Der Vorleser

Krankenhausflur

 

Wieder lief ich den langen Gang entlang. Wie oft ich diesen Weg schon genommen hatte, wusste ich nicht. Wie sehr ich ihn einerseits hasste. Andererseits war er die einzige Verbindung zu ihr, die mir geblieben war.
Es war ein harter Tag gewesen und im Grunde war ich todmüde, doch dies hier war einfach notwendig und richtig. Ich würde es mir selbst nicht verzeihen können, diesen – schon so oft gegangenen – Weg nicht zu nehmen.
Meine Schritte hallten durch den Gang und wurden von den Wänden zurückgeworfen. Es war nicht mehr viel los, um diese Zeit. Die Beleuchtung war bereits etwas zurückgefahren worden. Was sollte sie auch hell brennen, wenn niemand sie mehr benötigte?
Ein Gedanke schreckte mich aus meiner Lethargie: Hatte ich auch alles dabei, was ich benötigte? Hastig fühlte ich meinen Leinenbeutel, den ich bei mir trug und war beruhigt. Ja ich hatte es nicht vergessen. Ich war beruhigt.
Eine Tür öffnete sich und eine junge Frau trat auf den Gang hinaus. Sie erkannte mich und lächelte mir zu. Ich mochte ihr warmes Lächeln.
„Warum tun Sie sich das eigentlich an?“, fragte sie leise.
„Sie wissen, warum“, antwortete ich, „ich kann nicht anders.“
„Ich weiß“, sagte sie, „trotzdem kann ich doch versuchen, Sie zu überzeugen, dass Sie besser nach Hause gehen sollten. Sie können doch überhaupt nichts tun. Wir kümmern uns doch. Sie brauchen doch auch Ihren Schlaf.“
„Das verstehen Sie nicht“, sagte ich, nickte ihr zu und ging weiter. Nur noch ein paar Meter. Ich blickte mich noch einmal um. Die junge Frau stand noch immer auf dem Gang und sah mir mit traurigem Blick hinterher.

