3. Dem Mond so nah

 

3.2 Bodenkontakt

Carl war anzusehen, dass er sich nur mühsam beherrschen konnte. Mit der Faust schlug er auf den Schalter der Sendeanlage und brüllte ins Mikrofon: »Wir sind hier nur knapp einer Katastrophe entgangen, weil die verdammte Software für den Landecomputer noch immer fehlerhaft ist, und ihr macht euch ins Hemd wegen des dusseligen Landegestells? Der Einsatz des Triebwerks war nicht unkontrolliert, sondern genau überlegt und notwendig. Andernfalls wäre euch die ganze Moonshuttle-1 auf die Station gefallen!«
Sie starrten alle auf den Lautsprecher und waren gespannt, wie man reagieren würde, doch er meldete sich nicht mehr.
Carl atmete ein paar Mal heftig durch. »Ich brauche nicht zu betonen, dass wir wirklich nur sehr knapp an einem Absturz vorbeigerutscht sind. Jan, Isabella, ich kann euch nicht genug dafür danken, dass ihr sofort eingesprungen seid, als ihr gebraucht wurdet.«
»Na, du hast uns aber auch nicht wirklich eine Wahl gelassen, oder?«, fragte Jan lachend. Die Spannung fiel allmählich von ihm ab. Er nahm Isabella in den Arm und küsste sie.
»Trotzdem finde ich schon, dass wir es ganz gut gemeistert haben.«
»Das meine ich«, sagte Carl zu den anderen Studenten. »ich bin überzeugt davon, dass jeder von euch ebenfalls zugegriffen hätte, wenn er dort am Pult gestanden hätte, als die Probleme aufgetreten sind. Was wir brauchen, sind Raumfahrer, die einen Instinkt dafür entwickeln, was notwendig ist. Packt nun eure Sachen und macht euch fertig für die Ausschleusung.«
Carl machte eine kurze Pause, dann fügte er noch hinzu: »Es war mir wirklich ein Vergnügen, diese Reise mit euch zu machen. Bringt euer Studium hinter euch und meldet euch zum aktiven Dienst. Es würde mich freuen, wenn ihr eines Tages mit mir im selben Team zu neuen Ufern aufbrechen würdet. Und nun seht zu, dass ihr packt. Man wartet unten in der Akademie bereits auf euch.«
Viel hatten sie nicht zu packen und so dauerte es auch nicht lange, bis die sieben Neulinge sich von der Mannschaft verabschiedeten. Auch wenn sie nur sehr kurz Kontakt zur Besatzung der Moonshuttle-1 gehabt hatten, wurden sie doch herzlich verabschiedet und sowohl Carl als auch Lisa, bedankten sich noch einmal für die tolle Landung. Ohne den beherzten Versuch Jans wäre das Shuttle schwer beschädigt worden. Lisa nahm Jan zum Abschied in den Arm und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Nicht böse sein«, sagte sie mit einem Augenzwinkern zu Isabella. »den hat er sich redlich verdient.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Pelle und hielt ihr seine Wange hin.
Lisa lachte und gab ihm auch einen Kuss.
»Auch wenn ich der Meinung bin, dass du ihn nicht so sehr verdient hast, wie Jan, will ich mal nicht so sein«, sagte sie. »macht's gut Leute. Wir sehen uns gewiss irgendwann wieder.«
Anschließend setzten sie sich ihre Helme auf und verriegelten sie sorgfältig. Zhen Chien kontrollierte noch einmal, ob sie alles richtig gemacht hatten, dann kletterten sie nacheinander in die Schleusenkammer.
Der Landeplatz hatte keine unmittelbare Verbindung zu den Gebäuden der Akademie. Aus diesem Grunde mussten sie ausschleusen und mit einem Aufzug zur Mondoberfläche hinunterfahren. Wie es dann weiterging, würden sie sehen, wenn sie unten angekommen waren.
Jan blickte auf sein Helmdisplay, auf dem er sehen konnte, dass sein Helmfunk eingeschaltet war.
»So, dann wollen wir mal.« Er drückte mit dem klobigen Handschuh des Anzuges auf den Schalter für den Schleusenvorgang. Die runde Luke der inneren Schleuse schloss sich langsam und verschloss den Zugang zum Shuttle mit einem schmatzenden Geräusch. Im nächsten Moment hörten sie die Pumpen arbeiten, die den kleinen Raum luftleer pumpten. Das Geräusch wurde in dem Maße, in dem der Luftdruck abnahm, immer leiser.
»Schaut euch mal meinen Anzug an«, sagte Gina und spreizte ihre Arme ab. Noch vor wenigen Minuten hatte der Anzug schlaff ausgesehen, doch nun schien er sich aufzublähen, wie ein Ballon. »ich will hoffen, dass das nicht so weitergeht.«
»Keine Angst«, hörten sie Carl über den Helmfunk. »Die Anzüge müssen sich etwas ausdehnen, um den Innendruck auszugleichen. Aber ihr werden sehen, dass sie auch im Vakuum noch sehr flexibel sind. Ihr werdet euch darin gut bewegen können. Es handelt sich um leichte Arbeitsraumanzüge. Sie sind für den Einsatz im All bis zu einer Zeit von einer Stunde gut geeignet. Dann solltet ihr allerdings wieder in festen Gebäuden sein.«
»Wie lange werden wir denn brauchen, bis wir in der Akademie sind?«, wollte Robert Meindorf wissen.
