Das Paradies

 

»Lange werde ich nicht mehr hier sein.«
Sebastian drehte sich um und sah seinen Partner spöttisch an. Bernd fing immer wieder davon an und merkte überhaupt nicht, wie sehr er allen damit auf die Nerven ging.
»Natürlich. Vermutlich gewinnst du gleich heute die Lotterie und machst dich auf den Weg ins Paradies.«
»Genau das werde ich«, sagte Bernd. »Und wenn es so weit ist, werde ich mich nicht verabschieden. Ich werde einfach gehen, das schwöre ich dir. Während ihr noch hier in diesem Loch schuftet, sehe ich die Sonne und lasse mich verwöhnen. Überhaupt: Wenn du das alles so skeptisch siehst – wieso spielst du denn in der Lotterie?«
»Müssen wir diese Diskussion immer wieder führen?«, fragte Sebastian vorwurfsvoll. »Ich bin zwar sicher, dass sie uns das Einkommen nur aus der Tasche ziehen, aber vielleicht gewinne ich dabei etwas Geld, damit ich mir wenigstens eine eigene Zelle für mich alleine leisten kann. Diesen Hauptgewinn will ich doch gar nicht. Gut, wenn es mich träfe, würde ich mich nicht dagegen wehren, aber in erster Linie will ich ein kleines bisschen Privatsphäre kaufen können.«
»Siehst du Seb, darin unterscheiden wir uns. Bei mir heißt es ‚ganz oder gar nicht‘. Ich will hier weg. Wenn ich allein diesen Scheißjob betrachte: Kanalreinigung in der vierzigsten Sub-Ebene. Weißt du, wann ich zum letzten Mal das Tageslicht gesehen habe? Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Und mach dir nichts vor: Ist man einmal hier unten gelandet, ist das auch das Ende der Karriere.«
Sebastian lachte humorlos auf.
»Von welcher Karriere redest du denn? Von der Normschule direkt in die Sub-Ebenen? Das ist keine Karriere. Sieh es doch von der positiven Seite. Wir haben zumindest Arbeit. Okay, wir stehen zehn Stunden am Tag mit unseren Stiefeln im Brackwasser und sehen nur das, was uns unsere Helmlampen zeigen, aber wir haben ein Einkommen. Wir haben eine Teilzeitzelle und können uns die Standardrationen leisten.«


»Ich könnte kotzen, wenn ich dich so höre!«, ereiferte sich Bernd. »Ist es das, was du unter Leben verstehst? Die Erde ist im Arsch, mein Freund. Die einzige Chance, die wir haben, ist, von hier zu verschwinden. Ist das für dich etwa kein Engelsgesang, wenn dir einer erzählt, du dürftest auf diese neue Welt – Park? Stell dir vor: Saubere Luft, Sonne, echtes gewachsenes Gemüse und Obst. Es muss ein Paradies sein. Ich habe in meiner Zelle Fotos davon. Ich will da hin.«
»Ich weiß nicht«, sagte Sebastian. »Hast du gehört, was sie mit denen machen, die nach Park dürfen? Sie stecken sie in diese neuartige Transmitterzelle. Wer garantiert dir, dass das nicht ein gewaltiger Schwindel ist und man die Leute nicht einfach beseitigt? Die Erde hat 36 Milliarden Einwohner. Es heißt zwar, der in der Zelle zerstrahlte Körper käme am Ziel vollständig aus dem Empfänger, aber weiß man‘s wirklich?«
Bernd war einen Moment lang nachdenklich, dann entspannte sich seine Miene. Er lächelte.
»Fast hättest du mir einen Bären aufgebunden, Seb. Mich bringst du nicht davon ab. Ich werde dir eine Gruß-Mail schicken, wenn ich auf Park in der Sonne liege.«
Sebastian hatte keine Lust mehr, weiter auf diesem Thema herumzureiten. Seit Jahren schon gab es diese dumme Lotterie und der Hauptgewinn war stets eine Reise nach Park, dem Paradiesplaneten. Hier unten im Dunkel der Tiefebenen konnte man sich kaum vorstellen, dass es weiter oben noch wirkliche Wissenschaft und Fortschritt geben sollte. Aber man hatte es tatsächlich geschafft, ein Gerät zu entwickeln, das in der Lage war, materielle Körper über eine unvorstellbar weite Entfernung zu einem speziellen Empfänger zu senden, den das erste Fernraumschiff vor etlichen Jahren auf dem Planeten Park abgesetzt hatte. Natürlich handelte es sich dabei nicht um den Originalkörper, sondern nur um ein vollständiges Image des Körpers im Sender. Die Anlage erstellte davon eine Matrize, die man als Information an den Empfänger senden konnte, der aus den atomaren Grundstoffen eine identische Kopie anfertigen konnte. Ein so kopierter Mensch hatte subjektiv das Gefühl, er wäre lediglich über eine große Strecke transportiert worden. Durch Verwendung von riesigen Gravitonensendern wurde die Übertragung nicht einmal durch die Grenze der Lichtgeschwindigkeit behindert.
Es war die allererste dieser Expeditionen gewesen und es war gleich ein Volltreffer gewesen. Weitere Unternehmungen dieser Art hatte es leider nicht gegeben, da man sich die immensen Kosten solcher Raumschiffe nicht leisten konnte. Seit es diese Transmitterstrecke nach Park gab, waren schon Tausende von Menschen dorthin gereist. Der einzige bekannte Haken bei der Sache war die Tatsache, dass es eine Einbahnstraße war, doch wer käme freiwillig von einem paradiesischen Planeten auf die Hölle der Erde zurück? Sebastian konnte diese Gedanken nicht aus seinem Kopf verbannen. Dieses ständige Aufwärmen dieses Themas durch Bernd brannte es förmlich in seinen Schädel ein.
»Weißt du, was du nach der Arbeit machst?«, fragte Bernd, als sie gemeinsam unter der Dusche in ihrer Basis in der 39. Sub-Ebene standen.
Das Wasser roch, wie üblich, muffig und war nur lauwarm. Um den Gestank des Abwasserkanals loszuwerden, brauchte es eine gehörige Menge an Duftseife, die es leider nur all zu selten in dem Laden in der 34. zu kaufen gab.
»Ich schlage mir gleich meine Ration in den Bauch und schaue ein wenig Vid. Zu mehr reicht es heute nicht. Ich bin total fertig.«
»Ich habe ein Sixpack Synthi-Bier – sogar mit Alkohol. Kann ich dich damit locken? Dann wären wir wenigstens nicht allein.«
»Danke Bernd, aber heute nicht, okay? Ich denke, dass ich früh schlafen gehe – wenn dieser blöde Mitmieter weg ist.«
»Ist es immer noch dieser Kotzbrocken?«
Bernd nickte. »Genau der. Wenn ich nur etwas mehr Geld hätte, würde ich ihn auszahlen und vor die Tür setzen. Aber, aber ...«
Sie trockneten sich ab, zogen sich an und verabschieden sich. Bernd nutzte eine Teilzeitzelle in der 37. Sub-Ebene, während Sebastian in der 31. Sub-Ebene wohnte, außerdem in einer anderen Richtung.
Sebastian zwängte sich durch die engen Gänge der Ebene an unzähligen Bürgern vorbei zur nächsten Rohrbahn. Sie war um diese Zeit brechend voll und nach wenigen Minuten fühlte er sich bereits genauso verschwitzt wie vor dem Duschen. Die Luft im Waggon roch verbraucht und stickig, aber die Ventilation sprang trotzdem nicht an. Nach kurzer Fahrt verließ er die Bahn und kletterte in einen der Aufzüge für Normalbürger, in denen es nicht viel anders aussah als in der Bahn. Im 31. verließ er die Liftkabine und quetschte sich in die überfüllten Gänge seiner Wohnebene. Die Beleuchtung war wieder einmal defekt und alles nur schwach und diffus ausgeleuchtet.
