- Details
- Zugriffe: 3331
Stapellauf
Linda, Tobias, Elanna und Sgarth hatten eben zusammen mit ihren Kindern ihre Mahlzeit beendet, als sich die Kommunikationsanlage an der Wand einschaltete. Dies geschah normalerweise nur, wenn von der Zentrale wichtige Informationen für alle Bürger ausgestrahlt wurden. Sgarth schickte die Kinder zum Spielen. Dann lauschten sie den Informationen.
Sie erfuhren, dass die Fernortung etwas Beunruhigendes festgestellt hatte. Eines der neuen irdischen Shuttles, die seit einiger Zeit die Versorgung der internationalen Raumstation ISS sicherstellten, hatte nach dem Ablegen von der Station nicht zur Landung auf der Erde angesetzt, sondern hatte stattdessen beschleunigt und dabei die irdische Fluchtgeschwindigkeit überschritten. Ein Unfall kam nicht in Frage, da das Manöver derart präzise ausgeführt wurde, dass der Richtungsvektor des Shuttles direkt auf den Mond zeigte. Offenbar hatte man sich entschlossen, nach all den Jahren wieder eine bemannte Mondmission durchzuführen. Luna-City hatte von dieser Entwicklung nichts mitbekommen, da man das wieder auflebende Weltraumprogramm eigentlich nur dem erdnahen Bereich zugerechnet hatte. Jetzt war ein Schiff der Erde auf dem Weg zu ihnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Shuttle bei seinen Umkreisungen des Mondes auch Luna-City und seine Anlagen überfliegen würde, war sehr groß. Genau das war das Problem. Ein einzelnes, in einem Krater stehendes Raumschiff war möglicherweise nicht zu entdecken, aber eine ganze Stadt mit Industrieanlagen und einer Werft konnte nicht übersehen werden. Zwar hatte man den Hauptteil der Stadt in den Mondboden gegraben, doch ragten überall auch Teile über die Mondoberfläche hinaus, die in der langen Mondnacht beleuchtet waren. Jetzt galt es, möglichst schnell etwas gegen eine Entdeckung zu unternehmen.
Sgarth drückte eine Taste an seinem Kommunikator. Das Gerät verband ihn sofort mit Berger, der derzeit in der Zentrale Dienst tat. Als er den Anrufer erkannte, hellte sich seine Miene auf.
„Ah, Sgarth, Du rufst bestimmt wegen der Ortungsmeldung an, nicht wahr?“, fragte er.
„Wie viel Zeit haben wir noch?“ wollte Sgarth wissen.
„Wenn das Shuttle nicht noch beschleunigt, wird es in etwa drei Tagen in eine Mondumlaufbahn einschwenken.“, erklärte Berger, „Wir müssen diese Zeit nutzen, uns etwas einfallen zu lassen. Wir sind noch nicht so weit, uns offen der Erde zu präsentieren.“
„Gibt es schon Ideen?“, fragte Sgarth.
„Der beste Gedanke ist bisher noch, das Shuttle aufzubringen und auf der Mondrückseite zu landen, bevor man auf der Erde etwas über uns erfährt. Man wird zunächst an einen Unfall glauben.“
„Das können wir so nicht machen.“, mischte sich Elanna ein, „Wir können doch nicht den Menschen auf der Erde vorgaukeln, dass ihre Raumfahrer durch einen Unfall gestorben sind. Diese Menschen haben auch Familien und Angehörige. Wir können ihnen das nicht antun.“
„Nein, Elanna“, sagte Berger, „das werden wir auch nicht tun, aber wir müssen es als sicher ansehen, dass die Mannschaft des Shuttle uns entdecken wird. Wir sollten sie nicht im Ungewissen darüber lassen, ob wir vielleicht ihre Feinde sind. Wir beabsichtigen, das Shuttle zur Landung zu zwingen und dann die Besatzung zu aufklärenden Gesprächen einzuladen. Anschließend werden wir sie wieder zur Erde fliegen lassen – schlimmstenfalls nach einer Hypnobehandlung.“
Sgarth überlegte einen Moment, dann fragte er:
„Dann überlegt Ihr also tatsächlich, dass sich Luna unter Umständen nun auch offen der Erde zu erkennen gibt?“
„Unter Umständen – ja. Aber das hängt von den zu erwartenden Gesprächen ab.“
„Wie habt Ihr denn überhaupt vor, das Shuttle aufzubringen?“ wollte Sgarth wissen, „Ihr denkt doch bitte daran, dass die Traktorstrahler an Bord der TERRA derzeit nicht einsatzfähig sind. Das Reparaturteam ist bereits seit Tagen dabei, sie zu reparieren, aber sie haben den Fehler noch nicht gefunden. Wie wollt Ihr das Shuttle bremsen?“
„Das ist der wunde Punkt in unserer Planung.“, gab Berger zu, „Wir wollen die CONDOR dazu benutzen. Wenn es stimmt, was uns Tobias über dieses Schiff gesagt hat, muss es ein Wunderwerk der Technik sein.“
„Aber die CONDOR hat die Werft noch nicht verlassen.“, gab Elanna zu bedenken. „Ihr solltet Tobias mit in Euer Gespräch einbeziehen, meint Ihr nicht?“
Berger reagierte sofort und beugte sich über seine Kommunikationskonsole, um einen weiteren Kanal zu öffnen.
„Ich werde gleich mal versuchen, ihn zu erreichen.“, sagte er, „Du hast Recht, Elanna, wenn uns jemand sagen kann, ob wir mit der CONDOR rechnen können, dann ist es Tobias.“
Ein paar Augenblicke später war Tobias mit in das Gespräch geschaltet. Er wurde über die Fakten informiert und dann gefragt, ob eine Chance bestand, die CONDOR für die geplante Operation einzusetzen.
„Grundsätzlich kann es klappen.“, meinte er, „Allerdings muss dann der Stapellauf vorverlegt werden. Die Batterien für den Start aus der Werft sind morgen aufgeladen. Dann könnten wir das Schiff starten. Es kommt natürlich darauf an, dass wir keine Probleme beim Anfahren der Fusionsreaktoren bekommen.“
„Von welchen Batterien redest Du da?“ wollte Sgarth wissen.
