Kapitel 1: Florida

1.1 Heimweh, nein danke ... Teil 1/2


»Hey, du Traumtänzer!«, rief Pelle fröhlich in den Raum hinein. »Hast du was auf den Ohren? Das Telefon hat geklingelt.«
Jan hob den Kopf. »Was?«
»Telefon? Für dich?«
Das konnte nur bedeuten, dass seine Eltern aus Deutschland anriefen. Jan sprang auf und setzte mit einem Sprung über sein ungemachtes Bett hinweg und an Pelle vorbei, der lauthals lachend hinter ihm hersah.
Jan griff den Hörer und hielt ihn sich ans Ohr. »Ja? Jan hier. Wer spricht denn da?«
»Wer schon? Deine Mutter. Vater steht hinter mir und hört zu. Da du dich nicht rührst und nicht anrufst, müssen wir uns ja danach erkundigen, wie es dir geht. Junge, geht es dir auch gut? Hast du dir nicht zu viel zugemutet?«
»Nein Mutter, mir geht es wirklich gut. Die Tests sind zwar schwierig und wir sind abends meist vollkommen fertig, aber es ist in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich nicht anrufe, aber ich bin oft so müde, dass ich überhaupt nicht mehr daran denke. Macht euch keine Gedanken.«
»Das sagst du so, mein Junge. Eltern machen sich immer Sorgen um ihre Kinder. Bekommt ihr denn auch vernünftiges Essen? Man hört ja so einiges über das Essen in Amerika.«
Jan musste unwillkürlich lachen. »Mutter, wir verhungern hier wirklich nicht. Allein schon wegen der anstrengenden Tests müssen sie uns ordentlich versorgen.«
»Was stellen sie mit euch an, dass ihr deswegen besonderes Essen braucht?«
»Mutter, ich habe nicht gesagt, dass wir spezielle Nahrung brauchen. Du sollst mir nicht jedes Wort im Mund herumdrehen.«
Einen Moment lang herrschte Ruhe in der Leitung.
»Ich wünschte, du wärst schon wieder zurück. Der Sohn von Metzgers hat jetzt seine Zulassung für sein Studium bekommen. Für dich wäre es auch nicht zu spät. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«
»Mutter, warum fragst du das?« Die Verärgerung in Jans Stimme war nicht zu überhören. »Wir haben lange genug darüber diskutiert und ich habe mich entschieden. Man könnte ja fast meinen, ihr wünscht euch, dass ich hier versage ...«
»Jan, das stimmt doch gar nicht! Das darfst du nicht denken. Es ist einfach so schwer, sich vorzustellen, dass du in den Weltraum fliegen willst. Wir haben doch nur dich.«
»Mutter, ich bitte dich! Ihr könnt mich nicht in Watte packen. Ich habe seit Jahren davon gesprochen, dass ich mich für die Akademie der UNO bewerben will. Allein die Tatsache, dass sie mich in die engere Wahl gezogen haben und ich hier in Florida bin, ist wie ein Lotteriegewinn für mich. Jetzt will ich auch wissen, welche Karten ich in der Hand habe. Kannst du das nicht verstehen?«
»Doch, sicher verstehe ich dich. Weißt du was? Hör einfach nicht auf deine alte Mutter. Ich kann nicht anders. Aber du hast recht: Ich muss mit meinen Ängsten allein fertig werden. Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst, ja?«
»Versprochen. Ich werde euch auch ganz bestimmt bald wieder anrufen - ehrlich. Drückt mir die Daumen für die kommenden Tage, ok? Das wird noch richtig schwierig werden. Ich hab euch lieb.«
Jan hängte den Hörer ein und ging zurück ins Zimmer. Sein Kollege Pelle Larsson saß auf seinem Bett, biss herzhaft in einen Pfirsich und traktierte die Fernbedienung ihres TV-Gerätes.
»Du wirst wenigstens angerufen«, meinte er kauend. »Ich wünschte mir manchmal, meine Oldies würden auch so viel Sehnsucht nach mir haben.«
»Dann ruf du sie doch an.«
Pelle zuckte die Achseln. »Meinst du nicht, ich hätte es nicht schon versucht? Die sind nie zu Hause und du glaubst doch nicht, dass jemand sein Handy mitnimmt. Möchtest du auch einen?« Er hält einen Pfirsich hoch.
Jan schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit. Mir geht der abschließende Test nicht aus dem Kopf.«
Pelle setzte sich in seinem Bett auf. »Darüber machst du dir nen Kopf, Junge? Wir wissen doch überhaupt noch nicht, was auf uns zukommt.«
»Das ist es ja gerade! Bisher hatten wir einen Plan, der abgearbeitet werden musste. Homer Sherman hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht. Erst jetzt, wo es um alles geht, spannen sie uns auf die Folter.«
»Wo wir gerade bei dem Plan sind ... Wie hast du eigentlich in der Zentrifuge abgeschnitten?«
»Ich hab bei etwas mehr als acht G die Nottaste gedrückt.«
»Acht G? Scheiße ...«
Jan sah seinen Kollegen fragend an. »Wann bist du denn ausgestiegen?«
»Bei knapp sieben G. Da hast du einige Punkte mehr als ich.«
»Dafür habe ich den Jet letztens vollgekotzt.«
»Ach ja ...« Pelle lachte, bis ihm die Tränen kamen. »Allein die Vorstellung ...«
»Das war nicht witzig!«, versuchte Jan, ihn zu bremsen, doch er erreichte eher das Gegenteil.