Er war froh, als er endlich die Ziffern 31-2356-654X entdeckte, die seinen Wohnblock kennzeichneten. Hier bewohnte er eine Teilzeitzelle. Richtige Wohnungen gab es schon lange nicht mehr – jedenfalls nicht für Normalbürger der Sub-Ebenen. Eine Zelle bestand aus einem Schlafbereich mit einem großen Bett, einem Aufenthaltsbereich mit Vid, ausfahrbahrem Tisch, Kom-Konsole und einem Sessel. Dann gab es noch ein winziges WC und die Kühlmikrowelle. Mehr gab es nicht und auch das musste er sich mit einem Mitbewohner teilen, der die Zelle nutzte, solange er selbst auf der Arbeit war.
Sebastian blickte auf seine Armbanduhr - ein Geschenk einer Freundin, von der er sich vor Monaten getrennt hatte. Erleichtert stellte er fest, dass sein Teilzeitkollege Karl längst weg sein musste. Ohne nachzudenken, gab er den Öffnungscode in den Türöffner ein, worauf sich der Eingang quietschend öffnete. Das Erste, was er registrierte, war die Tatsache, dass das Licht im Innern bereits brannte. Er trat ein und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Die Luft war warm und stickig, obwohl die Ventilation leise rauschte, also war die Luftaufbereitung wieder einmal defekt. Der Tisch im Aufenthaltsraum war herausgefahren und es standen zwei leer gegessene Rationsschalen darauf. Erst jetzt vernahm er das verhaltene Stöhnen aus dem Schlafraum. Überall lagen Kleidungsstücke verstreut, wovon einige unzweifelhaft einer Frau gehörten. Ein Blick ins Bett zeigte ihm, dass Karl ganz und gar nicht verschwunden war, sondern sich sehr konzentriert mit einer Frau beschäftigte, die nackt in seinem Bett lag. Beide schreckten hoch, als sie ihn entdeckten.
»Verdammt, Seb!«, fuhr Karl ihn an. »Du siehst doch wohl, dass ich beschäftigt bin, oder? Findest du es etwa toll, uns zu stören?«
Sebastian spürte, wie der Ärger in ihm hochstieg, wie eine Welle.
»Karl, du bist ein Teilzeitmieter – genau wie ich! Du hast jetzt hier nichts verloren. Die Zelle gehört für die nächsten Stunden mir und es ist mir scheißegal, ob du zum Schuss gekommen bist, oder nicht. Nehmt eure Klamotten und verpisst euch. Das ist schon das dritte Mal, dass ich dich während meiner Nutzungszeit antreffe.«
»Hab dich nicht so, du Spielverderber. Was soll Milena von dir denken?«
»Deine Milena ist mir absolut gleichgültig! Ich will, dass ihr verschwindet, und zwar sofort. Ich gebe euch drei Minuten, bevor ich die Ordnungskräfte rufe.«
»Ist ja schon gut«, knurrte Karl und wälzte sich von der Frau herunter.
Sie richtete sich leicht auf und bedeckte ihre Blöße. Sebastian konnte sehen, dass ihr die ganze Situation unsagbar peinlich war, doch er blieb hart. Karl nahm sich immer wieder das Recht heraus, seine Nutzungszeit zu überziehen, doch auch er brauchte seine Ruhe. Er zog sich in den Küchenbereich zurück und warf die Reste von Karls Ration in den Müllschacht. Hinter ihm huschte die Frau vorbei und hastete aus der Wohnung. Karl hatte sich eine speckige, alte Hose übergezogen und stand mit bloßem Oberkörper in der Tür.
»Darüber reden wir noch!«, sagte er aggressiv.
»Ich denke nicht. Du weißt genau, dass ich im Recht bin. Ich habe mein Geld nicht gestohlen und meinen Schlaf brauche ich auch.«
Mit einer bestimmenden Handbewegung deutete er auf die Tür.
»Und jetzt verschwinde hier!«
Mit einem wütenden Knurren griff Karl nach einer schmutzigen Jacke und zog sie über seinen nackten Oberkörper, trat ohne ein weiteres Wort auf den Gang hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Sebastian atmete erst einmal tief durch, als er die kleine Zelle endlich für sich allein hatte. Mürrisch blickte er sich um. Karl hatte überall seine Sachen ausgebreitet. Nie räumte er etwas weg oder machte sauber. Ein Blick auf das Bett ließ ihn angewidert das Gesicht verziehen. Mit einem Ruck riss er das Einmal-Bettzeug herunter und warf es in den Müll. Überall begegnete ihm Dreck und Unrat.
Als ein leiser Glockenton erklang, hob er überrascht den Kopf. Er hatte noch nichts in der Mikrowelle erwärmt, also musste es das Kom-Element sein. Ein Blick auf das blinde, zerkratzte Display sagte ihm, dass er Post erhalten hatte. Er bekam nie Post, außer, wenn es sich um Zahlungsaufforderungen handelte. Müde ließ sich Sebastian auf den Sessel vor dem Tisch fallen und schob die Tischplatte etwas in die Wand zurück, um besser an das Kom-Element heranzukommen. Er drückte auf die Annahmetaste und sah auf den Bildschirm. Er musste sich anstrengen, um auf dem farbstichigen Display etwas erkennen zu können.
Es war eine Mitteilung der Lotteriegesellschaft. Kurz dachte er nach, ob vielleicht sein Konto beim Kauf des letzten Loses keine Deckung aufgewiesen hatte, doch war er sicher, dass das nicht der Fall sein konnte.

»Sehr geehrter Herr Passlicki«, stand dort geschrieben. »Zu unserer großen Freude dürfen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Los bei der aktuellen Ziehung der Lotterie gezogen worden ist. Um Ihren Preis in Empfang nehmen zu können, legitimieren Sie sich bitte durch ihr Chipimplantat. Im Anschluss ergeht ein Druckauftrag an ihre Kom-Einheit. Bitte lesen Sie sich die Anweisungen und Hinweise auf dem Ausdruck genau durch.
Wir gratulieren Ihnen zu Ihrem Gewinn.«

Minutenlang starrte Sebastian auf diesen Text. Er hatte noch nie etwas gewonnen. Sollte die Mitteilung tatsächlich echt sein? Würde sich sogar sein Traum erfüllen und er könnte Karls Anteil an dieser Zelle aufkaufen? Es wäre zu schön um wahr zu sein. Ein leiser Glockenton erinnerte ihn daran, dass das Terminal auf eine Eingabe von ihm wartete. Nervös hielt er seinen Unterarm mit dem Chipimplantat an das Erfassungsgerät. Ein Quittungston zeigte an, dass er gescannt worden war. Einen Moment später begann der Drucker seiner Kom-Einheit zu summen. Sebastian betete, dass noch genügend Folien im Gerät steckten und der Prägekopf nicht wieder klemmen würde. Er hatte Glück.
Einen Augenblick später fielen die Ausdrucke aus dem Auswurfschacht und er nahm sie in die Hand. Hastig überflog er die Seiten und suchte nach dem Betrag, der ihm zustehen würde, doch nirgends konnte er ihn finden. Er begann von neuem, den Text zu lesen:

»Gewinnbenachrichtigung.
Sebastian Passlicki, im Folgenden Gewinner genannt, wurde bei der aktuellen Ziehung der Lotterie – Auslosungsnr. 356/22134-65000 – als Hauptgewinner ermittelt.
