wir waren einfach nur glücklich und dankbar dafür, dass es uns und unseren Familien gut ging. Nur zwischendurch keimte der Gedanke an meine Familie in Deutschland in mir auf. Ob sie in Deutschland ebenfalls das Weihnachtsfest feiern konnten? Ob ich überhaupt noch eine Familie hatte. Was hätte ich dafür gegeben, mit Ihnen Kontakt aufnehmen zu können?
Auf dem Heimweg waren wir äußerst guter Laune. Ich war völlig überrascht, wie sehr mich der Besuch der Messe in eine weihnachtliche Stimmung versetzt hatte.
Daheim half ich Carlos dabei, die Kutsche in den Stall zu bringen und das Pferd zu versorgen, während die Frauen schon im Haus dabei waren, den Tisch für das Essen vorzubereiten.
Als wir die Stube betraten, hatten Elisa und Marina alles erledigt und überall Kerzen aufgestellt. Es sah gemütlich aus. Ein eigenartiges Gefühl, das Weihnachtsfest zu feiern, in einer Welt, die aus den Fugen geraten war. Wir lebten buchstäblich auf einer Insel der Glückseligkeit, einem winzigen Fleck mitten im Atlantik, der von den Wirrungen der Welt vergessen worden war. Wir setzten uns an den Tisch und mit einem Mal hatte ich ein Gefühl von Frieden und Zuversicht, dass es für uns - für jeden, auf dieser Welt - einen Funken Hoffnung gab.
Carlos faltete seine Hände und begann zu beten. Es hatte mir früher kaum etwas bedeutet, doch seit ich Mitglied von Marinas Familie geworden war, hatte ich mich verändert. So faltete ich meine Hände und begann die Gebete zu sprechen, die ich in meiner Kindheit gelernt, und von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie noch immer beherrschte.
Ich lebte seit ein paar Jahren im Kreise meiner neuen Familie und Weihnachten ist hier immer etwas Besonderes. Aber anfangs hatte ich das, was sie Weihnachtsstimmung nannten, nicht empfinden können. Ich merkte aber, dass ich mich allmählich veränderte und durch Carlos und Elisa, vor allem aber durch Marina, dem Glauben und der Kirche wieder nähergekommen war.
Es mag sich merkwürdig anhören, aber dieses Weihnachtsfest war das Schönste, das ich jemals erlebt hatte.
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Häufig musste ich mir schon den Vorwurf gefallen lassen, meine Geschichten würden zu seicht beginnen. Diesen Vorwurf muss ich mir sicher gefallen lassen. Andererseits ist es genau meine Art, eine Geschichte zu erzählen. Man soll erahnen, dass da etwas geschieht, das die Leben der Protagonisten verändern wird, aber es soll nicht gleich mit der Tür ins Haus gefallen werden. Im Verlauf der Geschichte wird es noch zu heftigen Auseinandersetzungen kommen.