„Wir haben uns entschlossen, das Schiff mit abgeschalteten Reaktoren starten zu lassen – aus Sicherheitsgründen.“, erklärte Tobias, „Die Batterien gewährleisten, dass sich das Schiff ohne Gefahr für Luna-City freifliegen kann. Erst wenn ein gewisser Sicherheitsabstand erreicht ist, werden die Reaktoren eingeschaltet. Die volle Leistungsfähigkeit des Schiffes wäre dann theoretisch drei Stunden später erreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt wird sich auch nur eine unbedingt notwendige Basismannschaft an Bord aufhalten. Der Rest der Besatzung wird erst am folgenden Tag eintreffen. Wenn wir den Stapellauf für morgen ansetzen, wird die CONDOR rechtzeitig einsatzbereit sein.“
„Was ist mit der Besatzung?“, fragte Berger, „Muss sie sich nicht erst einarbeiten?“
„Die Meisten haben bereits eine Weile Dienst auf der TERRA geleistet und sind keine Neulinge mehr. Der Rest der Mannschaft übt seit Wochen an den Simulatoren. Ich denke, die Mannschaft wird bereit sein.“, meinte Tobias zuversichtlich.
Am Tag darauf gab es für Tobias eine Menge zu tun. Bereits sehr früh machte er sich auf den Weg zur Werft, die etwas außerhalb von Luna-City in einer riesigen sublunaren Anlage untergebracht war. Er hatte sich noch immer nicht an den Eindruck gewöhnt, den man erhielt, wenn man von der Oberfläche kommend, diese riesige Halle unter sich sah. Tobias stieg in den rundum verglasten Fahrstuhl und fuhr bis zur Triebwerksebene der CONDOR hinunter, auf der auch die Zentrale des riesigen Schiffes lag, auf das er nun aus einer Höhe von mindestens fünfhundert Metern herabblickte. Selbst aus dieser Entfernung erschien das Schiff noch immer riesig. Es erfüllte ihn mit Stolz, heute dieses Wunderwerk der Technik in den freien Raum steuern zu können. Die CONDOR war das erste irdische Großraumschiff, das in einer eigenen Werft entwickelt worden war. Sicher enthielt das Schiff hauptsächlich treelanische und kraahmsche Technik, doch hatte man sich bemüht, dem Schiff schon vom Grundkonzept her eine irdische Note zu geben. Die CONDOR war eine Kugel von tausend Metern Durchmesser. Unter dem Äquator war die Triebwerkseinheit installiert. Man hatte nicht, wie bei treelanischen Schiffen, die Triebwerke wie einen Ring außen um den Schiffsäquator herum gebaut, sondern sie direkt unterhalb des Äquators angebracht, damit sie nicht über den Kugelrand hinausstehen. Man konnte dadurch größere Beschleunigungen erzielen, musste dafür jedoch zum Bremsen das Schiff drehen. An der Unterseite war die Kugel abgeflacht, damit das Schiff direkt mit seiner verstärkten Bodenplatte aufsetzen konnte. Man hatte sich dadurch das System zerbrechlicher und ausfahrbarer Landebeine erspart, die bei einem so großen Schiff immer problematisch waren. Die CONDOR verfügte über eine Reihe von Hangars in der oberen Halbkugel, in der insgesamt vierundzwanzig der vierzig Meter durchmessenden Beiboote untergebracht waren. Sowohl das Schiff selber, als auch die Beiboote verfügten über eine ausreichende Bewaffnung verschiedenster Defensiv- wie auch Offensivsysteme. Zurzeit waren all diese Systeme natürlich noch nicht aktiv, da das Schiff noch keine autarke Energieversorgung besaß. - Allmählich füllte die CONDOR das gesamte Sichtfeld von Tobias aus. Er hatte sein Ziel fast erreicht: Die Äquatorschleuse, von der aus er mit einer schiffsinternen Rohrbahn direkt in die Zentrale fahren konnte. In diesen Momenten beneidete er Linda, die kurzerhand in die Zentrale teleportiert wäre. Leider gehörte die Teleportation nicht zu seinen Psi-Talenten. Er war dazu verdammt, einen Ortswechsel – wie viele andere auch – durch Laufen vorzunehmen.
Der Fahrstuhl hielt auf der Schleusenebene an. Tobias verließ die gläserne Kabine und lief über den schmalen Metallgittersteg zur geöffneten Schleuse. Jedes Mal, wenn er hier her lief, dachte er, dass man die schmalen Stege durch breitere, massivere Stege ersetzen sollte. Für jemanden, der Probleme mit großen Höhen hatte, waren diese Metallgitter einfach eine Zumutung. Er betrat die Schleusenkammer und wurde sofort von einem der Techniker entdeckt, der an der Schließanlage der Schleuse arbeitete.
„Hallo Herr Drever!“ rief er freundlich, „Heute ist der 'große Tag', wie ich hörte?“
Tobias überlegte krampfhaft, wie der Techniker hieß, doch ihm wollte der Name nicht einfallen. Es waren in der letzten Zeit einfach zu viele neue Gesichter, die dazugekommen waren. Trotzdem kannte er das Gesicht des Mannes. Er ging auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. Dabei blickte er unauffällig auf das Namensschild des Technikers, das er – wie jeder andere auch – an seiner Kleidung trug.