Gegen Vorlage dieser Gewinnbenachrichtigung wird dem Gewinner das Recht eingeräumt, mit maximal fünfzehn Kilo Gepäck die Reise zum Planeten Park anzutreten. Dieses Recht ist nicht übertragbar und muss innerhalb einer Frist von sieben Tagen beansprucht werden. Nicht eingelöste Lose verfallen nach Ablauf der Frist. Eine alternative Abgeltung in Form von Geld kann nicht erfolgen.«

Sebastian las diesen Absatz immer wieder, doch sein Inhalt veränderte sich nicht. Er würde nach Park reisen können – ins Paradies. Noch vor ein paar Stunden hatte er mit Bernd darüber diskutiert, dass es ihm überhaupt nicht darum ginge, von der Erde wegzukommen, nun hatte er tatsächlich die Möglichkeit dazu. Wie sollte er sich entscheiden? Was hielt ihn hier auf diesem verrottenden Planeten? Eigentlich nichts.
Überdeutlich nahm er die bedrückende Atmosphäre seiner Zelle wahr. Er befand sich im 31. Tiefgeschoss einer Stadt, deren Ebene 0 er erst einmal in seinem Leben mit eigenen Augen gesehen hatte. Es gab keine Fenster, die Luft war ein Dutzend Mal aufbereitet, bevor sie über die Ventilation der Tiefebenen verteilt wurde. Das Wasser war stets lauwarm und stank. Bevor man es trinken konnte, musste es gründlich abgekocht werden. Dann war da der Dreck. Dieser allgegenwärtige, schmierige, immer leicht feuchte Dreck überall in seiner Zelle. Man konnte nicht dagegen anputzen. Und Privatsphäre? Hatte es für ihn jemals so etwas gegeben? Die Teilzeitzelle war an sich der pure Luxus eines Normalbürgers. Als er noch jünger war, lebte er in einer Gemeinschaftsunterkunft in der 38. Tiefebene. Doch jetzt könnte er diesem Sumpf endgültig entkommen.
Fünfzehn Kilo könnte er mitnehmen! Er stellte fest, dass er sich entschieden hatte. Er würde nach Park gehen und er würde niemandem etwas sagen. Er würde einfach verschwinden …, wie Bernd es tun würde.
Schnell packte er seine Habseligkeiten zusammen und wusste nicht, an die Grenze von fünfzehn Kilo zu gelangen. Alles, was ihm etwas bedeutete, passte in eine große Sporttasche hinein.
Jetzt, wo die Entscheidung getroffen war, konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Er blickte sich ein letztes Mal in seiner Zelle um. Sollte Karl doch glücklich werden damit!
Er griff seine Tasche, steckte sich die Gewinnbenachrichtigung in seine Jackentasche und verließ die Wohnung, ohne sich noch einmal umzublicken.
In den Gängen herrschte noch immer die gleiche Enge, wie vorher, als er von der Arbeit nach Hause gekommen war. Ständig wurde er von unbekannten Menschen angerempelt, murmelte unverständliche Entschuldigungen oder schimpfte, wenn ein gar zu energischer Passant ihn anstieß. Als er vor den Aufzügen wartete, zog er die Folien aus seiner Tasche und las sie noch einmal, während er sie mit seiner Hand abschirmte, damit niemand sonst sie lesen konnte.
Expresslift stand dort. Er sollte mit dem Expressaufzug in die dritte Etage fahren. In die Dritte! Das bedeutete über der Erde!
Zögernd drückte er auf den Rufknopf des Expresslifts, worauf ihn einige der übrigen Wartenden interessiert musterten. Die ungerechtfertigte Benutzung der Sondereinrichtungen stand unter Strafe.
Als sich die Tür des Aufzugs öffnete, befanden sich nur zwei Wachen darin, die ihn mürrisch ansahen.
»Haben Sie diesen Aufzug gerufen?«, fragte einer der Beiden. »Ich will sofort Ihren Chip sehen und ich garantiere, dass Sie es bereuen werden, wenn Sie keinen triftigen Grund hatten.«
Stumm hielt Sebastian ihnen seinen Unterarm hin und ließ es zu, dass die Wachen ihn scannten.
»Normalbürger?«, fragte der andere. »Das soll wohl ein Scherz sein, was? Sie wissen doch genau, dass Ihnen diese Einrichtung nicht zur Verfügung steht.«
Ohne ein Wort zog er die Gewinnbenachrichtigung aus der Tasche und zeigte sie den Beiden. Erst wanderten ihre Augenbrauen nach oben, dann änderten die Männer ihre Haltung vollständig.
»Verzeihen Sie, aber das haben wir nicht gewusst. Es dauert in der Regel immer ein paar Stunden, bis wir Nachricht vom Ergebnis der Auslosungen bekommen. Sie sind früh dran. Kommen Sie, wir bringen Sie nach oben.«
Für Sebastian war es bereits jetzt, als betrete er eine andere Welt. Die Kabine wirkte peinlich sauber und lief vollkommen lautlos in ihren Schienen. Wäre nicht ein leichter Andruck gleich zu Beginn gewesen – er hätte nicht gewusst, dass er sich nach oben bewegte. Niemand sprach ein Wort und er wagte es nicht, den Blick eines der Wachen zu suchen. Zu sehr war er durch die Jahre in den Sub-Ebenen darauf geprägt, als Normalbürger nur minderwertig zu sein.
Ein Glockenton kündigte an, dass die Kabine ihr Ziel erreicht hatte. Einer seiner Begleiter drückte auf einen Knopf und die Aufzugtüren öffneten sich für ihn in eine neue Welt. Das grell hereinflutende Licht ließ ihn seine Augen zusammenkneifen. Sie waren nicht an eine solche Lichtfülle gewöhnt.
»Wollen Sie nicht aussteigen?«, fragte die Wache freundlich. Sein Status schien durch die Gewinnbenachrichtigung in ihren Augen gestiegen zu sein.
»Oh, natürlich«, stammelte Sebastian und machte einen unbeholfenen Schritt nach vorn.
Die Wache hielt ihn am Oberarm und verhinderte so einen Sturz.
»Herzlichen Glückwunsch noch zu Ihrem Gewinn«, sagte er. »Ich spiele selbst seit Jahren in der Lotterie, aber es war nie mehr als ein winziger Geldgewinn dabei herausgekommen. Sie glauben nicht, wie ich Sie um ihre Reise beneide.«
Als er Sebastians ratlosen Gesichtsausdruck bemerkte, zwinkerte er ihm zu und fügte hinzu: »Eines Tages werde ich auch nach Park reisen. Ich habe das so im Gefühl. Halten Sie mir dann einen Platz an einem der Strände frei, okay? Machen Sie es gut. Die Mädchen auf Park sollen ausnehmend hübsch sein ...«
Sebastian nickte dem Mann zu und hob noch ein letztes Mal grüßend die Hand, dann machte er den entscheidenden Schritt in den Gang des oberirdischen Teils des Gebäudes. Es war ein nüchterner, aber sauberer Flur mit einem echten Fenster auf der gegenüberliegenden Seite, durch welches das Licht der Sonne aus einem trüben Himmel hereinschien. Bis an den Horizont reichten Hochhäuser und Industrieanlagen und der Himmel war erfüllt von unzähligen Fliegern, die teilweise so eng aneinander vorbeiflogen, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht zusammenstießen.
Die Welt außerhalb des Gebäudes war zwar deutlich heller als in den Sub-Ebenen, jedoch nicht wirklich schöner. Dennoch stellte allein der Anblick der Sonne bereits eine Offenbarung für ihn dar.
»Herr Passlicki?«, schreckte eine volltönende Frauenstimme ihn aus seinen Betrachtungen. Sie gehörte der nicht minder angenehmen Erscheinung einer jungen Frau in einem dunkelblauen Hosenanzug. Sie deutete mit der Hand, ihr zu folgen und übernahm gleich die Führung.
