3. Dem Mond so nah

 

3.1 Bauchentscheidung - Teil 2/2

Stunden später war es dann so weit. Die Moonshuttle-1 sollte gewendet werden. Das war notwendig, weil das Shuttle nur ein Haupttriebwerk besaß, welches am Heck des Schiffes angebracht war. Wollte man die bestehende Geschwindigkeit verringern – und das musste man, wollte man nicht am Mond vorbeifliegen – blieb nur die Möglichkeit, das Haupttriebwerk in Flugrichtung zu feuern. Die Moonshuttle-1 besaß rings um den Rumpf eine Reihe von winzigen Triebwerken, die rechtwinklig zur Längsachse des Shuttles arbeiteten. Mit ihrer Hilfe konnte man die Nase des Schiffes in eine andere Richtung bringen, oder das ganze Schiff drehen. Der Vorgang selbst – so banal er sich anhörte – erforderte eine äußerst präzise Steuerung der Antriebsdüsen und wurde in der Regel durch einen Computer gesteuert. Nur so war gewährleistet, dass nach der halben Drehung wieder gestoppt wurde und eine Änderung des Gesamtkurses vermieden wurde.
»Klar für Wendemanöver!«, rief Carl. »Bitte schnallt euch alle auf euren Kontursitzen an. Meldung an mich, wenn ihr gesichert seid.«
Carl machte sich als Erster auf seinem Sitz an der Steuerung fest. Nach und nach meldete jeder, dass er angeschnallt war.
Erst danach löste Carl das Programm für die Drehung der Moonshuttle-1 aus. Jan gab sich die größte Mühe, alles mitzubekommen, was die Mannschaft tat. Nach einigen ereignislosen Tagen geschah jetzt endlich wieder etwas, das für die Schiffsnavigation im All typisch war. Für einen kurzen Moment erfasste ihn ein leichter Schwindel, als die Korrekturdüsen ansprangen und das Schiff ganz allmählich in die gewünschte Position drehten.
Nach zehn Minuten war es bereits vorbei und Carl gab Entwarnung:
»So, das war es schon. Wir zeigen nun mit dem Heck auf den Mond und können jederzeit mit dem Bremsmanöver beginnen. Wir haben jetzt noch ein paar Stunden Zeit. Legt bitte eure Raumanzüge an und nehmt auf den Konturliegen Platz. Ich schlage vor, dass wir eine sechs-stündige Schlafperiode einhalten, damit wir für die Landung ausgeruht sind.«
Sie halfen sich gegenseitig beim Anlegen der Ausrüstung und fanden die Anzüge nach den Tagen in der Bordkombination sehr unbequem.
»Ich glaube nicht, dass ich in diesem Ding jetzt schlafen kann«, sagte Isabella zu Jan, der auf der Konturliege neben ihr lag.
»Ich kann es mir auch nicht vorstellen.« Er griff mit einer Hand nach Isabellas Hand, die er wegen der Steifheit des Anzugsärmels fast nicht fassen konnte. »Ich bin viel zu aufgeregt bei dem Gedanken an die bevorstehende Landung.«
»Seid jetzt bitte ruhig und haltet euch nicht mit Gesprächen künstlich wach«, mahnte Carl. »Ich brauch die Ruhe jetzt, denn es wird in einigen Stunden noch kompliziert genug – trotz der Computerunterstützung.«
Obwohl sie es nicht geglaubt hatten, waren sie doch innerhalb von wenigen Minuten fest eingeschlafen. Als das Signal ertönte, das ihnen mitteilte, dass es nun Zeit sei, wieder aufzuwachen, waren sie alle überrascht, dass sie tatsächlich geschlafen hatten.
Lisa war als Erste wieder voll einsatzbereit und verließ ihre Liege. Mit einem eleganten Schwung glitt sie zur Navigationskonsole hinüber und nahm ein paar Messungen vor.