„Ja, heute verlässt sie die Werft und soll sich freistrampeln. Werden Sie auch mit dabei sein, Herr Bisconti?“
„Um Gottes Willen nein!“, sagte der Techniker, „Ich bin hier in der Werft mit meiner Arbeit ganz zufrieden. Den Weltraum überlasse ich gern Anderen. Ich überprüfe noch die Schleusentore, dann bin ich hier weg.“
Tobias lächelte ihn an und sagte:
„Nun, wir sind auch froh, wenn wir hier am Boden zuverlässiges Personal haben. Drücken Sie uns die Daumen, dass alles klappt, ja?“
„Sicher werde ich die Daumen drücken. Aber es wird nicht nötig sein. Ich bin sicher, dass die CONDOR funktioniert. Alles wurde dutzende von Malen überprüft.“
Sie wechselten noch ein paar unverbindliche Worte, danach setzte sich Tobias in einen der bereitstehenden Rohrbahnwagen. Ein kurzer Druck auf eine Zieltaste und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Man hatte erst überlegt, ob man eine Sprachsteuerung einbauen sollte, hatte dann aber darauf verzichtet, da die möglichen Ziele begrenzt waren und man so wenige Fehlerquellen einbauen wollte, wie möglich. Bereits kurze Zeit später traf die Bahn in der Station der Zentrale ein. Tobias stieg aus. Es war immer wieder überwältigend, wenn man die Zentrale der CONDOR betrat. Man hatte sich hier die Philosophie des Kraahm-Schiffes MAHLSTROM1 zu Nutze gemacht und alle Abteilungen der Zentrale in einem riesigen, kuppelförmigen Raum untergebracht. Sgarth hatte darauf bestanden, dass man die CONDOR von vornherein sowohl für den Betrieb mit einer vollständigen Besatzung, als auch für eine so genannte Einhandbedienung konstruiert, damit nicht so etwas passieren konnte, wie es ihm passiert war. Sgarth hatte nach der katastrophalen Epidemie, die seine gesamte Besatzung getötet hatte, monatelang antriebs- und hilflos im All getrieben, weil sein Schiff nicht von einer einzelnen Person gesteuert werden konnte.
„Hi Tobias!“ wurde er telepathisch von Grover Thornton begrüßt. Grover Thornton war vor etwa einem Jahr zu ihnen gekommen. Den Tipp hatten sie von Francois erhalten. Er war bereits als Gasthörer an den unterschiedlichsten Universitäten Europas und hatte ein paar Monate auch an der Universität von Oxford verbracht. Dort hatte er sich mit einem jungen Farbigen angefreundet, der ein unglaubliches Talent auf dem Gebiet der Kybernetik besaß. Eigentlich machte er einen ganz normalen Eindruck und man hätte eher vermuten können, man hätte einen Rapper vor sich. Gern trug er zu weite Kleidung und immer zierte eine Mütze seinen Kopf. Als Elanna ihn kontaktierte, hörte er sich alles in Ruhe an und fragte dann nur, wann es losgehen könne. Elanna war so verblüfft, dass ihr keine Skepsis oder Ablehnung entgegengebracht wurde, dass sie sogleich mit Grover in die Dortmunder Wohnung Bergers teleportierte, in der sie inzwischen eine der Transporter-Einheiten installiert hatten, die sie von Alatha erhalten hatten. Grover grinste nur, als sie wieder materialisiert waren und meinte, dass dies nur die logische Bestätigung eines theoretischen Modells sei, das er sich über höherdimensionierte Informationsflüsse gemacht habe. Nichts schien ihn unsicher zu machen. Nach dem Transport nach Luna-City wurde er getestet und erklärte sich sofort bereit, auf dem Mond zu bleiben, da er dort Möglichkeiten auf seinem Spezialgebiet erblickte, die er auf der Erde niemals erhalten würde. Nach seiner Umwandlung durch die Nano-Teilchen entwickelte er zunächst telepathische Fähigkeiten, zu denen dann noch Psi-Begabungen im Bereich der höherdimensionierten Kybernetik und Dimensionsmanipulation kamen. Grover versuchte ihnen allen schon häufig zu erklären, wie seine Psi-Begabung funktionierte, doch keiner der Anderen konnte ihm wirklich folgen. Er beherrschte zum Beispiel nicht die Teleportation, konnte jedoch seinen Körper trotzdem an jeden beliebigen Ort bewegen, als wenn er nur einen Schritt dorthin machen würde. Das beinhaltete sogar Reisen vom Mond zur Erde und zurück.
„Hi Grover!“ rief Tobias, „Ist alles klar mit Deinen 'Baby'? In drei Stunden soll es aus dem Mutterleib schlüpfen.“
„Die CONDOR ist bereit.“, sagte er zuversichtlich, „Einstein hat eben erst alle Systeme gecheckt.“
„Einstein?“, fragte Tobias.
„Klar Einstein – unser Zentralcomputer.“, sagte Grover, „Einstein, sag Tobias guten Tag.“
„Guten Tag Herr Drever“, sagte eine angenehm modulierte Stimme aus dem Lautsprecher, „ich hoffe, es geht Ihnen gut.“
Tobias starrte entgeistert auf den Lautsprecher und Grover konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Ich habe Einstein so konzipiert, dass er sich wie einer von uns verhält – natürlich im Rahmen der Grundgesetze der Robotik.“, erklärte Grover, „Ich hatte mir bereits die Unterlagen des Hauptrechners der TERRA, sowie die Unterlagen des Rechners auf der MAHLSTROM angesehen. Beide Computer sind nicht schlecht, aber sie vergeuden Ressourcen, weil sie beide lediglich die Logik des normalen Raumes anwenden können. Da sich selbst mit diesem mathematischen Modell auch durchaus Zielkoordinaten darstellen lassen, die nur durch ein höheres Kontinuum erreicht werden können, gab es bisher auch keine Probleme. Ich war jedoch der Meinung, dass es auch in höheren Kontinua die Möglichkeit der Navigation geben müsse. Dazu musste ich das Logikmodul des Computers quasi neu erfinden. Ich musste ihm beibringen, mittels sechsdimensionaler Mathematik fünfdimensionale Eckpunkte in der dritten...“
„Grover!“ rief Tobias dazwischen, „Bitte verschone mich mit diesen Details. Sag mir bitte in verständlichen Worten, was der Computer kann und was nicht.“
„Entschuldige Tobias“, sagte Grover, „manchmal geht es einfach mit mir durch. Also: Wir haben die Antriebseinheit für den Überlichtflug so modifiziert, dass grundsätzlich eine Navigation im höheren Kontinuum – ich nenne es mal der Einfachheit halber Hyperraum – möglich ist. Bisher bestimmte man einen Richtungsvektor, der die Krümmung des Raumes berücksichtigte und beschleunigte ein Raumschiff bis auf Werte, die es aus unserem dreidimensionalen Raum herausschleuderte. An der nächsten Schnittstelle mit dem dreidimensionalen Raum trat das Schiff dann wieder zu Tage. Das war 's – mehr war nicht möglich. Mit unserem modifizierten Antrieb ist es auch nach dem Eintritt in den Hyperraum noch möglich, das Schiff kontrolliert zu steuern – sofern der Mann am Steuer begreift, was er tut. Dieser Mann ist Einstein. Er ist in der Lage, auch noch die Verhältnisse im Hyperraum zu berechnen und in uns verständlicher Form abzubilden. Wenn die Theorie sich bestätigt, ist die CONDOR jedem existierenden Schiff der Treelaner überlegen.“
Tobias war erst einmal sprachlos, dann sagte er:
„Das habe ich nicht gewusst. Warum hast Du denn in all der Zeit nie etwas von dem verraten, was Du hier treibst?“
„Ich gehe nicht gern mit Ideen hausieren, die dann vielleicht eine Sackgasse waren und nicht funktionieren. Auch hier habe ich eine Hintertür gelassen. Notfalls kann der Antrieb im klassischen Modus betrieben werden.“
Drei Stunden später war es dann soweit.