»Ich bringe Sie jetzt zum Büro für Ausreiseangelegenheiten, wo man die letzten Formalitäten erledigen wird. Als Gewinner des Hauptgewinns der Lotterie haben Sie selbstverständlich Anspruch darauf, bevorzugt abgefertigt zu werden.«
»Ich dachte, es gäbe nur diese Lotterie, um nach Park zu gelangen?«, wunderte sich Sebastian. »Ihren Worten entnehme ich, dass es durchaus andere Möglichkeiten gibt, die langwieriger sind. Habe ich Sie da richtig verstanden?«
Die Frau lachte hell auf. »Natürlich gibt es die. Wie stellen Sie es sich denn vor, wie es auf diesem Planeten zugehen sollte? Irgendwer muss auch die Anlagen für die Versorgung bedienen und für die reguläre Bevölkerung sorgen, oder finden Sie nicht? Bei diesen Arbeitskräften handelt es sich oft um Spezialisten und sie rekrutieren sich aus besonderen Ausbildungsschichten. Da diese Menschen allerdings nicht den Hauptanteil der Reisenden ausmachen, wird das gern unter den Teppich gekehrt. Aber da Sie ja ein Lotteriegewinner sind … durfte ich Ihnen diese Information sicherlich geben. Sie können sich vorstellen, dass es zu einer wahren Flut von Anträgen käme, wenn das bekannt würde. Bei der derzeitigen Lage auf der Erde könnte es zu Unruhen kommen.«
Sebastian sah sie irritiert an.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Herr Passlicki«, sagte sie und winkte mit der Hand ab. »Sie als Gewinner sollten das Paradies genießen, wie es ist.«
»Und Sie?«, fragte Sebastian. »Macht es Sie nicht verrückt, ständig Menschen zu sehen, die der Erde den Rücken kehren dürfen?«
Ihre Miene wurde schlagartig ernst.
»Ja es macht mich verrückt«, sagte sie leise, »aber es werden niemals ganze Familien geschickt. Ich müsste alles zurücklassen, was mir etwas bedeutet. Meinen Gefährten, die Kinder … Verstehen Sie? Ich würde nicht einmal gehen, wenn ich es dürfte ...«
Sie erreichten eine Tür, an der »Kommandantur für Ausreiseangelegenheiten Park« angeschlagen war. Sie öffnete ihm die Tür und wies hinein.
»Viel Glück im Paradies«, sagte sie und wandte sich schnell ab. Sebastian hatte das Gefühl, dass es ihr deutlich schwerer fiel, als sie es sich selbst eingestand.
»Ah, unser Gewinner!«, rief ein kahlköpfiger, untersetzter Mann mittleren Alters und erhob sich hinter seinem Schreibtisch, kam zu ihm herum und schüttelte heftig Sebastians Hand.
»Es ist mir immer wieder eine Freude, einen glücklichen Menschen zu verabschieden. Sie freuen sich doch, oder etwa nicht?«
»Äh, natürlich.«
»Ich wusste es! Nehmen Sie Platz, Herr … Passlinski!«
»Passlicki!«
Er blickte kurz auf seine Unterlage.
»Oh, entschuldigen Sie bitte. Ich möchte Sie auch nicht lange aufhalten, müssen Sie wissen. Sie werden Ihre Reise ja bereits morgen Vormittag antreten und da will ich Ihnen nicht den Genuss unserer Suite für Lotteriegewinner vorenthalten. Haben Sie Ihre Papiere dabei?«
»Papiere?«, wunderte sich Sebastian. »Ich trage ein Chipimplantat, wenn Sie das meinen.«
»Oh, das ist noch besser. Reichen Sie mir bitte Ihren Arm.«
Sebastian schob den Ärmel seiner Jacke nach oben und hielt ihn dem Mann, der sich ihm gegenüber nicht vorgestellt hatte, hin. Mit einem Handscanner prüfte er seine Identität.
»Au!«, rief Sebastian, als er einen schmerzhaften Stich spürte.
»Mein Fehler!«, entschuldigte sich der Mann. »Die Entfernung der Chips ist oft mit einem kleinen Schmerz verbunden.«
»Entfernung der Chips?«
»Natürlich! Im Paradies benötigen wir solche Kontrollmechanismen nicht mehr. Haben Sie noch Geld dabei? Das müsste ich nämlich hier ebenfalls einziehen. Auf Park verwendet man kein Geld. Sie werden schon sehen ...«
Schweren Herzens übergab Sebastian ihm seine hart erarbeiteten Ersparnisse. Der Mann zählte es durch.
»Gibt es jemanden, dem Sie diesen Betrag zugutekommen lassen wollen? Es ist üblich – Sie brauchen mir nur angeben, wen Sie bedenken möchten.«
Sebastian kam sich schon seit seiner Ankunft wie in einem Traum vor. Er war überhaupt nicht mehr in der Lage, zu begreifen, was um ihn herum geschah. Fast automatisch schrieb er Bernds Namen und Anschrift auf das Formular. Sollte sein alter Kollege seine »Reichtümer« erben, während er ins Paradies reiste.
»Von hier aus bringen wir Sie in die Gewinner-Suite. Sie dürfen dort sämtliche Einrichtungen benutzen. Alles ist frei – natürlich … Sie können sich zu Essen und Trinken bestellen, was immer Sie wünschen. Sie dürfen sogar ein Bad nehmen und dazu frisches Wasser verwenden. Da wäre nur eines ...«
»Und was?«, fragte Sebastian, der die ganze Zeit über nach einem Haken an der Sache gesucht hatte.
»Sie werden diese Suite nicht allein nutzen können. Wir besitzen nur diese eine Suite, aber diesmal zwei Gewinner. Es gibt Platz genug, Sie sind eben nur nicht allein. Vielleicht ist es Ihnen aber auch recht, wenn Sie einen Gesprächspartner haben, der  - wie Sie – ebenfalls nach Park reisen wird.«
Sebastian war nicht begeistert von dieser Aussicht, doch im Grunde war er es ja gewohnt, Wohnraum mit jemandem teilen zu müssen. Der Leiter der Kommandantur verabschiedete Sebastian und wünschte ihm noch einmal alles Gute und viel Glück in der neuen Heimat. Dann schob er ihn auf den Flur hinaus, wo ihn die junge Frau, die ihn hierher geführt hatte, bereits erwartete.
Die Suite lag in einem vollkommen anderen Stadtteil und die Fahrt dorthin legten sie in einer Rohrbahn zurück, die im Gegensatz zu denen in den Sub-Ebenen über Fenster verfügte. Die Entfernung zum Ziel war sehr groß. Die Wohn- und Verwaltungsanlagen ließen sie weit hinter sich und sie durchquerten weitläufige Industriekomplexe und Fertigungsanlagen. Mitten in diesen Anlagen kam die Bahn zum Stehen.
»Hier sind wir richtig?«, fragte er seine Begleiterin.
Sie nickte.
»Das ist bereits der Transmitterkomplex. Von hier aus werden Sie morgen Ihre Reise antreten. Die Suite befindet sich ebenfalls in diesem Gebäude, aber keine Angst: Sie ist wirklich sehr komfortabel.«
Sie liefen nur noch einige Schritte, bis sie den Eingang erreicht hatten. Dort verabschiedete sie ihn endgültig und ließ ihn allein vor der Tür stehen. Zögernd klopfte er an die Tür. Als niemand öffnete, drückte er gegen den Öffner und sie sprang auf.
Er stand in einer geräumigen Diele, die einem Bewohner der Sub-Ebenen als absolute Platzverschwendung erschien. Es zweigten einige Räume ab, deren Türen verschlossen waren. Sebastian schaute der Reihe nach hinein und entdeckte ein riesiges Badezimmer mit echten Fliesen an den Wänden, einer Badewanne und zusätzlich einer luxuriösen  Dusche. Im nächsten Raum befand sich ein großes Doppelbett und es gab sogar noch eine Menge ungenutzten Platz darum herum, was ihm fast unvorstellbar erschien. Der Gipfel hingegen war das eigentliche Zimmer, das ihm wie ein Ballsaal vorkam, wie er ihn sich jedenfalls vorstellte. Es gab eine Fensterwand, die den Blick auf eine gigantische Fabrik freigab. Davor stand eine bequem aussehende Sitzgruppe mit einem niedrigen Tisch. Ein Stück davon entfernt gab es einen normalen Tisch mit echten Holzstühlen darum herum. An der Wand stand ein riesiger Kühlschrank. Er konnte sich an all den Luxusgütern nicht sattsehen.