»Und ob es das ist! Du hättest das Gesicht von dem Piloten sehen sollen ... und deines ... Der Anblick war so ... göttlich ...«
Jan wandte sich wütend ab.
»Tut mir leid.«
Jan drehte sich zu seinem Freund herum. »Ach, geschenkt. Manchmal bin ich einfach zu empfindlich.«
»Mal was anderes: Wusstest du, dass sie hier auf dem NASA-Gelände sogar richtige Lokale haben? Einer von den Fahrern hatte es mir geflüstert. Meinst du nicht, wir zwei, könnten uns da mal etwas umsehen? Wer weiß, vielleicht können wir ja auch zwei von unseren Mädels überreden ... wäre sicherlich lustig.«
»An wen hättest du denn da gedacht?«
Pelle tat, als müsse er überlegen. »Na ja, Gina Daccelli und Arina Tchustnic wären vielleicht nicht abgeneigt. Aber ich würde dir raten, die Finger von Gina zu lassen ... Arina ist aber auch nett.«
»Ja, ist sie ...«
Pelle holte tief Luft. »Du fängst jetzt nicht von dieser Isabella an, oder? Mann, vergiss sie. Die wird doch vor der Welt weggeschlossen. Da kommst du niemals ran. Wer weiß, ob sie dich überhaupt bemerken würde.«
Jan seufzte.
»Belaste dich nicht damit«, mahnte Pelle. »Du musst daran denken, dass nur sieben von uns Figuren einen Platz dort oben bekommen werden. Wie man es auch dreht, dieses Mädchen wird schneller aus deinem Dunstkreis verschwunden sein, als du gucken kannst.«
Pelle hatte ja recht. Er war jetzt so weit gekommen, dass er sich bereits berechtigte Hoffnungen auf das Bestehen der Tests machte. Und da konnte er es sich wirklich nicht leisten, sich durch eine Schwärmerei ablenken zu lassen - erst recht nicht, wenn er nicht einmal wusste, ob diese überhaupt jemals erwidert werden könnte oder würde.
»Was ist nun?«, fragte Pelle lauernd. »Gehen wir uns noch amüsieren?«
»Ach, warum eigentlich nicht? Ruf die beiden an.«
»Bist du sicher?«
Jan rollte mit den Augen. »Was willst du denn nun? Erst drängst du mich dazu, mit euch zusammen etwas zu unternehmen und dann, wenn ich zugestimmt habe, kommt diese Frage?«
»Ich wollte nur sichergehen«, meinte Pelle grinsend. Er machte den Eindruck, als würde er alles wie einen großen Spaß betrachten, doch Jan kannte ihn besser.
»Wir treffen uns direkt am Orbiter-Pub«
»Was?«, fragte Jan irritiert.
»Major Tom, komm zurück auf die Erde. Während du vor dich hin gestiert hast, habe ich telefoniert. Die Mädchen sind nicht abgeneigt. Ich habe vereinbart, dass wir uns am Orbiter-Pub treffen. Das ist eines der beiden Lokale, die man mir genannt hatte. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher ...«
»Nein, ich war nur in Gedanken. Weißt du, wie wir dort hinkommen?«
»Es gibt regelrechte Buslinien. Bei so vielen Beschäftigten hier in Cape Canaveral lohnt sich sowas. Wir brauchen also nicht einmal ein Fahrzeug mieten und müssen uns deshalb nicht vor Homer rechtfertigen.«
»Meinst du, er hätte etwas dagegen«, fragte Jan.
»Sag, wie naiv bist du denn? Wir haben morgen unsere letzte Prüfung und gehen in den Pub? Ich denke, es ist besser, ihm nicht in die Arme zu laufen. Ich jedenfalls habe keinen Bock auf eine Belehrung. Wir nehmen den Bus und loten aus, ob wir gefahrlos in den Pub können. Wenn es zu heiß ist, können wir ja immer noch umkehren.«
»Und was machen wir dann mit den Mädchen?«
»Hmm, gute Frage.« Pelles Miene hellte sich auf. »Aber sie sind doch in derselben Situation wie wir. Dann machen wir eben einen kleinen Spaziergang.«
»Spaziergang!«
»Meine Güte, was denn?«, ereiferte sich Pelle. »Ich kann mir auch keine Lösung aus dem Hut zaubern! Lass uns lieber machen, dass wir zum Pub kommen.«

Es war ihnen klar, dass sie in ihren Quartieren bleiben sollten, um sich geistig auf die Abschlussprüfung vorzubereiten. Was sie vorhatten, war grundsätzlich nicht verboten, aber sie hatten kein gutes Gefühl dabei. Sie ließen eine Lampe eingeschaltet, damit es so aussah, als wären sie im Haus, zogen die Tür hinter sich zu und machten sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Das restliche Tageslicht zu dieser späten Stunde reichte noch aus, um das Gelände weit zu überblicken. Tagsüber fuhren fast ständig Transporter und andere Fahrzeuge herum, doch jetzt war es schon sehr still geworden. Ihnen war das mehr als recht, denn es verminderte das Risiko, dass jemand sie als Akademie-Anwärter identifizierte und fragte, wohin sie um diese Zeit wollten.
