Nico starrte konzentriert in die Dunkelheit. Seit einer Stunde befanden sie sich nun bereits auf der Flucht. Seine Augen versuchten, die Schwärze zwischen den Bäumen des Waldes zu durchdringen. Müde ließ er seinen Kopf wieder hinter der Deckung verschwinden.
„Konntest Du etwas sehen?“, fragte Elena flüsternd.
Nico schüttelte den Kopf, bis ihm einfiel, dass sie seine Geste bei den schlechten Lichtverhältnissen nicht erkennen konnte.
„Es ist einfach schon zu dunkel“, sagte er.
„Ob sie vielleicht aufgegeben haben?“, fragte Elena hoffnungsvoll.
„Aufgegeben?“, fragte Nico mit sarkastischem Unterton, „Du kennst doch Sergej. Der wird nicht eher ruhen, bis er uns gefunden hat.“
„Ich kann nicht mehr“, jammerte Meike.
Nico wusste auch nicht mehr weiter. Vor einer Stunde hatten sie die Gelegenheit ergriffen, sich vom Lager wegzuschleichen. Es war eher eine spontane Sache gewesen, als eine geplante und so besaßen sie nichts, was ihnen hier im Wald weiter geholfen hätte. Doch nun war die Entscheidung gefallen und sie mussten die Sache auch zu Ende bringen. Nico glaubte nicht, dass es eine gute Idee war, Elena und Meike mitzunehmen. Die Mädchen machten bereits einen sehr erschöpften Eindruck. Andererseits hielt ihn auch nur noch das Adrenalin in seinen Adern wach. Der Einzige, der noch einen etwas frischeren Eindruck machte, war Lukas. Lukas hatte die eiserne Konstitution eines Sportlers. Leider war er nicht vorsichtig genug. Ständig musste er ihn ermahnen, in Deckung zu bleiben.
„Vielleicht haben sie unser Fehlen noch überhaupt nicht bemerkt“, meinte Lukas, „wir sollten weitergehen und mehr Abstand zum Lager bekommen.“
„Nicht schon wieder weitergehen“, jammerte Meike wieder, „wir könnten uns doch auch hier in der Nähe verstecken.“
„Meike hat vielleicht Recht“, sagte Elena, „Wir sind alle reichlich erschöpft und in dieser Dunkelheit finden wir uns hier im Wald auch nicht zurecht.“
Nicos Gedanken rasten. Wenn sie hier blieben, wäre das Risiko, dass man sie wieder einfing, sehr groß. Trotzdem hatte Elena auch Recht, dass sie sich nicht orientieren konnten, solange sie Nichts sehen konnten. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Nicht einmal den Himmel konnte man erkennen. Er hatte schon oft gehört, dass manche sich an den Sternen orientiert hatten, um eine eingeschlagene Richtung beizubehalten, doch was nutzte das, wenn man wegen der dichten Baumkronen den Himmel nicht sehen konnte.
Nico wischte sich mit einem alten Taschentuch den Schweiß ab, der ihm in den Nacken laufen wollte. Er fragte sich, wer eigentlich das Märchen verbreitet hatte, dass es in einem Wald immer kühl bliebe. Die Hitze der letzten Tage hatte auch diesen Wald allmählich aufgeheizt. Selbst jetzt noch war die Luft schwül warm. Nico ließ sich wieder in der Mulde nieder, die sie sich als Deckung ausgesucht hatten.
„Also, was machen wir jetzt?“, wollte Elena wissen, „Ich bin der Meinung, dass wir zumindest nicht hier in dieser Senke bleiben können. Der Boden wird langsam feucht und meine Hose fühlt sich schon ganz klamm an. Vielleicht sollten wir versuchen, etwas Festeres zu finden.“
„Was sollte das wohl sein – hier mitten im Wald?“, fragte Lukas spöttisch.
„Ich denke da an eine Höhle, oder etwas in der Art“, antwortete Elena ernsthaft.
„Das finde ich nicht gut, Elena“, warf Nico ein, „wenn sie uns entdecken, können wir aus einer Höhle nicht mehr fliehen. Außerdem würden wir sowieso keine Höhle finden, oder hat jemand von Euch etwa Licht?“
„Ich hab' Licht“, meinte Meike.