»Wer sind Sie?«, fragte eine zaghafte Stimme von der Sitzgruppe her. Sebastian hatte überhaupt noch nicht bemerkt, dass dort jemand saß.
»Äh, ich … also … ich bin ein Gewinner der Lotterie«, sagte er und ging langsam auf den Sessel zu, von dem die Stimme gekommen war. »Man hat mir diese Suite zugewiesen. Mein Name ist Sebastian. Sebastian Passlicki.«
Er konnte jetzt sehen, dass in dem Sessel – zusammengekauert – eine Frau saß. Sie hatte die Arme um ihre Knie geschlungen und machte einen verstörten Eindruck.
»Sind Sie der andere Gewinner, den man mir angekündigt hat?«
Sie nickte.
»Ja, ich bin auch Gewinnerin. Ich heiße Nina Mommsen.« Sie schluchzte leise.
»Was ist denn los?«, fragte Sebastian besorgt. »Sollten Sie nicht eher glücklich sein? Wir werden morgen ins Paradies reisen.«
»Und wenn ich gar nicht nach Park möchte?«
»Sie wollen nicht weg von diesem Planeten?« Er breitete in  einer ausholenden Geste seine Arme aus.
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich will und was nicht!«
Sebastian setzte sich ihr gegenüber in einen freien Sessel und betrachtete sie. Sie machte einen recht netten Eindruck und wirkte auch äußerst sympathisch auf ihn, wie sie da mit ihrem mittellangen Rock saß und ihre nackten Beine mit ihren Armen umfasste. Ihr Haar war blond und gepflegt, was entweder bedeutete, dass sie von der Oberfläche stammte oder dass sie über eine Menge Geld verfügte. Er schätzte sie auf höchstens Mitte dreißig. Eigentlich war Sebastian gar nicht mehr so ärgerlich, nicht allein in dieser Suite zu sein.
»Möchten Sie darüber reden?«, fragte er vorsichtig.
»Ich kenne Sie doch gar nicht.«
»Manchmal ist ja gerade das das Richtige«, meinte Sebastian. »Ich kann es eventuell unvoreingenommen anhören.«
»Möglicherweise haben Sie ja recht«, sagte Nina mit verweinter Stimme. »Ich habe einen Freund … nein, ich müsste sagen ich hatte einen Freund. Wir wollten versuchen, gemeinsam eine Teilzeitzelle zu mieten, um sie rund um die Uhr für uns allein zu haben. Leider reichte das Geld nie dazu. Also spielten wir in der Lotterie. Eigentlich versuchte er es damit, aber in der letzten Woche kam ihm etwas dazwischen und er bat mich, ein Los zu kaufen. Nun, wie Sie es sich denken werden, gewann dieses Los.«
»Und nun haben Sie das Problem, dass Sie ihn nicht mitnehmen können?«
»Das ist es doch überhaupt nicht!«, rief sie heftig aus. »Ich wollte nie reisen. Ich wollte mit ihm zusammen sein. Aber er regte sich so sehr darüber auf und warf mir vor, ihn zu übervorteilen. Hätte er das Los gekauft, würde es auf seinen Namen lauten und er könnte die Erde verlassen. Er hätte tatsächlich keine Hemmungen gehabt, ohne mich nach Park zu reisen, verstehen Sie? Wir haben uns entsetzlich gestritten und zuletzt hat er mich sogar geschlagen. Ich habe dann im letzten Moment das Los gegriffen und bin weggerannt. Ich höre immer noch seine Stimme, wie sie hinter mir her schreit, dass er mich umbringen würde, wenn er mich findet.«
Sebastian wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, fragte Nina und die Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ich bin losgelaufen und floh vor dem Mann, den ich geliebt habe, nach Park. Ich weiß doch nicht, was ich dort soll. Sagen Sie es mir: Was soll ich tun?«
Sebastian erhob sich, quetschte sich neben die Frau in den breiten Sessel und nahm sie tröstend in den Arm.
»Erst einmal sollten Sie sich beruhigen«, versuchte er, Nina zu trösten. »Wie es scheint, haben Sie in einen Mann geliebt, den Sie überhaupt nicht gekannt haben. Wenn er Sie ohne Zögern zurückgelassen hätte, hat er es nicht verdient, dass Sie wegen ihm weinen. Sie sollten viel mehr Wut auf ihn haben – eine sehr gerechte Wut.«
Der Körper in Sebastians Armen wurde allmählich ruhiger.
»Haben Sie denn – abgesehen von diesem Mann – noch etwas, dass Sie hier nicht zurücklassen können? Wenn nicht, dann sollten Sie einfach ins kalte Wasser springen. Was hätten Sie zu verlieren? Eine Teilzeitzelle in den Sub-Ebenen oder einen verdammten Job, der Ihnen stinkt? Oder haben Sie etwa hier oben gewohnt, an der Oberfläche?«
Sie schüttelten ihren Kopf, ohne sich aus seinen Armen zu lösen.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ihre Haare - sie machen einen gepflegten Eindruck, wie ich ihn selten bei Frauen der unteren Etagen erlebt habe.«
Ihr Mund verzog sich zögernd zu einem verhaltenen Lächeln. »Ach das. Ich hasse es einfach, wenn meine Haare ungepflegt und verfilzt sind. Ich habe viel zu viel ausgegeben, um sie in Ordnung zu halten. Verrückt, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht.« Sebastian schüttelte den Kopf. »Wo haben Sie denn gewohnt?«
»Sub-Ebene 27 und ich habe in den Algenfarmen gearbeitet. Alle paar Monate wurde ich krank wegen der Sporen von den Dingern. Ich reagiere allergisch darauf.«
»Sehen Sie? Und das müssen Sie nicht mehr machen. Ab morgen gibt es nur noch saubere Luft, Sonne, Strand, Erholung – eine Atmosphäre zum Glücklichsein. Haben Sie schon etwas gegessen? Ich könnte nämlich ein halbes Schwein vertilgen und man hat mir in der Kommandantur gesagt, wir wären berechtigt, uns zu bestellen, was immer wir wollen.«
Allmählich lösten sie sich voneinander und zum ersten Mal sah Sebastian Nina lächeln. Es war ein warmes, nettes Lächeln.
»Danke«, sagte sie und wischte sich die restlichen Tränen aus den Augenwinkeln. »Ich bin dumm, nicht wahr?«
»Wie kommen Sie darauf? Ich sehe eine unglückliche Frau und keine dumme – dafür allerdings eine sehr attraktive, wenn Sie so lächeln, wie eben.«
Ihr Lächeln wurde noch etwas breiter.
»Lügen ist keine Ihrer Stärken, was? Ich muss doch furchtbar aussehen, so verweint.«
»Daran kann man ja etwas ändern«, schlug Sebastian vor. »Ich denke, Sie gehen jetzt ins Bad, machen sich frisch und ich kümmere mich darum, dass wir hier auf der Erde einmal so richtig schlemmen können.«
Als Nina aus dem Bad zurückkam, musste er feststellen, dass sie nicht nur hübsch war, sondern eine regelrechte Schönheit. Unwillkürlich betrachtete er seinen eigenen Körper kritischer und nahm sich spontan vor, auf Park dafür zu sorgen, dass er besser in Form kam.
