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Allerdings war die Zahl der Konkurrenten groß und der Kampf um jeden Fahrgast war erbittert. So stand er mit seinem Mercedes mit laufendem Motor in der Warteschlange und hoffte, dass er endlich an die Reihe kam. Ständig plärrte das Funkgerät und beorderte Wagen zu den unterschiedlichsten Zielen. Leider stand er vollkommen eingekeilt und konnte diese Aufträge nicht annehmen, weil er warten musste, dass er endlich an der Reihe war. So nahm er die Bild-Zeitung ein drittes Mal in die Hand und las auch noch die letzten kleinen Beiträge, die ihn eigentlich überhaupt nicht interessierten. Er hatte geistig vollkommen abgeschaltet, als plötzlich die hintere Wagentür aufgerissen wurde und ein Mann sich auf den Rücksitz fallen ließ.
„Bitte fahren Sie mich zum Messezentrum.“ sagte er knapp, ohne ein Wort des Grußes.
Messezentrum. - Das waren gerade mal vier Kilometer, aber besser als nichts.
„Messezentrum. Geht klar.“ sagte Matthias, schaltete das Taxameter ein und die Taxischildbeleuchtung aus.
Zügig fädelte er seinen Wagen in den Feierabendverkehr ein. Die Ampel an der Kantstraße schaffte er noch, doch bereits an der Kreuzung zum Kurfürstendamm musste er warten.
„Sind Sie gerade erst mit dem Zug angekommen?“ versuchte Matthias ein Gespräch in Gang zu bringen. Er hatte registriert, dass der Mann eine Art Reisetasche dabei hatte, die er neben sich auf den Rücksitz gestellt hatte.
„So in der Art.“ gab der Mann knapp zurück. - Matthias wartete, doch offenbar wollte sein Fahrgast sich nicht unterhalten.
Dann eben nicht. Eigenartiger Kauz.
Der Verkehr begann wieder zu fließen und Matthias steuerte sein Taxi auf den Kurfürstendamm, den er dann weiter in Richtung Messedamm fuhr. Insgeheim verfluchte er die Städteplaner, die durch ihre Politik dafür gesorgt hatten, dass Straßen wie der Kurfürstendamm zu regelrechten Schleichwegen wurden. Andererseits würde dies seinen Gewinn erhöhen, wenn sich die Fahrzeit verlängerte. An jeder Ampel musste er warten. Das gab ihm Gelegenheit, seinen Fahrgast im Rückspiegel unauffällig zu beobachten. Er schätzte sein Alter auf vielleicht fünfundvierzig Jahre. Sein Haar war kurz geschnitten, sein Gesicht glatt rasiert. Trotz seines gepflegten Äußeren machte der Mann keinen sehr sympathischen Eindruck. Unter seiner dicken Winterjacke schien er eine Art Jackett zu tragen, das jedoch keinen sichtbaren Kragen hatte. Auch die Winterjacke hatte einen Zuschnitt, den er noch nie gesehen hatte. Sie schien wie mit metallenen Fäden durchwirkt zu sein. Matthias konzentrierte sich wieder auf die Straße. Es ging wieder ein paar Meter weiter. - Als er kurz hinter dem Adenauer Platz war, sprach ihn der Mann plötzlich an:
„Fahren Sie bitte gleich links in die Seitenstraße.“
„Aber Sie wollten doch zum Messezentrum.“ widersprach Matthias, „Da müssen wir geradeaus weiterfahren.“
„Fahren Sie links ab!“ sagte sein Fahrgast schroff.
Matthias quetschte leise ein 'Der Kunde ist König' durch die Zähne und bog nach links in die Nestorstraße ab. Trotz des Feierabendverkehrs war hier selbst um diese Zeit nicht viel los.