„Du hast was?“, fragten alle im Chor.
„Ich hatte im letzten Moment meine kleine Taschenlampe gegriffen, bevor wir uns fort geschlichen haben.“
„Das ist ja Klasse“, jubelte Lukas, „damit finden wir vielleicht wirklich einen besseren Schutz. Oder einen Bach. Ich habe einen ungeheuren Durst.“
„Mein Gott, sei still, Lukas!“, fuhr Nico ihn an, „Wer bis jetzt nicht wusste, wo wir zu finden sind, wird es nun wissen.“
„Entschuldigung“, sagte Lukas kleinlaut, „ich dachte doch nur ...“
„Es ist schon in Ordnung, Lukas. Wir fühlen uns alle nicht besonders gut.“
In einiger Entfernung knackte ein Ast.
Die Vier hielten den Atem an und bewegten sich nicht.
„Was war das?“, fragte Meike flüsternd.
„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Nico, „vielleicht ein Tier. Ich will nicht hoffen, dass es Sergej und seine Helfer sind.“
Vorsichtig spähte er über den Rand der Bodensenke in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört hatten. Wie bereits zuvor war dort nur die tiefste Dunkelheit, die er mit seinen Blicken nicht durchdringen konnte. Für einen Moment war er sogar versucht, Meikes Taschenlampe einzuschalten, entschied sich aber dann doch dagegen.
Nico krabbelte wieder zurück zu seinen Freunden.
„Es war wohl doch nichts.“
Es knackte wieder. Diesmal schien das Geräusch näher zu sein, als beim ersten Mal.
Nico, Elena und Lukas krochen behutsam wieder zum Rand und schoben ihre Köpfe vorsichtig nach oben. Tief im Wald sahen sie ein schwaches Flackern, wie von Lampen, die jemand mit sich herumtrug.
Der Schreck des Erkennens fuhr ihnen in die Glieder.
„Sie kommen“, sagte Nico knapp.
„Was jetzt?“, wollte Elena wissen.
„Wenn wir jetzt losrennen, finden sie uns sofort“, meinte Nico, „wir würden so viel Lärm verursachen, dass wir keine Chance hätten.“
„Wie konnten sie uns nur so schnell auf die Spur kommen?“, wunderte sich Lukas, „So laut bin ich doch nun auch wieder nicht gewesen.“
„Nein, das wird es auch nicht gewesen sein“, beruhigte ihn Nico, „es war wahrscheinlich einfach nur Pech. Aber wir haben immer noch die Chance, dass sie an uns vorbei laufen. Wir müssen uns nur ganz still verhalten. Sie haben Lampen, das kann auch unsere Chance sein. Ihre Augen sind dadurch nicht so gut an die Dunkelheit angepasst.“
„...und wenn sie Hunde dabei haben?“, fragte Meike.
„Die hätten wir bestimmt schon gehört“, sagte Nico, „ich glaube nicht, dass sie welche haben.“
Nico blickte noch einmal von einem zum anderen. Zum Glück trugen sie alle dunkle Kleidung. Ihre Chancen waren vielleicht doch noch nicht so schlecht. Er spähte wieder in die Richtung, in der sie den Lichtschein gesehen hatten. Sie waren näher gekommen. Man konnte bereits deutlich die tanzenden Lichtkegel von Taschenlampen sehen. Wenn man ganz genau lauschte, waren bereits Stimmen zu hören. Leider konnte man nichts verstehen. So wie es schien, kamen sie genau auf ihre Position zu. War es richtig, hier in dieser Mulde auszuharren? Wäre es besser gewesen, das Weite zu suchen und ein anderes Versteck zu finden? Es machte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Jetzt war es sowieso zu spät, den Standort noch einmal zu ändern.
Sie drängten sich eng aneinander und machten sich in ihrem Schlupfwinkel so klein wie möglich. Nico fühlte seinen Herzschlag bis zum Hals. Bisher hatte er es verstanden, den anderen gegenüber kühl und überlegend zu erscheinen, doch nun merkte er, wie er immer nervöser wurde. Elena lag neben ihm und sah ihn aus müden Augen an. Er konnte sehen, dass ihr die ganze Sache allmählich zu viel wurde. Beruhigend legte er einen Arm um ihre Schultern und drückte sie leicht.