Der Abend entwickelte sich dann noch sehr harmonisch und sie lachten viel. Ein Problem stellte das Schlafzimmer dar, welches nur ein Doppelbett enthielt. Nachdem sie beide etwas befangen davor gestanden hatten, zog sich Sebastian auf die bequeme Couch zurück, wofür er von Nina ein dankbares Lächeln erntete.
Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, schlief er schnell ein und träumte von seiner Reise nach Park und davon, wie er mit Nina über einen schneeweißen Strand schlenderte, während die Sonne aus einem tiefblauen Himmel schien. Viel zu schnell wurde es Morgen und ein Signal weckte sie beide. Auf einem Wandmonitor erschien ein Techniker der Transmitteranlage und teilte ihnen mit, dass sie leider gezwungen seien, die geplante Reise leicht vorzuziehen.
Sebastian drückte die Antworttaste am Monitor und fragte, aus welchem Grunde diese Hektik erforderlich wäre.
»Wir haben erhöhte Sonnenaktivitäten registriert«, sagte der Techniker. »Wir werden die Reise innerhalb der nächsten Stunde durchführen, sonst müssen wir das Ende dieser Aktivitäten abwarten. Das kann eine Weile dauern. Die Abstrahlanlage befindet sich am Hinterausgang Ihres Wohnzimmers. Ich schlage vor, Sie machen sich frisch und legen die vorschriftsmäßige Reisekleidung an. Ihr Frühstück erhalten Sie dann bereits am Ziel. Was halten Sie davon?«
Nina war zu Sebastian getreten und sah ihn fragend an.
»Wir haben ja sicher keine andere Wahl, oder?«
»Nicht wirklich«, gab der Techniker zu. »Sonnenaktivität kann den überlichtschnellen Datenstrom schädigen und das wollen Sie nicht.«
Sebastian musste ihm Recht geben, also beeilten Sie sich, zu duschen und die unbequeme Reisekleidung anzulegen. Speziell bei Nina saß sie so schlecht, dass sie sich vorkam, wie ein laufender Kleidersack. Sie verließen die Wohnung durch den Hinterausgang. Der Luxus der Suite wurde schlagartig durch die nüchterne Maschinerie der Reiseanlage ersetzt. Ein Heer von Technikern wuselte herum und beschäftigte sich mit für sie unerklärlichen Dingen. Sie wurden vermessen, gewogen, mit Scannern überprüft und anschließend einzeln in je eine Zelle geführt, deren Wände, Boden und Decke aus Spiegeln bestanden.
»Bleiben Sie ganz entspannt und atmen Sie ganz normal«, ermahnte ein Techniker Sebastian. »Stehen Sie ganz ruhig und bewegen sich nur so wenig wie nötig. Bei hektischen Bewegungen kann es schmerzen.«
»Was ist mit meinen privaten Sachen?«
»Wird nachgeschickt. Wir können kein Gepäck mit einem Menschen zusammen versenden. Wenn etwas schief geht, könnte es zu Vermischungen kommen. Das würden Sie nicht überleben.«
»Okay«, meinte Sebastian beunruhigt. Er hatte sich nie wirklich vorgestellt, was bei einem solchen Transport überhaupt geschah.
Der Techniker schloss die Zelle und er war allein. Ein Countdown auf einer der Spiegelwände zeigte ihm, wie lange es bis zur Abstrahlung noch dauerte. Als die Zahl auf Null sprang, blendete ihn ein greller Blitz und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, in heißes Öl getaucht worden zu sein – dann war es vorbei. Er fühlte sich etwas schwach und kurzatmig. Als er sich umsah, erkannte er, dass er immer noch in einer Spiegelzelle steckte, doch schien es nicht dieselbe zu sein, denn er entdeckte einen feinen Sprung auf dem Boden, der vorher nicht da gewesen war. Auf einer der Wände blinkte das Wort »drücken«. Sebastian tat es und die Wand schwang zur Seite. Das Erste, was er fühlte, war schneidende Kälte, die den Gang erfüllte, in den er blickte. Er bestand aus roh behauenem Felsgestein und einige Leuchtstofflampen erhellten ihn notdürftig. Beim Ausatmen bildete sich kondensierender Dampf vor seinem Mund und sein Körper begann zu zittern. War etwas schief gegangen? Er zwang sich, weiterzugehen und hielt auf eine grobe Holztür zu, die er am Ende erkennen konnte. Schwer atmend und vor Kälte schon ganz steif, stieß er sie auf. Dahinter empfing ihn wohlige Wärme und ein Mann in einem karierten Arbeitshemd und mit einer jeansähnlichen Hose bekleidet, erhob sich von einem Stuhl, der neben einem kleinen Feuer stand.
»Hey, ein Neuankömmling!«, rief er. »Willkommen auf Park. Ich heiße William.«
William reichte Sebastian die Hand und drückte sie fest.
»Komm erst mal aus diesem bescheuerten Anzug heraus. Du holst dir ja noch den Tod.«
Dankbar nahm er von William warme Unterkleidung, ein zweckmäßiges Hemd, eine Hose und dicke Socken entgegen.
»Wegen der Schuhe müssen wir schauen. Die sollten genau passen, bevor wir die Station verlassen.«
Sebastian blickte sich interessiert um. Alles machte einen sehr primitiven und improvisierten Eindruck.
»Wo bin ich hier?«, fragte er. »Das kann doch nicht Park sein.«
»Und ob es das ist. Wir befinden uns in der Einwanderungskontrolle von Paradise City. Du wirst schon sehen, dass wir eine Menge Humor brauchen. Ich weiß allerdings, dass Ihr Neuen euch anfangs damit etwas schwertut. Ich bin ja bereits hier geboren und kenn die gute alte Erde nicht mehr. Nach dem, was man so hört, bin ich aber sicher, dass ich da nicht viel verpasst habe.«
In diesem Moment schwang die Tür wieder auf und eine vollkommen durchgefrorene Nina stolperte herein. Man konnte ihr ansehen, dass sie nicht glauben wollte, was sie sah.
»Soll das hier ein Witz sein? Wo sind die Strände? Was ist das für eine Scheißkälte?«
»Komm rein, mein Engel«, sagte William, der offenbar sehr erfreut war, eine hübsche Frau zu sehen. »Wir haben es hier schön warm. Du suchst dir deine Größe aus dem Stapel der Sachen dort besser selbst raus, okay? Ich weiß ja, dass Ihr Mädels da etwas wählerischer seid. Aber ich muss dich vorwarnen: Das Angebot ist leider äußerst beschränkt.«
Nina blickte zwischen den beiden Männern hin und her. »Da muss doch irgendetwas schief gelaufen sein. Es müsste warm sein, hell … ein Paradies eben.«
»Nichts ist schiefgegangen«, erklärte William. »Ihr wolltet nach Park und dies hier ist Park. Allerdings hat man euch ein kleines Bisschen verarscht, was die Lebensumstände angeht, mit denen wir es zu tun haben.«
»Was soll das heißen?«, fragte Sebastian.
»Also ich denke, man hat euch saubere, klare Luft versprochen«, meinte William lächelnd. »Keine Umweltverschmutzung und nicht diese Überbevölkerung, wie auf der Erde. Voila, das alles gibt es hier wirklich nicht. Leider erschöpfen sich damit auch die Wahrheiten, die man euch erzählt hat.«
»Könnten Sie langsam auf den Punkt kommen?«, fragte Sebastian ungeduldig. Nina nickte zustimmend.
»Ach, was soll ich es lang erklären«, sagte William. »Zieht die warmen Sachen an, dann bringe ich euch nach Paradise City zum Bürgermeisterbüro. Heute kommt sowieso niemand mehr an.«
Schweigend und in ihre eigenen Gedanken vertieft, zogen sie die dicke Kleidung an und probierten einige Schuhe, bis sie etwas Passendes gefunden hatten. William ließ ihnen Zeit und reichte am Schluss noch warme Mützen mit Ohrenklappen.