„Da Sie ja offenbar nicht mehr zum Messezentrum wollen, sollten Sie mir vielleicht ein neues Ziel nennen.“
Der Mann deutete nach vorn und sagte: „Halten Sie da hinten auf dem Parkstreifen an.“
Matthias tat, wie ihm geheißen und hielt dort an. Gewohnheitsmäßig stoppte er das Taxameter und nannte seinem Fahrgast den Preis.
„Da haben wir jetzt ein kleines Problem.“ sagte der Fahrgast, „Ich habe leider keine europäische Währung bei mir.“
„Wie bitte? Sie nehmen meine Dienste in Anspruch und können mich überhaupt nicht bezahlen?“ regte sich Matthias nun auf, „Ich glaube, es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, die Polizei zu rufen.“
„Nicht so voreilig, junger Mann.“ sagte der Mann, der jetzt zum ersten Mal lächelte – allerdings kein sympathisches Lächeln. - „Ich wollte mich nur in Ruhe mit Dir unterhalten, Lumèn.“
„Ich glaube, Sie verwechseln mich mit Jemandem.“
„Oh, das glaube ich nicht, Lumèn.“
„Ich heiße nicht Lumen!“ sagte Matthias laut, „Ich habe so einen Namen noch nie gehört. Ich bin es jetzt Leid. Ich will jetzt mein Geld haben, oder ich rufe die Polizei!“
Unauffällig drückte er die Verriegelung der hinteren Wagentüren, damit sein Fahrgast nicht einfach verschwinden konnte. Der Mann zog einen stabähnlichen Gegenstand aus seiner Jacke, richtete ihn auf Matthias und sagte ruhig:
„Das würde ich Dir nicht raten Lumèn. Ich habe nicht so lange nach Dir gesucht, um mich jetzt hier mit den örtlichen Behörden herumzuschlagen. Deine Ferien sind vorbei. Es ist Zeit, wieder nach Hause zu kommen.“
„Sind Sie wahnsinnig?“ rief Matthias aus, „Ich bin hier zu Hause und das hier ist mein Job! Was ist das eigentlich für ein Ding, mit dem Sie da herumspielen? Doch nicht etwa eine Waffe?“
„Lumèn, Du gehörst genauso wenig hierher, wie ich. Ich werde Dir mit diesem Injektor ein Medikament verabreichen, das Dir die Reise nicht so unangenehm erscheinen lässt. Man erwartet uns bereits zu Hause. Bitte mache es für uns beide nicht so schwer.“
Er näherte sich dem Nacken von Matthias mit dem Stab. - Matthias begriff zwar nicht, was sich hier wirklich abspielte, aber er erkannte, dass er hier sofort weg musste. Er spürte, wie das Adrenalin in seinen Adern seinen Körper zu Höchstleistungen trieb. Mit einem Ruck stieß er seinen Kopf nach vorn, um Abstand zwischen sich und diesen Stab zu bekommen, während er mit der linken Hand die Fahrertür öffnete. Mit der rechten Hand löste er fast beiläufig die Verriegelung seines Sicherheitsgurtes und ließ sich seitlich aus dem Wagen rollen. Glücklicherweise kam in diesem Moment kein weiterer Wagen vorbei, sonst wäre er überrollt worden.
Der Fahrgast fluchte laut und warf den Stab weg. Mit beiden Händen rüttelte er an den Türöffnern, doch gelang es ihm nicht, die hinteren Seitentüren zu öffnen. Seine Gelassenheit war wie weggeblasen und er schrie Matthias – der inzwischen bereits einige Meter weit weggerannt war – hinterher:
„Das wird Dir nichts nutzen, Lumèn! Wir werden Dich finden! Beim nächsten Mal werde ich nicht so verständnisvoll sein!“
Er kletterte zwischen den Vordersitzen hindurch und krabbelte auf allen Vieren er aus der Fahrertür heraus. Von Matthias war bereits nichts mehr zu sehen. Der Mann verzichtete daher auf eine Verfolgung, da er davon ausging, dass Lumèn sich hier so gut auskannte, dass er sicher keine Chance haben würde, ihn wieder einzuholen. Deshalb setzte er sich wieder auf den Beifahrersitz und griff nach hinten zu seinem Gepäck. Die Reisetasche war eigentlich eher ein Koffer. Er stellte eine Zahlenkombination ein und klappte ihn auf. Statt Kleidung enthielt er eine verwirrende Menge von Hightech-Installationen, samt einem Monitor im Kofferdeckel. Der Mann machte sich an den Schaltern und Knöpfen der Einrichtungen zu schaffen und nach einiger Zeit flammte der Monitor auf. Ein Gesicht erschien und wandte sich dem Mann zu. Es bestand kein Zweifel, dass der Mann auf dem Monitor auch ihn sehen konnte, denn er schien sein Gegenüber sofort zu erkennen.