Ich gab mir einen Ruck und drückte die Klinke zu Martinas Zimmer hinunter. Ich schluckte nervös. Wie jeden Tag wurde ich nervös, wenn ich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.
Das Zimmer war schwach beleuchtet. Ich schloss leise die Tür und betrat den Raum. Da lag sie: meine Martina. So schön und friedlich, wie immer. Ich atmete innerlich auf. Es ging ihr gut.
„Hallo mein Schatz“, sagte ich leise und gab ihr einen leichten Kuss auf die Stirn. Ihre Haut fühlte sich warm und weich an.
„Ich weiß nicht, ob du mich erwartet hast, aber ich dachte, ich komme noch vorbei und leiste dir ein wenig Gesellschaft.“
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich darauf. Glücklicherweise lag außer Martina niemand sonst in diesem Zimmer, so dass es nicht störte, wenn ich abends hier saß und Martina Gesellschaft leistete.
„Ich hatte heute einen harten Tag“, erklärte ich, „sonst wäre ich schon eher gekommen, aber jetzt bin ich ja da. Ich hoffe, es geht dir gut. Mutter hat sich nach dir erkundigt, weißt du? Eigentlich erkundigt sie sich immer nach dir. Du kennst sie ja, sie macht sich halt Sorgen.“
Ich sah sie eine Weile an und spürte mein Herz schwer werden. Nein, ich wollte jetzt nicht wieder weinen müssen. Ich wollte nicht, dass Martina meine Gefühle so deutlich wahrnahm.
Ich fing mich wieder ein wenig.
„Ich habe dir heute ein Buch mitgebracht“, sagte ich, „ich dachte, es würde dir Freude machen, wenn ich dir etwas daraus vorlese. Du hast immer so gern gelesen und jetzt, wo du es nicht selber kannst, lese ich dir halt etwas vor. Ist das in Ordnung?“
Ich wartete ihre Antwort nicht ab, sondern schlug das Buch auf und begann zu lesen. Das abendliche Lesen beruhigte mich selbst auch immer wieder und nach einer Weile begannen meine Gedanken abzuschweifen.
Wie lange war Martina nun schon hier? Ich wusste es genau. Niemals würde ich dieses Datum vergessen, diesen verdammten siebzehnten Februar. Manchmal wünschte ich, ich hätte an diesem Tag am Steuer dieses Autos gesessen, oder wäre zumindest mit ihr zusammen gefahren. Alle sagen sie, ich wäre verrückt, doch was wissen die schon? An diesem siebzehnten Februar war mein Leben zu Ende, wie ich es gekannt hatte. Meine Pläne, meine Erwartungen, meine Hoffnungen, meine Liebe … es war vorbei. Martina hatte eine Verabredung mit einer früheren Schulkollegin und wollte, dass ich sie begleite.
„Ach, fahr' doch allein“, hatte ich gesagt, „ich kenne diese Frau doch überhaupt nicht. Da sitze ich doch sowieso nur dabei, während ihr über alte Zeiten redet.“
Sie hatte mit den Schultern gezuckt und war gefahren. Es war das letzte Mal, dass wir miteinander geredet haben, es waren die letzten Küsse, die wir ausgetauscht hatten. Stunden später kam der Anruf.
Der Fahrer eines Tanklastzuges hatte auf vereister Fahrbahn die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und Martinas Wagen von der Fahrbahn gedrängt. Eine Böschung und ein Baum sorgten für eine vollkommene Zerstörung ihres Autos. Sie selbst konnte zwar geborgen werden, doch …
Ich sah von meinem Buch auf und stellte fest, dass ich schon seit Minuten nicht mehr gelesen hatte. Martina lag friedlich auf ihrem Bett und hatte ihre Augen geschlossen. Wäre nicht die Sonde gewesen, die in ihrer Nase steckte und wären da nicht die vielen Apparaturen – man hätte glauben können, dass sie nur schlief. Leider war es kein einfacher Schlaf, sondern Martina lag im Koma – schon seit Monaten.
Hinter mir öffnete sich leise die Tür. Ich drehte mich um und sah die junge Schwester, mit der ich mich schon im Flur unterhalten hatte.
„Möchten Sie nicht doch nach Hause gehen?“, fragte sie verständnisvoll.
„Nein, Schwester Nicole, ich bleibe hier“, antwortete ich, „Sie wissen doch ...“
Sie nickte.
„Trotzdem möchte ich Ihnen erklären, dass es keinen Sinn macht, wenn Sie jeden Abend bis in die Nacht hier sitzen und Ihrer Frau vorlesen“, sagte sie, „sicher sollen Sie sie besuchen, doch was Sie tun, geht doch an die Substanz. Ich schaue mir das jetzt schon seit vielen Wochen an und ich fürchte, dass Sie das nicht durchhalten. Glauben Sie wirklich, Ihre Frau würde das wollen?“
Ich konnte nicht verhindern, dass eine Träne über meine Wangen rann.
„Sie verstehen das nicht“, sagte ich.
„Wieso glauben sie das?, fragte Schwester Nicole, „Wir haben hier häufiger mit Patienten zu tun, die ins Koma gefallen sind.“
„Das will ich Ihnen gern glauben“, gab ich zurück, „aber wir sind verheiratet, verstehen Sie? Verstehen Sie wirklich, was das bedeutet? Wir haben uns vor Gott versprochen, zueinander zu stehen – in guten, wie in schlechten Zeiten. Bis, dass der Tod uns scheidet. Es ist meine Pflicht ...“
Schwester Nicole legte mit eine Hand auf die Schulter.
„Doch, ich verstehe Sie“, sagte sie, „es ist nur … der Chefarzt hat Ihnen gesagt, wie ernst es um Ihre Frau steht, nicht wahr? Es kann noch lange dauern und sie wird nach menschlichem Ermessen nicht mehr erwachen. Sie wissen das. Warum quälen Sie sich so sehr?“
„Ich habe es Ihnen erklärt“, sagte ich, „sie ist meine Frau. In guten, wie in schlechten Zeiten. Ja, wir haben schlechte Zeiten und ich weiß, dass für uns auch keine Besseren mehr kommen werden. Aber so lange es dauert – und wenn es Jahre sein werden, wird mich niemand hier wegbekommen. So lange es dauert, werde ich abends hier sitzen und Martina aus ihren Lieblingsbüchern vorlesen. Das bin ich ihr und mir schuldig.“
Schwester Nicole machte ein sehr ernstes Gesicht und drückte leicht meine Schulter, bevor sie sich einen Ruck gab und zur Tür ging. Sie drehte sich noch einmal um und sagte:
„Verstehen Sie mich nicht falsch, aber in einer Art beneide ich Ihre Frau um ihren Ehemann.“
„Nein, ich verstehe, was Sie meinen“, sagte ich und wandte mich wieder Martina zu. Ich hörte nicht, wie Schwester Nicole die Tür von außen schloss. Ich hielt Martinas Hand.
„Sie ist sehr nett“, erklärte ich ihr, „doch nun möchte ich weiter vorlesen. Wo waren wir stehen geblieben?“
Ich nahm mein Buch wieder in die Hand, schlug es auf und suchte die Stelle, an der ich zuletzt gelesen hatte.
Ich holte tief Luft und begann vorzulesen.

Wie jeden Abend...

 
Copyright © moriazwo, März 2009