»Fertig?«, fragte er. »Dann kann es ja losgehen.«
Er stieß die Tür nach draußen auf und ein Schwall eisigkalter Luft schlug ihnen entgegen. Es war windig und die Welt um sie herum war weiß. Sie schien von einer dicken Schneedecke bedeckt zu sein. Wind blies ihnen kleine Eiskristalle ins Gesicht, welches sogleich zu prickeln begann.
»Dort vorn steht unser Schneemobil!«, brüllte William gegen den Wind an. »Ihr seid unser Wetter noch nicht gewohnt! Beeilt euch – die Kabine ist beheizt!«
Eilig hasteten sie zum Fahrzeug und schwangen sich hinein. Es handelte sich um eine kantige Fahrerkabine auf Kufen. Eine breite Raupenkette trieb das Fahrzeug an.
»Ist es hier im Winter immer so kalt?«, fragte Nina.
William lachte, während er den Motor startete und losfuhr.
»Was ist an meiner Frage so lustig?«, wollte Nina verärgert wissen. »Sie könnten ruhig etwas entgegenkommender sein.«
»Also erst einmal: Hier sprechen wir uns alle mit dem Vornamen an und duzen uns. Ich heiße William und Punkt, okay? Und ich wollte euch nicht ärgern, aber es ist einfach so, dass wir überhaupt nicht Winter haben. Die Planetenachse ist gegen die Ekliptik unserer Sonne nicht geneigt. Es ist immer so, wie Ihr es jetzt seht.«
»Moment!«, rief Sebastian. »Park ist eine Schneelandschaft? Wir müssen ab jetzt leben wie die Eisbären?«
»Nein, so schlimm ist es nicht«, antwortete William. »Paradise City ist eine nette, kleine Stadt, aber wir improvisieren halt an allen Ecken und Enden. Von der Erde schicken sie uns zwar alles Mögliche, aber eben nur Dinge, von denen sie glauben, dass wir sie brauchen könnten. Wir können ja nicht unseren wirklichen Bedarf zurückmelden. Der Transmitter funktioniert nur in eine Richtung, und wenn wir ihnen Listen über Funk übermitteln würden, wären wir längst alle tot, bis wir darauf eine Antwort hätten.«
»So ernst ist die Lage?« Sebastian machte ein besorgtes Gesicht.
William lachte, als er den Ausdruck in Sebastians Gesicht entdeckte. »Mensch, ich wollte euch nicht erschrecken. Wir improvisieren halt ständig und ich bin sicher, dass wir es schaffen werden. Ihr werdet es sicher noch erleben, dass dieser Planet ein wirkliches Paradies wird. Eine bessere Welt als die Erde ist Park schon jetzt.«
Sebastian sah skeptisch aus dem Fenster.
Vor ihnen tauchten die ersten Gebäude auf, die bei dem starken Wind und dem leichten Schneefall zunächst nicht zu erkennen waren. Die meisten Bauten waren flach und verfügten über kein weiteres Stockwerk. Sie schienen sich regelrecht an den Boden ducken zu wollen. Vermutlich gab es gute Gründe, auf Park in dieser Weise zu bauen.
»Das ist die Hauptstadt?«, fragte Nina.
»Hmm, ich würde eher sagen: Das ist die Stadt. Es gibt zwar noch einige kleine, entferntere Ansiedlungen, aber die dienen derzeit nur Forschungszwecken. Gleich erreichen wir das Bürgermeisterbüro, dort erfahrt Ihr mehr.«
William hielt neben einer kleinen Baracke, die keinen besonders vertrauenerweckenden Eindruck machte. Das winzige Gebäude schien komplett aus echtem Holz gefertigt zu sein und über der Tür prangte ein handgemaltes Schild, auf dem »Bürgermeister« geschrieben stand. Sie betraten den einzigen Raum dieses Gebäudes und sahen einen Mann, der eine Tasse in der Hand hielt und seine Füße auf der Platte seines Schreibtischs gelegt hatte. Als er William mit seinen beiden Begleitern hereinkommen sah, sprang er auf und verschüttete dabei fast seinen Kaffee.
»Hey, gleich zwei Neulinge!«, rief er und begrüßte sie. »Willkommen in Paradise City. Ich bin Jose.«
»Wir sind vorhin angekommen«, sagte Sebastian zögernd. »Wir würden gern wissen, wie es jetzt weitergeht, Herr Bürgermeister. Wir haben schon begriffen, dass dies nicht wirklich ein Paradies ist, aber was haben Sie jetzt mit uns vor?«
Joe sah erst William, dann die beiden Neuen, verblüfft an.
»Ich bin nicht ‚Herr Bürgermeister‘, sondern Joe, und ich mache diesen Job nur, bis endlich jemand kommt, um mich wieder abzulösen. Eigentlich haben wir keinen Bürgermeister und brauchen auch keinen. Deshalb teilen wir uns diesen Job, denn irgendwer muss ja die Reisenden offiziell empfangen, nicht wahr? Sagt mir einfach, wie ich euch nennen soll und dann trage ich Eure Namen hier in die Liste der Bürger ein.«
»Ich heiße Sebastian.«
»Und ich Nina.«
»Sebastian und Nina«, murmelte Joe, während er die Namen in die Liste schrieb. »Ich will gar nicht wissen, ob das Eure echten Namen sind oder ob Ihr sie euch eben erst ausgedacht habt. Hier auf Park fängt jeder neu an, müsst Ihr wissen. Bei uns muss man sich seine Anerkennung erarbeiten. Es ist leider nicht so, wie man es uns allen weisgemacht hat. Park ist kalt – oft sogar sehr kalt. Der Anbau von Nahrungsmitteln ist schwierig, aber möglich. In vielleicht zehn Jahren werden wir – so hoffen wir – von Lieferungen von der Erde endlich unabhängig sein. Dafür ist es allerdings erforderlich, dass alle anpacken und für dieses Ziel arbeiten.«
Er sah Sebastian und Nina abwechselnd an.
»Aber ich will euch damit jetzt noch nicht überfallen. Ihr solltet erst einmal Eure Quartiere beziehen und euch einrichten. Morgen sehen wir weiter und schauen, was Ihr könnt oder welche Arbeiten Ihr leisten wollt. Ihr habt übrigens Glück. Es ist soeben wieder ein Haus fertig geworden. Dort könnt Ihr gleich einziehen.«
»Oh, wir gehören nicht zusammen«, sagten Sebastian und Nina wie aus einem Munde.
»Wisst Ihr, dass mir das scheißegal ist?«, fragte Joe. »Es gibt ein Haus und ich weise es euch zu. Was Ihr daraus macht, ist nicht meine Sache. Wir sehen das hier nicht so eng. Vielleicht gefällt euch dieses Arrangement ja sogar bei näherer Betrachtung. Wenn nicht – gut, dann werden wir eine andere Lösung finden. Wir werden euch schon unterbringen. Wir haben es nämlich gern, wenn Neuankömmlinge auch Bereitschaft zeigen, Familien zu gründen. Wir brauchen dringend mehr Menschen auf Park.«
»Ich dachte, es werden ständig Menschen hierher geschickt«, sagte Sebastian. »Müsste da nicht inzwischen schon eine beachtliche Bevölkerungszahl zusammengekommen sein?«
Joes Miene umwölkte sich ein wenig.