„Was gibt es, Lopan?“ fragte der Mann auf dem Bildschirm.
„Ich will es kurz machen, Nadrek: Ich habe Lumèn gefunden, aber er ist mir entwischt.“
„Wie konnte das geschehen? Hatte er Hilfe?“
Lopan zögerte einen Moment und biss sich auf die Unterlippe.
„Verdammt, ich habe es einfach verbockt. Wir waren allein. Ich habe einfach nicht damit gerechnet, dass er so schnell reagieren kann.“
„Lopan, wir sprechen über Lumèn. Du hättest damit rechnen müssen. Ist er allein? Weiß er etwas?“
„Ob er allein ist, muss ich erst noch feststellen. Ich bin da recht zuversichtlich, da ich mit den Gegebenheiten hier in diesem String schon gut vertraut bin. Bisher weiß er überhaupt nichts.“
„Finde ihn und bringe ihn her! Es darf keine weiteren Fehlschläge geben. Er darf nicht mit Èmonna zusammentreffen. Es könnte eine Katastrophe für uns bedeuten.“
„Nadrek, das brauchst Du mir nicht zu erklären, das weiß ich selber. Gibt es bereits eine Spur von Èmonna?“
„Wir haben insgesamt neun Stringteams im Einsatz, doch bisher haben wir keinerlei Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Wie sieht es aus – sollen wir Dir noch ein Team zur Unterstützung senden?“
Lopan ließ sich nichts anmerken, aber dieses Angebot zu akzeptieren, würde bedeuten, sein Versagen zuzugeben.
„Ich schaffe das alleine, Nadrek. Ich habe es bisher immer geschafft.“
„Gut, dann mache Deinen Job und melde Dich dann wieder.“ kam es aus dem Lautsprecher, dann wurde der Monitor dunkel. Nadrek hatte die Verbindung beendet.
Lopan überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Es war zwar positiv, dass er nun ein Fahrzeug besaß, doch wäre es unklug, es auch zu benutzen. Es gab hier Polizei und es war erforderlich, die richtigen Papiere zum Führen eines Fahrzeuges zu besitzen. Er durfte nicht durch krasses Fehlverhalten auffallen. Er durchstöberte alle Fächer im vorderen Bereich des Taxis und fand schließlich eine Mappe mit Fahrzeugunterlagen, sowie Unterlagen des Betriebes, dem das Taxi gehörte. Hier fand er, was er suchte. Der Fahrer hieß Matthias Rogler. Leider war seine Adresse nicht mit aufgeführt, doch das würde er schon noch herausbekommen. Er griff seinen Koffer, stieg aus dem Taxi und machte sich auf den Weg zum Kurfürstendamm, wo er sich unter die anderen Passanten mischte.
Matthias rannte, bis ihm die Lungen brannten und er fürchterliche Seitenstiche verspürte. Die übrigen Passanten sahen ihn misstrauisch an, als wenn mit ihm etwas nicht stimmen würde. War es so? Nun, er benahm sich ja auch nicht, wie ein normaler Passant. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Wie hatte dieser Kerl ihn dauernd genannt? Lumèn? Er konnte sich nicht erinnern, diesen Namen schon jemals gehört zu haben. Trotzdem schien dieser Mann sich seiner Sache sicher zu sein, denn er hatte definitiv ihn gesucht, wollte ihn offenbar betäuben und – wohin auch immer - mitnehmen.