Sie waren gerade mal zehn Personen, die den Jungfernflug der CONDOR unternehmen würden. Die wichtigsten Positionen in der Zentrale waren besetzt. Die Verbindungen zwischen dem Schiff und der Werft waren entfernt worden. Alle Stege waren eingezogen worden. Die großen Außentore der Werft wurden geöffnet. Immer wieder waren die Systeme geprüft worden. Alles schien vollkommen in Ordnung zu sein. Tobias als Leiter der Sektion für die Werft wollte eben das Signal für den Start geben, da meldete sich Linda:
„Passt bloß auf, dass Ihr keine zu großen Risiken eingeht. Vergiss nicht, dass wir Dich brauchen.“
„Keine Angst, wir werden schon aufpassen – außerdem werden wir alle Raumanzüge tragen.“, sendete Tobias, „Ich melde mich nachher. Ich liebe Euch!“
Tobias gab Grover ein Zeichen, dass es nun losgehen könne. Grover nickte und wandte sich an Einstein:
„Einstein, bitte bringe uns zu Position 1, wie besprochen.“
„Verstanden, wird erledigt.“ antwortete Einstein, „Ich möchte darauf hinweisen, dass es sich um die erste Fahrt der CONDOR handelt. Alles Systeme werden erstmalig im Echteinsatz getestet. Bitte nehmen Sie Platz und schnallen sich sicherheitshalber an Ihren Kontursesseln fest.“
Tobias sah Grover an, der nur grinsend die Schultern hob. Für ihn war das ganze Unternehmen ein riesiges Spiel und Abenteuer.
Leicht wie eine Feder hob das große Schiff vom Werftboden ab. Die Antischwerkraft-Triebwerke der CONDOR hielten das Schiff exakt in der Waage und ließen es genau senkrecht nach oben steigen. Der große Zylinder der Werfthalle war nur wenig breiter als die CONDOR, deshalb war es gar nicht so einfach, sie ohne Beschädigungen nach draußen zu manövrieren. Noch waren sie nicht ganz frei. Man konnte förmlich sehen, wie der Ladezustand der Batterien geringer wurde. Wenn es ihnen nicht gelingen würde, das Schiff bis zum Aufbrauchen der Energie ins All zu befördern, hätten sie ein Problem. Zwar gab es innerhalb der Werft ebenfalls Kraftfelder, die das Schlimmste verhindern würden, aber der Stapellauf der CONDOR würde sich auf unbestimmte Zeit verzögern. Die Angst war jedoch unbegründet, denn die Steuerung hatte Einstein übernommen, der genau berechnet hatte, wie er mit der vorhandenen Energie haushalten musste.
Die CONDOR glitt majestätisch langsam aus der Werfthalle heraus. Auf allen Monitoren von Luna-City wurde dieses Bild übertragen. Es gab sicher niemanden, der sich freiwillig dieses Schauspiel entgehen ließ. Schließlich war das Schiff frei und nahm nun Fahrt auf. Noch immer wurde die gesamte Energie zur Beschleunigung der Schiffsmasse aus den Batterien verwendet. Kurz vor Erreichen der so genannten Position 1 waren die Energien aufgebraucht und das Schiff wurde antriebslos. Man hatte sich Mühe gegeben, das Schiff so zu starten, dass es von der Erde aus gesehen hinter der Mondmasse verborgen blieb. Nun galt es, die Reaktoren zu starten. Sollte es nicht gelingen, würde die CONDOR in sechs Stunden wieder auf den Mond zustürzen und in eine sehr exzentrische Umlaufbahn einschwenken. Dann wäre natürlich immer zu befürchten, dass eine Sichtung durch irdische Teleskope erfolgen könnte. Alle Befürchtungen wurden gegenstandslos, als eine Stunde nach dem Übergang in den freien Fall bekannt gegeben wurde, dass die Reaktoren anlaufen und nach weiteren zwei Stunden ihre volle Kapazität erreichen würden. Der Mondstaat war stolzer Besitzer eines kampfstarken Großraumschiffes. Manche Bürger hatten mit Unverständnis reagiert, als es hieß, die CONDOR würde mit Waffen ausgestattet. Doch der Hintergrund war, dass noch immer die Gefahr bestand, dass eine Flotte von Treel durch einen Zufall die Position des Sonnensystems erfuhr und hier erscheinen konnte. Noch hatte die Revolution auf Treel nicht stattgefunden und der Planet war noch immer fest in der Hand der Instruktoren. Sollten sich daher Schiffe von Treel in feindlicher Absicht dem Sonnensystem nähern, wollte man bereit sein.
Die folgenden Stunden standen im Zeichen der Tests. Es kostete eine Menge Zeit, alle Systeme zu prüfen. Die Zeit wurde allmählich knapp. Nach fast einem Tag kehrte die CONDOR zum Mond zurück und setzte auf dem Raumhafen von Luna-City auf. Die zukünftige Besatzung des Schiffes hatte sich bereits in der Abfertigungshalle des Raumhafens versammelt. Sie konnten es kaum erwarten, ihre künftigen Positionen an Bord einzunehmen. Genau genommen hatten sie auch nicht mehr viel Zeit, denn das irdische Shuttle bewegte sich unaufhaltsam auf den Mond zu. Der Einschleusungsvorgang nahm auch noch einmal einige Zeit in Anspruch, trotzdem war das Schiff vierundzwanzig Stunden vor Eintreffen des Shuttle voll bemannt und einsatzbereit. Die CONDOR hob wieder vom Raumhafen ab und bezog hinter dem Mond Stellung – eine mattschwarze Kugel vor dem Hintergrund der Sterne – für das ungeübte Auge nicht zu erkennen.