»Das ist ein unangenehmes Thema. Wir erhalten ungeheuer viele Neuzugänge, die mit der Lebensweise nicht zurechtkommen. Es ist leider so, dass unser Leben recht hart sein kann, wenn das Wetter es nicht gut mit uns meint, oder die Ernte in den Treibhäusern verdirbt. Manche sind auch nicht bereit, ihren Beitrag zu leisten. Dazu muss ich sagen, dass wir uns nicht leisten können, solche Menschen durchzufüttern. Sie erhalten von uns eine Grundausstattung und sie können versuchen, die wärmeren Regionen am Äquator zu erreichen. Wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich fürchte, dass es einige von ihnen nicht geschafft haben. Andere haben sich vielleicht weiter südlich angesiedelt. Eines Tages werden wir auch wieder Kontakt zu ihnen bekommen. Sie werden inzwischen begriffen haben, worum es hier geht.«
Nina schluckte, als sie hörte, wie rigoros mit Schmarotzertum verfahren wurde.
»Ihr macht mir jedoch nicht den Eindruck, als würdet Ihr zu dieser Sorte von Neuankömmlingen gehören.«
»Wir können arbeiten«, versicherte Sebastian schnell.
»Daran zweifle ich nicht. Doch jetzt vertagen wir alles Weitere. Will wird euch zu Eurem Haus bringen. Es ist noch sehr spartanisch ausgestattet. Macht eine Liste von dem, was fehlt und wir werden sehen, was sich machen lässt. Morgen holt euch jemand ab und bringt euch zur Versammlungshalle. Dort macht man euch mit den anderen bekannt und dann werden auch die Einteilungen vorgenommen. Ihr werdet sehen, es kann auch sehr befriedigend sein, hier zu leben und zu arbeiten.«
Er gab ihnen noch einmal die Hand, dann verließen sie zusammen mit William das Bürgermeisterbüro.
»Bis zu Eurem Haus ist es nicht weit!«, brüllte William gegen den Wind. »Wir laufen. Treibstoff ist leider etwas knapp.«
Sie stapften durch hohen Schnee zwischen den niedrigen Bauten hindurch. In vielen Fenstern war Licht zu erkennen und es wirkte zum Teil gemütlich dort drinnen. Passanten begegneten ihnen nicht. Am Ende der kleinen Straße hielten sie auf ein unbeleuchtetes Haus zu, das genauso aussah, wie die übrigen, an denen sie vorbeigekommen waren. William stieß die Eingangstür auf und schaltete die Beleuchtung ein, welche aus einer altertümlichen Glühbirne bestand und den kahlen Raum notdürftig ausleuchtete. Es gab einen Holztisch und ein paar Stühle. An der Wand gab es ein Waschbecken. Daneben befand sich ein Tisch mit einer verstärkten Arbeitsplatte. Mitten im Raum stand ein Ungetüm von einem Ofen, den man mit Holz befeuern konnte. Einige Holzscheite lagen bereit.
Sie gingen weiter und fanden auch ein zweckmäßiges Bad und ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett.
»Muss mir das jetzt etwas sagen?«, fragte Nina und grinste leicht.
»Diesmal kann ich mich nicht auf die Couch zurückziehen«, meinte Sebastian.
»Ich glaube, ich verstehe euch nicht«, sagte William.
»Kannst du auch nicht«, sagte Sebastian, ohne es näher zu erklären. »Wir werden zurechtkommen.«
»Decken und Wäsche findet Ihr in dem Wandschrank«, erklärte William. »Ein paar Lebensmittel befinden sich im Kühlraum hinter dem Haus. Da es fast immer kalt ist, brauchen wir hier keine Kühlschränke. Wenn Ihr etwas kochen wollt, müsst Ihr den Ofen anheizen, aber das werdet Ihr sowieso gleich machen, denke ich. Ich lasse euch jetzt erst mal allein. Morgen sehen wir weiter. In der Tür drehte er sich um.
»Schön, dass Ihr bei uns seid – und ich wünsche euch eine gute Nacht.«
Als sie allein waren, erkundeten sie ihr neues Reich noch einmal in aller Ruhe. Im Grunde war alles vorhanden, was man benötigte, abgesehen von Luxus.
»Tja, das ist dann unser Paradies«, sagte Sebastian und machte eine ausholende Bewegung mit dem Arm.
»Ja, das ist es wohl«, meinte Nina leise und lächelte. »Darunter haben wir uns sicherlich etwas anderes vorgestellt, oder?«
»Ja, irgendwie schon. Das ist so etwas wie Dichtung und Wahrheit ...«
»Was meinst du?«
»Nun, man hat uns in Hochglanzbroschüren vorgespiegelt, was wir hier vorfinden würden, nur um genügend Freiwillige zu mobilisieren, die sich fast zerreißen, um hierher zu gelangen. Und dann das hier: die Wahrheit eben. Man hat uns alle wirklich verarscht, oder findest du nicht?«
Nina wiegte ihren Kopf.
»Ja und nein. Was haben wir denn zurückgelassen? Eine verrottende Welt, die sich selbst zugrunde richtet. Eine Erde, auf der niemand den anderen braucht, wo jeder nur auf seinen Vorteil bedacht ist. Diese Welt hier ist sicher nicht das, was wir erwartet haben, aber sie ist sauber. Die Menschen brauchen einander. Sie sind direkt und ehrlich. Ich habe so ein Gefühl, als würden wir mit der ‚Wahrheit‘ gar nicht so schlecht fahren.«
»Mir geht es genauso, Nina. Aber wie sieht es denn mit uns aus? Es gibt nur ein Doppelbett hier im Haus. Wie regeln wir das? Ich kann schlecht auf dem Boden schlafen oder auf zwei von den Stühlen.«
Sie gingen ins Schlafzimmer und standen eine Weile schweigend vor dem Bett, als könnte es ihnen eine Lösung zu ihrem Problem anbieten.
»Ich nehme die linke Seite«, sagte Nina plötzlich.
»Bitte?«
»Ich habe gesagt, ich nehme die linke Seite. Du kannst nicht auf dem Boden schlafen, also müssen wir uns arrangieren, oder wie siehst du das? Das ist aber kein Freibrief für Übergriffe, verstanden?«
»Natürlich nicht!«, sagte Sebastian im Brustton der Überzeugung.
»Kann ich mich darauf verlassen?«
Sebastian überlegte einen Moment, während Nina ihn forschend ansah.
»Nein.« Dabei grinste er spitzbübisch. Nina musste lachen.
»Na, ehrlich bist du wenigstens. Trotzdem werde ich nichts überstürzen. Lass uns einfach sehen, was geschieht. Vielleicht wird diese Welt ja für uns zu unserem ganz persönlichen Paradies ...«
»Würdest du dir das wünschen?«
»Absolut«, bestätigte Nina, »aber ich werde nichts erzwingen.«
»Damit kann ich leben.«
»Ich werde mich mal darum kümmern, dass wir etwas zum Abendessen bekommen«, meinte Nina. »Würdest du inzwischen Feuer machen? Es ist immer noch kalt hier.«
Sie lief zum Kühlraum und verschwand darin. Sebastian wandte sich dem Ofen zu und studierte seine Funktionen. Dann legte er einige der vorbereiteten Holzscheite hinein und griff zu dem ebenfalls vorhandenen Anzünder. Bald brannte ein knackendes Feuer in der Brennkammer und eine wohlige Wärme breitete sich in ihrem neuen Haus aus.
Sebastian ging ans Fenster und schaute hinaus. Eine dick vermummte Gestalt kämpfte sich durch den tiefen Schnee und winkte freundlich, als sie ihn am Fenster entdeckte. Er winkte zurück.
Es war Abend. In der Küche war Nina dabei, etwas zuzubereiten. Der Wind draußen war wieder stärker geworden und die Nacht brach endgültig herein.
Heute Nacht würde er neben der schönsten Frau einschlafen, der er jemals begegnet war. Irgendwie hatte er ein gutes Gefühl bei ihr. Wer weiß, was die Zeit noch bringen würde. Er hatte die Dichtung gewählt und die Wahrheit bekommen.
Morgen begann der erste Tag seines neuen Lebens. Überrascht stellte er fest, dass er gute Laune hatte. Vielleicht war er ja verrückt, aber er freute sich darauf.