»Macht euch keine Gedanken. Das wird nur ein paar Minuten dauern.«
Inzwischen war der Pumpvorgang abgeschlossen und sie konnten das Außenschott öffnen. Yves zog an dem schweren Drehrad und öffnete das Schott Zentimeter für Zentimeter. »Puh, ist das schwer. Es könnte mir ruhig jemand helfen.«
Nelson sprang hinzu und gemeinsam hatten sie das Schleusentor schnell geöffnet. Grelles Licht flutete hinein und blendete sie. Es dauerte einen Moment, bis das Helmvisier reagierte und seine Blende aktivierte. Die Scheiben der Helme waren nun silbern verspiegelt und ließen nicht mehr erkennen, wer jeweils in dem Anzug steckte.
Vorsichtig machte Yves einen Schritt aus der Schleusenkammer auf die kleine Plattform des Landegestells.
»Mein Gott, das ist überwältigend!«, rief er aus, nachdem er einen Blick auf seine Umgebung geworfen hatte. »das müsst ihr euch anschauen.«
Die anderen kamen nun auch aus der Schleuse und bekamen den Mund gar nicht mehr zu. Die Mondoberfläche um sie herum wurde von der Sonne brutal hell angestrahlt. Ohne die Helmblenden hätten sie nichts erkennen können. So jedoch konnten sie den fernen Kraterrand des Mare Nubium sehen, als wäre er direkt vor ihnen. Die Sicht war so klar, wie es sie nirgends auf der Erde ist, wo immer Luftverunreinigungen vorhanden waren. In der Nähe sahen sie die Gebäude der Akademie, die sich an einen mittelhohen Berg zu ducken schienen. Man hatte die Station so gebaut, dass sie auch am Mondtag recht viel Schatten bekam. Die Kühlung der Anzüge begann nun hörbar zu arbeiten. Jan blickte auf seine Anzeigen und stellte fest, dass die Außentemperatur seines Anzuges innerhalb von wenigen Augenblicken auf über einhundertvierzig Grad Celsius gestiegen war. Er verstand nun, warum man so viel Wert auf Schatten beim Bau der Station gelegt hatte.
Sie standen nun bereits seit Minuten auf der Plattform, doch sie bewegte sich nicht. Man hatte ihnen gesagt, dass sie zusammen mit dieser Plattform nach unten fahren würden.
»Warum bewegt sich dieses Ding nicht nach unten?«, fragte Isabella. »Ich denk, das soll ein Aufzug sein.«
Ein Knacken in den Helmlautsprechern deutete an, dass sich jemand in die Unterhaltung eingeschaltet hatte.
»Hier spricht Rick O'Hara vom technischen Dienst der Akademie. Der Aufzug des Landegestells ist kaputt. Überhaupt ist so ziemlich alles an diesem Gestell kaputt. Der Feuerstoß kurz vor der Landung hat die gesamte Technik der Einrichtung in einen Haufen Schrott verwandelt. Ihr werdet euch noch einen Moment gedulden müssen. Ich bin auf dem Weg, euch mit einem Jumper abzuholen.«
»Was ist ein Jumper?«, fragte Pelle.
»So nennen wir die kleinen, offenen Gleiter, die wir hier zur Fortbewegung über dem tiefen Mondstaub benutzen«, antwortete Rick O'Hara, der offenbar in ihren Funk eingeschaltet blieb. »Wir können nämlich nicht von der Landestelle zur Akademie laufen. Der Staub ist hier so fein und tief, dass man unweigerlich versinken würde. Da der Staub auch Funkwellen absorbiert, wäre es eventuell das Todesurteil, wenn so etwas geschieht. Ich bin gleich da. Bleibt von der Kante der Plattform weg.«
Unvermittelt tauchte ein Fahrzeug neben ihnen auf. Es sah aus wie eine Metallplatte mit einem Gerüst darauf. In dem Gerüst waren verschiedene Tanks mit dicken Schrauben befestigt. Vorn saß eine Person in einem schweren Raumanzug, mit dem man sicherlich länger im All bleiben konnte, als mit den leichten Anzügen, die sie trugen. Hinter dem Piloten gab es eine längs verlaufende Doppelreihe mit Bänken und Gurten. Das ganze Fahrzeug wurde mithilfe einiger Düsen gesteuert, die an der Unterseite, sowie am Heck der Platte angebracht waren. Der Pilot verstand sein Handwerk, denn er schaffte es, dieses klobige Ding mit absoluter Präzision auf Höhe der Plattform zum Stillstand zu bringen.