Ihre Skepsis war unbegründet. Selbst an der Haltestelle wartete außer ihnen niemand.
»Gibt's hier keinen Fahrplan?« Pelle deutete auf eine leere Hülle, die im Wartehäuschen angeschraubt war.
»Was würde uns das nutzen? Es wird schon noch ein Bus kommen.«
»Ich weiß aber lieber, woran ich bin«, beharrte Pelle.
»Wenn du zahlst, können wir ja ein Taxi rufen.« Jan grinste ihn unverschämt an.
»Na klar! Hast du schon mal meine Geldbörse gesehen? Ist aus Zwiebelleder.«
Jan lachte. »Musst du weinen, wenn du hineinschaust? Soll ich dir was borgen?«
Pelle schlug Jan gespielt auf den Arm. »Du bist ein Blödmann!«
Unbemerkt hatte der Bus neben ihnen gehalten und der Fahrer hatte die vordere Tür geöffnet.
»Wenn ihr euch benehmt, nehme ich euch mit!«, rief er.
»Es ist nicht, wonach es aussieht! Es war nur Spaß!«
»Na, dann steigt mal ein, Jungens. Wohin solls denn gehen?«
»Wir wollen zum Orbiter-Pub. Sie fahren doch dorthin?« Jan sah den Fahrer abwartend an.
»Nicht direkt. Meine Route führt in die Nähe dieses Pubs. Ich kann euch aber sagen, wann ihr aussteigen müsst.«
»Das wäre super. Danke.«
Sie blickten den Mittelgang entlang. Die meisten Sitze waren unbesetzt. Weiter hinten las ein Mann eine Zeitung und beachtete sie nicht weiter. Hinter dem Fahrer hockte ein Junge zusammengesunken und schlief. Sie störten ihn nicht und setzten sich ein paar Reihen dahinter.
»Verdammt, jetzt wird es aber schnell dunkel!«
Pelle sah ebenfalls aus dem Fenster. »Man sieht kaum noch etwas. Hoffentlich finden wir diesen Pub auch.«
»Wir werden ihn finden. Was meinst du, würden die Mädels dazu sagen, wenn wir nicht kommen?«
Pelle zog die Stirn kraus. »Oh, oh, das wäre nicht gut.«
»Deine Gina könntest du dir dann abschminken.«
»Erstens ist es nicht meine Gina und zweitens ... hmm, du hast recht. Wie muss das aussehen, wenn wir sie erst auf die Idee bringen und dann nicht kommen?«
»Das meine ich ja.«
Sie schwiegen einen Moment.
»Meinst du, wir finden den Pub wirklich nicht?« Pelle schien ernsthaft besorgt.
Jan lachte. »Du hast davon angefangen, dass wir ihn nicht finden, nicht ich. Du wirst dein Date schon bekommen.«
»Meine Güte, das ist doch kein Date, heute Abend.«
Jan tat, als müsse er überlegen. »Wie war das doch gleich? Was hat ein Zimmerkollege von mir doch gleich noch gesagt? ›Aber ich würde dir raten, die Finger von Gina zu lassen ... Arina ist aber auch nett.‹«
»Mit dir diskutiere ich nicht mehr!« Pelle verschränkte seine Arme.
»Sei dir selbst gegenüber doch wenigstens ehrlich. Du stehst auf Gina. Ich will dir doch überhaupt nichts ...«
»Wenn ihr zum Pub wollt, solltet ihr hier aussteigen!«, rief der Fahrer von vorn.
Sie sprangen auf und eilten zur Vordertür. »Danke! Können Sie uns noch einen Tipp geben, in welche Richtung wir gehen müssen?«
»Ich meine, ihr müsst euch nach links wenden, aber ich bin mir nicht sicher. Fragt am besten noch mal jemanden direkt hier am Ort.«
»Trotzdem danke!«, rief Pelle und sprang hinter Jan her aus dem Bus.
Nachdem er weitergefahren war, sahen sie sich um. »Links meinte er.«
»Aber sicher war er sich nicht.« Jan winkte mit der Hand ab. »Wir müssen jemanden finden, der sich auskennt.«
»Hier?« Pelle hob hilflos seine Arme. »Es ist dunkel wie in einem Bärenarsch.«
»Muss ich dir glauben.«
Pelle stutzte und lachte los. »Du bist unmöglich. Man denkt immer, du könntest kein Wässerchen trüben, aber du hast immer noch einen Spruch drauf.«
»Ich kann nichts dafür.«
»Natürlich nicht. Was machen wir jetzt?«