Die Stimmen waren indes immer lauter geworden und inzwischen konnte man auch einzelne Stimmen erkennen. Am markantesten stach die etwas unangenehme Stimme Sergejs heraus, der fortwährend irgendwelche Kommandos an seine Leute gab. Offenbar konnte er sich dieses Verhalten einfach nicht abgewöhnen. Nico fragte sich, warum ihm ausgerechnet jetzt solche Gedanken durch den Kopf gingen. Im Grunde war es ihm gleich, wie Sergej mit seinen Leuten umsprang. Wichtig war nur, dass sie nicht entdeckt wurden.
Ein Lichtkegel tanzte in ihre Senke hinein, jedoch eher zufällig, als gezielt. Die Vier hielten unwillkürlich den Atem an. Hatte man sie gesehen? Ihre Kleidung war dunkel. Man musste sie nicht zwingend gesehen haben. Nico drehte leicht den Kopf und sah nach Meike. Sie hatte nackte Beine, die man vielleicht im Licht der Taschenlampen sehen konnte. Beruhigt sah er, dass sie ihre Beine mit einigen Blättern abgedeckt hatte. Das Mädchen hatte doch mehr drauf, als er gedacht hatte. Durch ihre jammernde Art hatte er ursprünglich einen ganz anderen Eindruck von ihr gehabt. Trotzdem war ihm Elena lieber. Sie lag eher auf seiner Wellenlänge. Er beschloss, sie einmal einzuladen, wenn dies alles hier vorbei sein würde. Doch erst einmal galt es, noch still auszuharren, bis ihre Verfolger weitergezogen waren.
Den Geräuschen nach entfernten sich die Schritte nun wieder. Nico atmete auf. Sie hatten es geschafft. Langsam drehte er sich auf die Seite und setzte sich in das Laub, das den ganzen Boden hier bedeckte. Da verspürte er ein heftiges Kitzeln in seiner Nase.
„Nein“, dachte er, „bitte lasse mich nicht ausgerechnet jetzt niesen müssen. Diese verdammte Pollenallergie!“
Es half nichts. Das Niesen ließ sich nicht unterdrücken. Laut schallte es durch den dunklen Wald. Schnelle Schritte waren zu hören. Überall knackte es und die Lichter der Taschenlampen kamen auf sie zu. Dann war es zu spät. Mehrere Taschenlampen waren auf die Gruppe gerichtet und Nico, sowie auch seine Freunde, schlossen geblendet ihre Augen.
„Ich wusste doch, dass ich euch hier finden würde“, rief Sergej, der mit einem Sprung in der Bodensenkelandete und vor ihnen stehen blieb, „ihr habt es uns wirklich nicht leicht gemacht, Nico. Wir haben aufgepasst, aber es ist euch dann doch irgendwie gelungen, zu entkommen. Wir suchen euch seit über einer Stunde.“
„Es ärgert mich besonders, dass ihr uns nur gefunden habt, weil ich eine Allergie habe und niesen musste“, sagte Nico zerknirscht und erhob sich. Die Lichtkegel folgten ihm bei dieser Bewegung.
Sergej ging auf ihn zu und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter.
„Ihr habt die Jagd auf jeden Fall sehr interessant gemacht“, sagte er, „es hat uns richtig Spaß gemacht. Aber jetzt sollten wir machen, dass wir zurückkommen ins Lager, sonst bekommen wir heute nichts mehr zu Essen.“
Auch die anderen erhoben sich nun und die Gruppe machte sich auf den Weg zurück ins Zeltlager.
„Morgen wird aber meine Gruppe fliehen und ihr müsst uns suchen“, meinte Sergej, „und ich verspreche euch, dass wir es euch nicht leicht machen werden. Eine Stunde wird da nicht reichen.“
„Wir werden sehen“, sagte Nico lachend, „erst einmal müsst ihr es schaffen, unbemerkt zu entkommen.“
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