»Die Mondbasis hat uns ihre Werte permanent über Funk übermittelt«, erklärte sie den Studenten. »Unser Computer hat die Daten entgegengenommen und daraus ein laufendes Szenario für das Bremsmanöver entwickelt. So wie es aussieht, wird es in knapp zwei Stunden so weit sein. Für den exakten Zeitpunkt bekommen wir einen Countdown.«
»Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, wie dieser riesige Vogel auf dem Mond landen soll«, sagte Yves Dolbert. »Früher hatte man dazu kleine Landefähren und das war schon schwierig genug.«
Carl nickte. »Mit den kleinen Fähren konnte man nicht die Mengen an Material auf den Mond bringen, die für den Bau und den Betrieb einer Mondstation erforderlich sind. Dazu bedarf es größerer Kaliber, wie zum Beispiel dieses Shuttle hier. Die Moonshuttle-1 wurde eigens dafür konstruiert, direkt auf dem Mond landen zu können. Wir werden uns – sobald wir in unmittelbarer Nähe des Landeplatzes sind – quasi auf unser Heck stellen, damit wir mit dem Haupttriebwerk nach unten feuern können.«
»Aber das ist doch eine ungeheuer instabile Geschichte«, wandte Gina ein. »was geschieht, wenn das Shuttle kippt?«
»Wenn das geschähe, wäre es eine Katastrophe«, meinte Carl. »es wird jedoch nicht geschehen, weil wir noch unsere Steuerdüsen haben, die wir auch verwendet haben, um das Schiff zu wenden. Sobald wir das Schiff aufrichten, wird es bis zur Landung durch die Steuerdüsen in der Waage gehalten.«
Die Zeit bis zum Einleiten der Zündung für das Bremsmanöver verging wie im Fluge. Jan spürte nach Tagen absoluter Schwerelosigkeit wieder das Mehrfache seines eigenen Körpergewichts. Es kam ihm schlimmer vor als beim Start von der Erde. Als ihm schon fast schwarz vor Augen wurde, ließ der Druck so unvermittelt nach, wie er begonnen hatte.
Jan atmete bereits auf, doch Lisa rief sofort: »Das war es noch nicht alles, Leute! Bleibt unbedingt angeschnallt!«
»Zweite Zündung in zwanzig Sekunden!«, gab Carl bekannt. »Wir haben fünf solcher Sequenzen, bevor wir das Schiff aufrichten müssen.«
Das Triebwerk brüllte wieder auf und sie wurden tief in ihre Lager gepresst, unfähig sich zu bewegen. Das Atmen wurde zur Qual. Jedes Mal, wenn es zu viel zu werden drohte, erhielten sie eine kleine Erholungspause.
Jan hob seinen Kopf ein wenig, um sehen zu können, was die anderen machten, aber es schien, als litten sie genauso wie er. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Carl zusammen mit Lisa an der Steuerung arbeitete. Er bewunderte diese Raumfahrer, die nach dieser Tortur sofort voll einsatzbereit waren. Sie verhielten sich, als würden ihnen die Strapazen des Bremsmanövers überhaupt nichts ausmachen.
Nach den Manövern begannen Carl und Lisa mit dem Aufrichten des Fliegers. Minutenlang erfüllte ein ständiges Kreischen der verschiedenen Triebwerke die Schiffszelle. Ganz allmählich stellte sich ein Gefühl für oben und unten ein, auch wenn das gefühlte Eigengewicht sehr gering war.
»Wer Lust hat, kann zu mir an die Steuerung kommen«, verkündete Carl. »Es ist aber nicht ganz ungefährlich. Sollte es noch zu einer kurzfristigen groben Korrektur kommen, werdet ihr euch einige Prellungen holen können.«
Jan und Isabella sahen sich kurz an, lösten dann ihre Gurte und schwebten zu Carl hinüber, der sie ansah, als wenn er nichts anderes erwartet hätte. Er deutete auf eine Metallschiene, die rund um den Steuerstand führte. »Macht euch an dem Ring dort fest.«
Er fasste mit beiden Händen zwei Joystick-ähnliche Griffe. »Dann wollen wir mal. Jetzt beginnt der Eiertanz.«
Auf mehreren Monitoren war bereits die Mondstation zu sehen – zwar noch weit entfernt, aber sie war deutlich zu erkennen. Daneben lag der Landeplatz, der offenbar ihr Ziel war. Einer der Monitore zeigte eine starke Vergrößerung der Szene mit einem Fadenkreuz darauf, welches sich leicht hin- und herbewegte. Carl arbeitete konzentriert an der Steuerung und man konnte sehen, wie jede der Bewegungen Carls das Fadenkreuz auf dem Monitor verschob.
An der Unterkante des Bildschirms veränderten sich laufend Zahlenkolonnen für Treibstoffmenge, Schubkraft, Distanz und relativer Geschwindigkeit zur Oberfläche.
Ein Lautsprecher erwachte zum Leben und eine Stimme ertönte: »Hier Landeanflugkontrolle der Akademie. Moonshuttle-1, bitte führen Sie eine Horizontalkorrektur von vier Grad, relativ zum derzeitigen Zielvektor durch. Richtung: 272 Grad Nordnordwest. Sie kommen zu schräg ins Landegestell.«
Jan sah, dass sich auf Carls Stirn ein paar Schweißperlen zeigten.