Sie erfuhren, dass die Fernortung etwas Beunruhigendes festgestellt hatte. Eines der neuen irdischen Shuttles, die seit einiger Zeit die Versorgung der internationalen Raumstation ISS sicherstellten, hatte nach dem Ablegen von der Station nicht zur Landung auf der Erde angesetzt, sondern hatte stattdessen beschleunigt und dabei die irdische Fluchtgeschwindigkeit überschritten. Ein Unfall kam nicht in Frage, da das Manöver derart präzise ausgeführt wurde, dass der Richtungsvektor des Shuttles direkt auf den Mond zeigte. Offenbar hatte man sich entschlossen, nach all den Jahren wieder eine bemannte Mondmission durchzuführen. Luna-City hatte von dieser Entwicklung nichts mitbekommen, da man das wieder auflebende Weltraumprogramm eigentlich nur dem erdnahen Bereich zugerechnet hatte. Jetzt war ein Schiff der Erde auf dem Weg zu ihnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Shuttle bei seinen Umkreisungen des Mondes auch Luna-City und seine Anlagen überfliegen würde, war sehr groß. Genau das war das Problem. Ein einzelnes, in einem Krater stehendes Raumschiff war möglicherweise nicht zu entdecken, aber eine ganze Stadt mit Industrieanlagen und einer Werft konnte nicht übersehen werden. Zwar hatte man den Hauptteil der Stadt in den Mondboden gegraben, doch ragten überall auch Teile über die Mondoberfläche hinaus, die in der langen Mondnacht beleuchtet waren. Jetzt galt es, möglichst schnell etwas gegen eine Entdeckung zu unternehmen.
Sgarth drückte eine Taste an seinem Kommunikator. Das Gerät verband ihn sofort mit Berger, der derzeit in der Zentrale Dienst tat. Als er den Anrufer erkannte, hellte sich seine Miene auf.
„Ah, Sgarth, Du rufst bestimmt wegen der Ortungsmeldung an, nicht wahr?“, fragte er.
„Wie viel Zeit haben wir noch?“ wollte Sgarth wissen.
„Wenn das Shuttle nicht noch beschleunigt, wird es in etwa drei Tagen in eine Mondumlaufbahn einschwenken.“, erklärte Berger, „Wir müssen diese Zeit nutzen, uns etwas einfallen zu lassen. Wir sind noch nicht so weit, uns offen der Erde zu präsentieren.“
„Gibt es schon Ideen?“, fragte Sgarth.
„Der beste Gedanke ist bisher noch, das Shuttle aufzubringen und auf der Mondrückseite zu landen, bevor man auf der Erde etwas über uns erfährt. Man wird zunächst an einen Unfall glauben.“
„Das können wir so nicht machen.“, mischte sich Elanna ein, „Wir können doch nicht den Menschen auf der Erde vorgaukeln, dass ihre Raumfahrer durch einen Unfall gestorben sind. Diese Menschen haben auch Familien und Angehörige. Wir können ihnen das nicht antun.“
„Nein, Elanna“, sagte Berger, „das werden wir auch nicht tun, aber wir müssen es als sicher ansehen, dass die Mannschaft des Shuttle uns entdecken wird. Wir sollten sie nicht im Ungewissen darüber lassen, ob wir vielleicht ihre Feinde sind. Wir beabsichtigen, das Shuttle zur Landung zu zwingen und dann die Besatzung zu aufklärenden Gesprächen einzuladen. Anschließend werden wir sie wieder zur Erde fliegen lassen – schlimmstenfalls nach einer Hypnobehandlung.“
Sgarth überlegte einen Moment, dann fragte er:
„Dann überlegt Ihr also tatsächlich, dass sich Luna unter Umständen nun auch offen der Erde zu erkennen gibt?“
„Unter Umständen – ja. Aber das hängt von den zu erwartenden Gesprächen ab.“
„Wie habt Ihr denn überhaupt vor, das Shuttle aufzubringen?“ wollte Sgarth wissen, „Ihr denkt doch bitte daran, dass die Traktorstrahler an Bord der TERRA derzeit nicht einsatzfähig sind. Das Reparaturteam ist bereits seit Tagen dabei, sie zu reparieren, aber sie haben den Fehler noch nicht gefunden. Wie wollt Ihr das Shuttle bremsen?“
„Das ist der wunde Punkt in unserer Planung.“, gab Berger zu, „Wir wollen die CONDOR dazu benutzen. Wenn es stimmt, was uns Tobias über dieses Schiff gesagt hat, muss es ein Wunderwerk der Technik sein.“
„Aber die CONDOR hat die Werft noch nicht verlassen.“, gab Elanna zu bedenken. „Ihr solltet Tobias mit in Euer Gespräch einbeziehen, meint Ihr nicht?“
Berger reagierte sofort und beugte sich über seine Kommunikationskonsole, um einen weiteren Kanal zu öffnen.
„Ich werde gleich mal versuchen, ihn zu erreichen.“, sagte er, „Du hast Recht, Elanna, wenn uns jemand sagen kann, ob wir mit der CONDOR rechnen können, dann ist es Tobias.“
Ein paar Augenblicke später war Tobias mit in das Gespräch geschaltet. Er wurde über die Fakten informiert und dann gefragt, ob eine Chance bestand, die CONDOR für die geplante Operation einzusetzen.
„Grundsätzlich kann es klappen.“, meinte er, „Allerdings muss dann der Stapellauf vorverlegt werden. Die Batterien für den Start aus der Werft sind morgen aufgeladen. Dann könnten wir das Schiff starten. Es kommt natürlich darauf an, dass wir keine Probleme beim Anfahren der Fusionsreaktoren bekommen.“
„Von welchen Batterien redest Du da?“ wollte Sgarth wissen.