»Beeilt euch bitte etwas«, sagte Rick O'Hara. »Ich weiß nicht, ob ich den Jumper lange hier neben der Plattform ruhig halten kann. Springt einfach auf. Aber vorsichtig. Wir haben hier nur eine geringe Schwerkraft.«
Einer nach dem anderen sprangen sie von der Plattform ab und griffen nach einer Stange des Gerüsts auf dem Jumper. Die Übungen in der Trommel des Shuttles kamen ihnen nun zugute, denn sie konnten mit etwas Konzentration recht gut abschätzen, wie viel Kraft sie aufwenden mussten. Es dauerte nicht lange und sie saßen auf den Bänken des Jumpers.
»Es kann losgehen«, sagte Jan. »wir sind an Bord.«
»Auch angeschnallt?«, fragte Rick noch einmal nach. »Der Flug wird vielleicht etwas holprig.«
»Wir sind so weit«, bestätigte Jan. »Alle sind angeschnallt.«
Rick zog an einigen Hebeln und der Jumper machte einen regelrechten Satz. Wären sie nicht angeschnallt gewesen, hätten sie keine Chance gehabt. Auch so war es kein angenehmer Flug. Rick beherrschte sein Fach, aber er nahm auch keinerlei Rücksicht auf seine Passagiere. Er drosselte den Antrieb, worauf der Jumper wie ein Stein zu Boden fiel. Kurz vor dem Boden gab er Gas und fing das Fahrzeug ab. Die Düsen wirbelten eine riesige Wolke Mondstaub auf, die ihnen für einen Moment die Sicht nahm. Der feine Staub legte sich wie ein Film auf das Helmvisier und sie konnten ihre Umgebung nur undeutlich wahrnehmen. Jan schaffte es irgendwann, mit einem Ärmel über seine Frontscheibe zu wischen, aber da waren sie schon fast am Ziel. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Jumper in eine große Halle hinein flog, die von starken Scheinwerfern hell ausgeleuchtet wurde. Hinter ihnen schloss sich das große Tor der Halle. Rick steuerte den Jumper bis zu einer Stelle am hinteren Ende der Halle und setzte ihn dort auf.
»So, ihr seid am Ziel, Freunde«, sagte er freundlich. »willkommen in der Akademie. Ich hoffe, ihr nehmt mir den rasanten Flug nicht übel. Es ist ein kleiner Spaß, den ich mir immer mit den Neuen erlaube, wenn sie zum ersten Mal auf einem Jumper mitfliegen. Geht durch die Schleuse dort vorn. Dahinter könnt ihr dann die Helme abnehmen und die Anzüge ablegen. Ihr werdet schon erwartet.«
Sie öffneten ihre Gurte und erhoben sich mit leicht weichen Knien von den Bänken. Mit unbeholfenen Schritten liefen sie auf die Schleuse zu. Rick lachte leise in ihren Helmlautsprechern. Jan ärgerte sich darüber. Am liebsten hätte er diesem Rick seine Meinung gesagt.
»Wir sehen uns nachher sicher noch«, sagte Rick. »ihr werdet sehen: In ein paar Stunden werden wir gemeinsam darüber lachen.«
Rick wartete noch, bis seine Passagiere in der Schleuse verschwunden waren und das Schleusentor geschlossen war, dann drückte er auf den Codegeber für das Hallentor und flog mit seinem Jumper wieder auf die Mondebene hinaus.
In der Schleusenkammer standen sie eng beisammen und warteten auf den Druckausgleich. Die Helmvisiere hatten automatisch ihre Blenden zurückgefahren, nachdem sie aus dem hellen Sonnenlicht in die künstliche Beleuchtung der Halle eingeflogen waren. Jan sah, dass die Helmscheibe Nelsons verschmutzt war.
»Was ist mit dir, Nelson?«, fragte er.
»Lass mich bloß in Ruhe, Jan«, sagte Nelson. »der Flug war die Hölle. Ich habe vorhin in den Anzug gekotzt und bin froh, wenn ich hier rauskomme.«
Gina konnte sich ein Lachen nicht verbeißen, wofür sie sich den Zorn Nelsons zu zog.
»Das ist nicht komisch!«, fuhr er sie an.
»Entschuldige, Nelson«, sagte sie kichernd. »ich kann nicht anders. Allein die Vorstellung ...«
Die Beleuchtung innerhalb der Schleusenkammer wechselte zu einem leichten Grün. Das bedeutete, dass sie die Akademie betreten konnten. Sie sahen sich gegenseitig schweigend an. Da waren sie nun. Sie betraten die berühmte Mondakademie. Alles, wofür sie bisher gearbeitet hatten, wurde Wirklichkeit. Hier würde sich zeigen, ob sie tatsächlich aus dem Holz geschnitzt waren, woraus fähige Raumfahrer gemacht wurden.
Pelle fand die Situation unerträglich. Er quetschte sich an den anderen vorbei, als niemand Anstalten machte, das Innenschott zu öffnen.
»Ich bin nicht hier hergeflogen, um hier in der Schleusenkammer zu versauern«, sagte er. »Los Jan, Yves, packt mit an!«
Beherzt griff er mit seinen Handschuhen nach dem großen Rad. Die anderen sprangen hinzu und zogen mit ihm zusammen an der Tür, die mit einem leichten, schabenden Geräusch aufschwang.