»Scheiße!«, entfuhr es Carl. »Diese verdammte Software hat immer noch dieses Problem. Sie haben uns versichert, dass sie es in den Griff bekommen hätten. Ich könnte diesen Sesselfurzern die Köpfe abreißen!«
Carl arbeitete nun hektisch an seiner Steuerung. »Lisa! Ich halt das Shuttle auf dieser Höhe! Versuch eine Horizontalkorrektur mit den Hilfsdüsen!«
»Du weißt, dass das Probleme mit der Lage geben kann«, wandte Lisa ein.
»Keine Diskussion! Mach diese verdammte Korrektur! Ich kümmere mich schon um die Lage!«
»Manuell?«, fragte Lisa zweifelnd.
»Nun mach endlich!«, zischte Carl. »Wir müssen da runter. Wie sieht es mit dem Treibstoff aus?«
»Brennstoffende in siebzig Sekunden!«, rief Zhen Chien. »Lisa, es wird jetzt eilig!«
»Ich mach ja schon!« Sie drückte ein paar Knöpfe. Danach griff sie ebenfalls nach Steuerknüppeln, die genauso aussahen wie die, an denen Carl arbeitete.
Jan war nicht wohl in seiner Haut. Nervös sah er Isabella an und erkannte, dass sie ebenso empfand. Sie begriffen, dass hier etwas geschah, das so nicht beabsichtigt war. Carl und Lisa kämpften verbissen um die Fluglage und den Neigungswinkel des Shuttles. Das ganze Schiff erzitterte und vibrierte unter der ungewohnten Belastung.
»Was ist mit dem Schiff?«, fragte Pelle besorgt. »Kann die Zelle reißen?«
Carl und Lisa waren so beschäftigt, dass sie nicht antworteten.
Jan blickte auf den Monitor und sah, dass sich das Fadenkreuz nun ganz langsam auf das Zentrum des inzwischen gut erkennbaren Landegestells verschob. Schließlich war es exakt darüber. Carl nickte Lisa zu und stieß pfeifend seinen Atem aus. »Jetzt runter mit dem Baby.«
»Moonshuttle-1!«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Achten Sie auf Ihre Lage! Sie könnten das Landegestell beschädigen.«
»Du kannst mich ...!«, brüllte Carl. »... diese Landegestelle könnt ihr sowieso jedes Mal vergessen, wenn wir wieder abgehoben haben. Ich mache mir mehr Sorgen um das Shuttle!«
Es war ihm gleich, ob man ihn auf dem Mond über die Funkstrecke hören konnte.
»Ihr habt es gleich«, sagte Zhen Chien, der die Bemühungen der Beiden an seinem Bordradar verfolgte. »noch etwas mehr Schub auf das Haupttriebwerk. Wir kommen noch etwas zu schnell rein.«
»Schnell Jan! Den blauen Regler vor dir auf Siebenhundertfünfzig stellen!«, rief Carl.
Jan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Der Kommandant des Shuttles spannte ihn – einen absoluten Neuling – in den Landevorgang ein. »Was ... ich?«
»Träum nicht!«, brüllte Carl ihn an. »Ich hab keine drei Hände und Lisa auch nicht! Es kommt auf jede Sekunde an! Siebenhundertfünfzig! Sofort!«
Jan griff erschrocken nach dem Regler und drehte ihn in die gewünschte Position. Sogleich dröhnte das Haupttriebwerk lauter und das Zittern des Schiffes wurde stärker.
»Vor dir befindet sich ein Monitor, Jan«, sagte Carl – nun etwas entspannter. »Isabella, lies ihm bitte ständig die Werte der relativen Geschwindigkeit vor. Jan, du behältst die Hand am Regler. Wir müssen mit weniger als einem Meter pro Sekunde ins Landegestell. Mehr schaffen die Hydraulik-Puffer im Landegestell nicht. Nicht bei unserer Masse. Also gib mehr Gas, wenn wir schneller werden und nimm es weg, wenn wir zu steigen drohen. Wir kümmern uns um die Fluglage und den Zielpunkt.«
Gina, Pelle, Nelson, Robert und Yves schnallten sich ab und kamen herüber, um sich anzusehen, wie die anderen es anstellten, das Shuttle zu landen. Die Nervosität und Spannung an Bord war förmlich greifbar.