„Wir haben uns entschlossen, das Schiff mit abgeschalteten Reaktoren starten zu lassen – aus Sicherheitsgründen.“, erklärte Tobias, „Die Batterien gewährleisten, dass sich das Schiff ohne Gefahr für Luna-City freifliegen kann. Erst wenn ein gewisser Sicherheitsabstand erreicht ist, werden die Reaktoren eingeschaltet. Die volle Leistungsfähigkeit des Schiffes wäre dann theoretisch drei Stunden später erreicht. Bis zu diesem Zeitpunkt wird sich auch nur eine unbedingt notwendige Basismannschaft an Bord aufhalten. Der Rest der Besatzung wird erst am folgenden Tag eintreffen. Wenn wir den Stapellauf für morgen ansetzen, wird die CONDOR rechtzeitig einsatzbereit sein.“
„Was ist mit der Besatzung?“, fragte Berger, „Muss sie sich nicht erst einarbeiten?“
„Die Meisten haben bereits eine Weile Dienst auf der TERRA geleistet und sind keine Neulinge mehr. Der Rest der Mannschaft übt seit Wochen an den Simulatoren. Ich denke, die Mannschaft wird bereit sein.“, meinte Tobias zuversichtlich.
Am Tag darauf gab es für Tobias eine Menge zu tun. Bereits sehr früh machte er sich auf den Weg zur Werft, die etwas außerhalb von Luna-City in einer riesigen sublunaren Anlage untergebracht war. Er hatte sich noch immer nicht an den Eindruck gewöhnt, den man erhielt, wenn man von der Oberfläche kommend, diese riesige Halle unter sich sah. Tobias stieg in den rundum verglasten Fahrstuhl und fuhr bis zur Triebwerksebene der CONDOR hinunter, auf der auch die Zentrale des riesigen Schiffes lag, auf das er nun aus einer Höhe von mindestens fünfhundert Metern herabblickte. Selbst aus dieser Entfernung erschien das Schiff noch immer riesig. Es erfüllte ihn mit Stolz, heute dieses Wunderwerk der Technik in den freien Raum steuern zu können. Die CONDOR war das erste irdische Großraumschiff, das in einer eigenen Werft entwickelt worden war. Sicher enthielt das Schiff hauptsächlich treelanische und kraahmsche Technik, doch hatte man sich bemüht, dem Schiff schon vom Grundkonzept her eine irdische Note zu geben. Die CONDOR war eine Kugel von tausend Metern Durchmesser. Unter dem Äquator war die Triebwerkseinheit installiert. Man hatte nicht, wie bei treelanischen Schiffen, die Triebwerke wie einen Ring außen um den Schiffsäquator herum gebaut, sondern sie direkt unterhalb des Äquators angebracht, damit sie nicht über den Kugelrand hinausstehen. Man konnte dadurch größere Beschleunigungen erzielen, musste dafür jedoch zum Bremsen das Schiff drehen. An der Unterseite war die Kugel abgeflacht, damit das Schiff direkt mit seiner verstärkten Bodenplatte aufsetzen konnte. Man hatte sich dadurch das System zerbrechlicher und ausfahrbarer Landebeine erspart, die bei einem so großen Schiff immer problematisch waren. Die CONDOR verfügte über eine Reihe von Hangars in der oberen Halbkugel, in der insgesamt vierundzwanzig der vierzig Meter durchmessenden Beiboote untergebracht waren. Sowohl das Schiff selber, als auch die Beiboote verfügten über eine ausreichende Bewaffnung verschiedenster Defensiv- wie auch Offensivsysteme. Zurzeit waren all diese Systeme natürlich noch nicht aktiv, da das Schiff noch keine autarke Energieversorgung besaß. - Allmählich füllte die CONDOR das gesamte Sichtfeld von Tobias aus. Er hatte sein Ziel fast erreicht: Die Äquatorschleuse, von der aus er mit einer schiffsinternen Rohrbahn direkt in die Zentrale fahren konnte. In diesen Momenten beneidete er Linda, die kurzerhand in die Zentrale teleportiert wäre. Leider gehörte die Teleportation nicht zu seinen Psi-Talenten. Er war dazu verdammt, einen Ortswechsel – wie viele andere auch – durch Laufen vorzunehmen.
Der Fahrstuhl hielt auf der Schleusenebene an. Tobias verließ die gläserne Kabine und lief über den schmalen Metallgittersteg zur geöffneten Schleuse. Jedes Mal, wenn er hier her lief, dachte er, dass man die schmalen Stege durch breitere, massivere Stege ersetzen sollte. Für jemanden, der Probleme mit großen Höhen hatte, waren diese Metallgitter einfach eine Zumutung. Er betrat die Schleusenkammer und wurde sofort von einem der Techniker entdeckt, der an der Schließanlage der Schleuse arbeitete.
„Hallo Herr Drever!“ rief er freundlich, „Heute ist der 'große Tag', wie ich hörte?“
Tobias überlegte krampfhaft, wie der Techniker hieß, doch ihm wollte der Name nicht einfallen. Es waren in der letzten Zeit einfach zu viele neue Gesichter, die dazugekommen waren. Trotzdem kannte er das Gesicht des Mannes. Er ging auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin. Dabei blickte er unauffällig auf das Namensschild des Technikers, das er – wie jeder andere auch – an seiner Kleidung trug.
„Ja, heute verlässt sie die Werft und soll sich freistrampeln. Werden Sie auch mit dabei sein, Herr Bisconti?“
„Um Gottes Willen nein!“, sagte der Techniker, „Ich bin hier in der Werft mit meiner Arbeit ganz zufrieden. Den Weltraum überlasse ich gern Anderen. Ich überprüfe noch die Schleusentore, dann bin ich hier weg.“
Tobias lächelte ihn an und sagte:
„Nun, wir sind auch froh, wenn wir hier am Boden zuverlässiges Personal haben. Drücken Sie uns die Daumen, dass alles klappt, ja?“
„Sicher werde ich die Daumen drücken. Aber es wird nicht nötig sein. Ich bin sicher, dass die CONDOR funktioniert. Alles wurde dutzende von Malen überprüft.“
Sie wechselten noch ein paar unverbindliche Worte, danach setzte sich Tobias in einen der bereitstehenden Rohrbahnwagen. Ein kurzer Druck auf eine Zieltaste und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Man hatte erst überlegt, ob man eine Sprachsteuerung einbauen sollte, hatte dann aber darauf verzichtet, da die möglichen Ziele begrenzt waren und man so wenige Fehlerquellen einbauen wollte, wie möglich. Bereits kurze Zeit später traf die Bahn in der Station der Zentrale ein. Tobias stieg aus. Es war immer wieder überwältigend, wenn man die Zentrale der CONDOR betrat. Man hatte sich hier die Philosophie des Kraahm-Schiffes MAHLSTROM1 zu Nutze gemacht und alle Abteilungen der Zentrale in einem riesigen, kuppelförmigen Raum untergebracht. Sgarth hatte darauf bestanden, dass man die CONDOR von vornherein sowohl für den Betrieb mit einer vollständigen Besatzung, als auch für eine so genannte Einhandbedienung konstruiert, damit nicht so etwas passieren konnte, wie es ihm passiert war. Sgarth hatte nach der katastrophalen Epidemie, die seine gesamte Besatzung getötet hatte, monatelang antriebs- und hilflos im All getrieben, weil sein Schiff nicht von einer einzelnen Person gesteuert werden konnte.