Er betrat die U-Bahn-Station Adenauerplatz und stieg in die erste U-Bahn, die in die Station einfuhr. Hauptsache weg von hier. Erst, als er sich sicher war, dass er den Fremden abgehängt hatte, wurde er ruhiger.
Am Hermannplatz stieg er aus und verließ die U-Bahn. Er griff nach seinem Mobiltelefon und drückte ein paar Tasten. Nach kurzer Zeit meldete sich eine Frauenstimme und Matthias atmete auf.
„Schatz, ich bin es, Matthias. Geht es Dir gut?“ fragte er und biss sich sogleich auf die Unterlippe.
„Natürlich geht es mir gut. Was ist denn los mit Dir? Ist mit Dir etwas nicht in Ordnung?“
Genau diese Besorgnis wollte er eigentlich nicht bewirken. Doch dazu war es jetzt zu spät.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause, Eva. Wir müssen uns unbedingt unterhalten. Ich hatte ein merkwürdiges Erlebnis. Ist Sebastian bei Dir?“
„Sebastian hole ich gleich erst vom Kindergarten ab – das solltest Du doch wissen. Was ist denn überhaupt los?“
„Nicht am Telefon. Eigentlich wollte ich gar nicht anrufen, aber ich musste einfach wissen, ob es Dir gut geht. Ich bin schon am Hermannplatz. Ich nehme den nächsten Bus nach Hause.“
„Was ist denn los? Du machst mir Angst. Hast Du etwas angestellt? Hattest Du einen Unfall mit dem Taxi?“
„Nein, nein, das ist es alles nicht – ich bin gleich bei Dir, warte auf mich!“
Matthias legte auf. Er hätte sich ohrfeigen können, dass er seine Freundin so beunruhigt hatte. Er nahm den nächsten Bus und fuhr nach Buckow, wo er in der Johannisthaler Chaussee eine kleine Mietwohnung mit seiner Freundin und ihrem gemeinsamen Sohn Sebastian teilte. Schon vor der Geburt Sebastians hatten sie heiraten wollen, doch gab es da ein paar Schwierigkeiten mit den Papieren. Matthias war bereits als kleines Kind Waise geworden, als seine Eltern bei einem Wohnungsbrand ums Leben kamen und sämtliche Papiere vernichtet wurden. Ein befreundetes Ehepaar nahm ihn zu sich und er wuchs bei ihnen auf. Später wurde er auf ein Internat geschickt und kam nur noch selten nach Hause. In seinem letzten Jahr an der Schule verschwanden seine Pflegeeltern spurlos und ließen nichts zurück. Es war ein unglaubliches Durcheinander, bis er endlich in den Besitz von Ersatzpapieren gekommen war. Dabei ist noch immer nicht einwandfrei seine tatsächliche Herkunft geklärt. Er besaß nur ein paar alte Fotos, sowie Briefe, die er während seiner Schulzeit von seinen Pflegeeltern bekommen hatte, sowie seine eigenen Erinnerungen aus frühester Kindheit, von denen er nicht wusste, wie viel davon echte Erinnerungen waren und wie viel davon Dinge, die man ihm erzählt hatte.
Seine Freundin Eva hatte er vor ein paar Jahren nach der Wiedervereinigung Deutschlands kennen gelernt, als sie aus dem Osten herübergekommen war, um sich eine Arbeit zu suchen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – etwas, dessen Existenz er bis dahin heftig bestritten hatte. Eva hatte – genau wie er – keine ordnungsgemäßen Papiere. Oft hatten sie darüber gelacht, dass ausgerechnet zwei solch merkwürdige Existenzen zueinander gefunden hatten.