»Noch hundert Meter bis zum Grund«, gab Zhen bekannt.
»Geschwindigkeit drei Meter!«, rief Isabella.
Jan drehte mit schweißnassen Fingern am Regler und erhöhte die Leistung des Triebwerks.
»Ein Meter pro Sekunde!«, gab Isabella an. »Pass auf Jan, gleich steigen wir.«
Jan drehte den Regler hin und her, um ein Gefühl für die Auswirkungen seiner Tätigkeit zu bekommen.
»Brennstoffende in 30 Sekunden!«, rief Zhen.
Langsam bekam Jan ein Gefühl für die Treibstoffregelung.
»Gut Jan«, sagte Isabella. »Wir sind jetzt konstant knapp unter einem Meter pro Sekunde.«
»Das reicht nicht!«, rief Zhen. »Wir sind zu hoch! Uns geht der Sprit schon vor dem Aufsetzen aus!«
»Festhalten!«, rief Carl. »Das wird jetzt ungemütlich!«
Jan starrte auf den Regler in seiner Hand und die Zeit schien mit einem Mal stillzustehen. Fieberhaft überlegte er und tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Die Moonshuttle-1 würde abstürzen - soviel stand fest. Es würde kein harter Absturz werden, aber sicherlich würde sie nicht wieder starten können. Gab es eine Möglichkeit, die Katastrophe doch noch zu verhindern? Jan wusste nicht, warum er es tat, aber er drosselte die Triebwerksleistung, sodass das Shuttle immer schneller wurde und sich der Mondoberfläche näherte.
»Was tust du?«, fragte Isabella entsetzt, aber Jan war zu beschäftigt, um darauf zu antworten. Carl versuchte, ihn zu greifen und vom Schubregler wegzuziehen, doch Jan wich ihm geschickt aus. Seine Gedanken waren mit einem Mal absolut klar. Der Treibstoff wäre knapp 30 Meter über Grund verbraucht. Auf der Erde hätte er sicher keine Chance, einen Absturz zu verhindern. Doch auf dem Mond könnte es klappen. Hier herrschte nur ein Sechstel der Erdschwerkraft. Nur zwei Sekunden vor dem Aufschlag drehte er den Regler auf volle Leistung und ließ das Triebwerk mit voller Last arbeiten. Der gesamte restliche Treibstoff wurde in einem einzigen Augenblick verbrannt. Das Triebwerk verursachte einen ohrenbetäubenden Lärm. Dann – im nächsten Moment – wurde es ruhig. Der Treibstoff war verbraucht.
Das Shuttle schüttelte sich und es gab einen mörderischen Ruck, der alle Besatzungsmitglieder durcheinanderwirbelte. Jan schlug mit der Stirn auf das Kontrollpult und zog sich eine blutende Schramme zu.

Carl, der bei dem Ruck zu Boden gefallen war, sprang wieder auf und starrte auf die Konsole.
»Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es ihm. »Wir sind gelandet!«
Er drehte sich zu Jan um. »Junge, du hast ein Shuttle auf dem Mond gelandet!«
Er ging auf Jan zu und umarmte ihn. »Das war eine tolle Leistung! Wie bist du nur auf die Idee gekommen, den gesamten Resttreibstoff auf einmal einzusetzen?«
Jan überlegte. »Ich weiß nicht. Ich hatte im Kopf überschlagen, dass es nicht reichen würde. Da dachte ich, dass es klappen könnte, den Rest des Treibstoffs mit einem Schlag einzusetzen, zumal wir ja doch sehr nah am Ziel waren.«
Die anderen begriffen allmählich, was sich da in den letzten Minuten abgespielt hatte. Gratulationen hagelten auf Jan ein, dem es sichtlich peinlich war. Seine Knie zitterten und er hatte nicht das Gefühl, etwas Besonderes geleistet zu haben.
Carl legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir sind uns aber sicher einig, dass es mehr Glück als Verstand war, dass es geklappt hat, nicht wahr?«
Jan nickte. »Klar. Aber auch, wenn ich es nicht versucht hätte, wären wir abgestürzt. Es war voreilig und eine Bauchentscheidung - aber es hat funktioniert ...«
»Hier Mondbasis!«, tönte es wieder aus dem Lautsprecher. »Welcher Idiot ist für die Landung des Shuttles verantwortlich? Das Landegestell und die Plattform sind durch den unkontrollierten Triebwerkseinsatz stark beschädigt worden. Das wird ein Nachspiel haben!«