„Hi Tobias!“ wurde er telepathisch von Grover Thornton begrüßt. Grover Thornton war vor etwa einem Jahr zu ihnen gekommen. Den Tipp hatten sie von Francois erhalten. Er war bereits als Gasthörer an den unterschiedlichsten Universitäten Europas und hatte ein paar Monate auch an der Universität von Oxford verbracht. Dort hatte er sich mit einem jungen Farbigen angefreundet, der ein unglaubliches Talent auf dem Gebiet der Kybernetik besaß. Eigentlich machte er einen ganz normalen Eindruck und man hätte eher vermuten können, man hätte einen Rapper vor sich. Gern trug er zu weite Kleidung und immer zierte eine Mütze seinen Kopf. Als Elanna ihn kontaktierte, hörte er sich alles in Ruhe an und fragte dann nur, wann es losgehen könne. Elanna war so verblüfft, dass ihr keine Skepsis oder Ablehnung entgegengebracht wurde, dass sie sogleich mit Grover in die Dortmunder Wohnung Bergers teleportierte, in der sie inzwischen eine der Transporter-Einheiten installiert hatten, die sie von Alatha erhalten hatten. Grover grinste nur, als sie wieder materialisiert waren und meinte, dass dies nur die logische Bestätigung eines theoretischen Modells sei, das er sich über höherdimensionierte Informationsflüsse gemacht habe. Nichts schien ihn unsicher zu machen. Nach dem Transport nach Luna-City wurde er getestet und erklärte sich sofort bereit, auf dem Mond zu bleiben, da er dort Möglichkeiten auf seinem Spezialgebiet erblickte, die er auf der Erde niemals erhalten würde. Nach seiner Umwandlung durch die Nano-Teilchen entwickelte er zunächst telepathische Fähigkeiten, zu denen dann noch Psi-Begabungen im Bereich der höherdimensionierten Kybernetik und Dimensionsmanipulation kamen. Grover versuchte ihnen allen schon häufig zu erklären, wie seine Psi-Begabung funktionierte, doch keiner der Anderen konnte ihm wirklich folgen. Er beherrschte zum Beispiel nicht die Teleportation, konnte jedoch seinen Körper trotzdem an jeden beliebigen Ort bewegen, als wenn er nur einen Schritt dorthin machen würde. Das beinhaltete sogar Reisen vom Mond zur Erde und zurück.
„Hi Grover!“ rief Tobias, „Ist alles klar mit Deinen 'Baby'? In drei Stunden soll es aus dem Mutterleib schlüpfen.“
„Die CONDOR ist bereit.“, sagte er zuversichtlich, „Einstein hat eben erst alle Systeme gecheckt.“
„Einstein?“, fragte Tobias.
„Klar Einstein – unser Zentralcomputer.“, sagte Grover, „Einstein, sag Tobias guten Tag.“
„Guten Tag Herr Drever“, sagte eine angenehm modulierte Stimme aus dem Lautsprecher, „ich hoffe, es geht Ihnen gut.“
Tobias starrte entgeistert auf den Lautsprecher und Grover konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Ich habe Einstein so konzipiert, dass er sich wie einer von uns verhält – natürlich im Rahmen der Grundgesetze der Robotik.“, erklärte Grover, „Ich hatte mir bereits die Unterlagen des Hauptrechners der TERRA, sowie die Unterlagen des Rechners auf der MAHLSTROM angesehen. Beide Computer sind nicht schlecht, aber sie vergeuden Ressourcen, weil sie beide lediglich die Logik des normalen Raumes anwenden können. Da sich selbst mit diesem mathematischen Modell auch durchaus Zielkoordinaten darstellen lassen, die nur durch ein höheres Kontinuum erreicht werden können, gab es bisher auch keine Probleme. Ich war jedoch der Meinung, dass es auch in höheren Kontinua die Möglichkeit der Navigation geben müsse. Dazu musste ich das Logikmodul des Computers quasi neu erfinden. Ich musste ihm beibringen, mittels sechsdimensionaler Mathematik fünfdimensionale Eckpunkte in der dritten...“
„Grover!“ rief Tobias dazwischen, „Bitte verschone mich mit diesen Details. Sag mir bitte in verständlichen Worten, was der Computer kann und was nicht.“
„Entschuldige Tobias“, sagte Grover, „manchmal geht es einfach mit mir durch. Also: Wir haben die Antriebseinheit für den Überlichtflug so modifiziert, dass grundsätzlich eine Navigation im höheren Kontinuum – ich nenne es mal der Einfachheit halber Hyperraum – möglich ist. Bisher bestimmte man einen Richtungsvektor, der die Krümmung des Raumes berücksichtigte und beschleunigte ein Raumschiff bis auf Werte, die es aus unserem dreidimensionalen Raum herausschleuderte. An der nächsten Schnittstelle mit dem dreidimensionalen Raum trat das Schiff dann wieder zu Tage. Das war 's – mehr war nicht möglich. Mit unserem modifizierten Antrieb ist es auch nach dem Eintritt in den Hyperraum noch möglich, das Schiff kontrolliert zu steuern – sofern der Mann am Steuer begreift, was er tut. Dieser Mann ist Einstein. Er ist in der Lage, auch noch die Verhältnisse im Hyperraum zu berechnen und in uns verständlicher Form abzubilden. Wenn die Theorie sich bestätigt, ist die CONDOR jedem existierenden Schiff der Treelaner überlegen.“
Tobias war erst einmal sprachlos, dann sagte er:
„Das habe ich nicht gewusst. Warum hast Du denn in all der Zeit nie etwas von dem verraten, was Du hier treibst?“
„Ich gehe nicht gern mit Ideen hausieren, die dann vielleicht eine Sackgasse waren und nicht funktionieren. Auch hier habe ich eine Hintertür gelassen. Notfalls kann der Antrieb im klassischen Modus betrieben werden.“
Drei Stunden später war es dann soweit.
Sie waren gerade mal zehn Personen, die den Jungfernflug der CONDOR unternehmen würden. Die wichtigsten Positionen in der Zentrale waren besetzt. Die Verbindungen zwischen dem Schiff und der Werft waren entfernt worden. Alle Stege waren eingezogen worden. Die großen Außentore der Werft wurden geöffnet. Immer wieder waren die Systeme geprüft worden. Alles schien vollkommen in Ordnung zu sein. Tobias als Leiter der Sektion für die Werft wollte eben das Signal für den Start geben, da meldete sich Linda:
„Passt bloß auf, dass Ihr keine zu großen Risiken eingeht. Vergiss nicht, dass wir Dich brauchen.“
„Keine Angst, wir werden schon aufpassen – außerdem werden wir alle Raumanzüge tragen.“, sendete Tobias, „Ich melde mich nachher. Ich liebe Euch!“
Tobias gab Grover ein Zeichen, dass es nun losgehen könne. Grover nickte und wandte sich an Einstein:
„Einstein, bitte bringe uns zu Position 1, wie besprochen.“
„Verstanden, wird erledigt.“ antwortete Einstein, „Ich möchte darauf hinweisen, dass es sich um die erste Fahrt der CONDOR handelt. Alles Systeme werden erstmalig im Echteinsatz getestet. Bitte nehmen Sie Platz und schnallen sich sicherheitshalber an Ihren Kontursesseln fest.“
Tobias sah Grover an, der nur grinsend die Schultern hob. Für ihn war das ganze Unternehmen ein riesiges Spiel und Abenteuer.
Leicht wie eine Feder hob das große Schiff vom Werftboden ab. Die Antischwerkraft-Triebwerke der CONDOR hielten das Schiff exakt in der Waage und ließen es genau senkrecht nach oben steigen. Der große Zylinder der Werfthalle war nur wenig breiter als die CONDOR, deshalb war es gar nicht so einfach, sie ohne Beschädigungen nach draußen zu manövrieren. Noch waren sie nicht ganz frei. Man konnte förmlich sehen, wie der Ladezustand der Batterien geringer wurde. Wenn es ihnen nicht gelingen würde, das Schiff bis zum Aufbrauchen der Energie ins All zu befördern, hätten sie ein Problem. Zwar gab es innerhalb der Werft ebenfalls Kraftfelder, die das Schlimmste verhindern würden, aber der Stapellauf der CONDOR würde sich auf unbestimmte Zeit verzögern. Die Angst war jedoch unbegründet, denn die Steuerung hatte Einstein übernommen, der genau berechnet hatte, wie er mit der vorhandenen Energie haushalten musste.
Die CONDOR glitt majestätisch langsam aus der Werfthalle heraus. Auf allen Monitoren von Luna-City wurde dieses Bild übertragen. Es gab sicher niemanden, der sich freiwillig dieses Schauspiel entgehen ließ. Schließlich war das Schiff frei und nahm nun Fahrt auf. Noch immer wurde die gesamte Energie zur Beschleunigung der Schiffsmasse aus den Batterien verwendet. Kurz vor Erreichen der so genannten Position 1 waren die Energien aufgebraucht und das Schiff wurde antriebslos. Man hatte sich Mühe gegeben, das Schiff so zu starten, dass es von der Erde aus gesehen hinter der Mondmasse verborgen blieb. Nun galt es, die Reaktoren zu starten. Sollte es nicht gelingen, würde die CONDOR in sechs Stunden wieder auf den Mond zustürzen und in eine sehr exzentrische Umlaufbahn einschwenken. Dann wäre natürlich immer zu befürchten, dass eine Sichtung durch irdische Teleskope erfolgen könnte. Alle Befürchtungen wurden gegenstandslos, als eine Stunde nach dem Übergang in den freien Fall bekannt gegeben wurde, dass die Reaktoren anlaufen und nach weiteren zwei Stunden ihre volle Kapazität erreichen würden. Der Mondstaat war stolzer Besitzer eines kampfstarken Großraumschiffes. Manche Bürger hatten mit Unverständnis reagiert, als es hieß, die CONDOR würde mit Waffen ausgestattet. Doch der Hintergrund war, dass noch immer die Gefahr bestand, dass eine Flotte von Treel durch einen Zufall die Position des Sonnensystems erfuhr und hier erscheinen konnte. Noch hatte die Revolution auf Treel nicht stattgefunden und der Planet war noch immer fest in der Hand der Instruktoren. Sollten sich daher Schiffe von Treel in feindlicher Absicht dem Sonnensystem nähern, wollte man bereit sein.
Die folgenden Stunden standen im Zeichen der Tests. Es kostete eine Menge Zeit, alle Systeme zu prüfen. Die Zeit wurde allmählich knapp. Nach fast einem Tag kehrte die CONDOR zum Mond zurück und setzte auf dem Raumhafen von Luna-City auf. Die zukünftige Besatzung des Schiffes hatte sich bereits in der Abfertigungshalle des Raumhafens versammelt. Sie konnten es kaum erwarten, ihre künftigen Positionen an Bord einzunehmen. Genau genommen hatten sie auch nicht mehr viel Zeit, denn das irdische Shuttle bewegte sich unaufhaltsam auf den Mond zu. Der Einschleusungsvorgang nahm auch noch einmal einige Zeit in Anspruch, trotzdem war das Schiff vierundzwanzig Stunden vor Eintreffen des Shuttle voll bemannt und einsatzbereit. Die CONDOR hob wieder vom Raumhafen ab und bezog hinter dem Mond Stellung – eine mattschwarze Kugel vor dem Hintergrund der Sterne – für das ungeübte Auge nicht zu erkennen.