1. Florida

 

1.1 Heimweh, nein danke ... Teil 2/2

Jan deutete nach links. »Dorthin. Solange wir es nicht besser wissen, sollten wir uns an die Information des Busfahrers halten, meinst du nicht? Wenn du grade jemanden siehst, kannst du ihn ja fragen.«
»Okay«, brummte Pelle und sie liefen los.
Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnten sie in der Ferne einige Lichter erkennen.
Pelle blickte auf die Leuchtziffern seiner Armbanduhr. »Die Mädchen sind bestimmt schon dort und warten auf uns. Sie hatten nicht so einen weiten Weg wie wir.«
»Sie werden schon noch dort sein.«
»Ja, aber wir sollten uns doch etwas beeilen.«
Nach einigen Minuten schienen die Lichter immer näherzukommen und endlich konnten sie auch erkennen, dass es sich um die Leuchtreklame eines Lokals handelte.
Von außen machte es den Eindruck einer großen Wellblechbaracke. In der Nähe des Eingangs warteten zwei junge Frauen in kurzen, knapp sitzenden Sommerkleidern, die sowohl ihre Figur, als auch ihre Beine gut zur Geltung brachten. Erst nach genauerem Hinsehen erkannten sie, dass es Gina und Arina waren.
Im Gegensatz zu Pelle war Jan nicht so aufgeregt, obwohl er sich eingestehen musste, dass die quirlige Gina mit ihren schulterlangen, pechschwarzen Haaren sehr anziehend wirkte. Sie besaß die Fähigkeit, mit ihren fast schwarzen Augen zu lachen, was sie ungemein sympathisch wirken ließ. Arina war da ganz anders. Sie trug ihre kupferroten Haare in einem burschikosen Kurzhaarschnitt, der ihr gutstand und einen hervorragenden Kontrast zu ihren grünen Augen bildete.
»Wow!«, entfuhr es Pelle. »Ich hätte euch fast nicht erkannt. Endlich sieht man, was ihr sonst immer unter den Prüfungs-Overalls versteckt.«
»Hattet ihr zwei etwa erwartet, wir würden hier in diesen unförmigen Dingern auftauchen?« Arina setzte einen gespielt entsetzten Gesichtsausdruck auf. »Immerhin gehen wir in einen Pub und das ist doch eine Gelegenheit, sich nett anzuziehen, oder?« Gina kicherte leise.
»Also mich stört es nicht.« Für diesen Kommentar fing sich Jan einen spielerischen Faustschlag von Arina auf die Schulter ein.
Lachend hielt er den anderen die Tür zum Lokal auf. Musik ertönte aus dem einzigen großen Raum, der »Orbiter-Pub« genannt wurde. Wie der Name schon vermuten ließ, war die Einrichtung sehr nüchtern, und klare Linien mit viel Glas und Chrom beherrschten das Bild. Die Luft war stickig, aber zu ertragen. Sie setzten sich an einen der freien Tische - weit weg von der langen Theke, die das Prunkstück dieses Lokals zu sein schien. Die Musik war hier nicht so laut und man konnte sich gut unterhalten.
»Was verschafft uns eigentlich die Ehre, dass ihr uns eingeladen habt?«, wollte Gina wissen.
Pelle hatte sich wie selbstverständlich neben sie gesetzt, sodass Arina sich zu Jan setzen musste.
Er ließ seinen Blick schweifen, um sicherzugehen, dass niemand von der Prüfungsleitung anwesend war. Soweit es das dämmrige Licht zuließ, war er sicher, dass das nicht der Fall war.

»Wir wollten gern etwas unternehmen und uns war einfach nach weiblicher Gesellschaft«, gab Pelle unumwunden zu. »Da fielen uns nur Ihr beide ein. Wir hatten immerhin schon ein paar Gruppenübungen und wir dachten eigentlich, dass wir dabei ganz gut zusammen klarkamen, oder etwa nicht?«
»Soso«, frotzelte Gina. »Nur wir beide. Können wir uns darauf nun etwas einbilden?«
Pelle nickte. »Irgendwie schon. Die anderen Mädels kennt man doch irgendwie überhaupt nicht. Sie halten sich aus allem raus und sind nach jedem Test immer schnell wieder verschwunden. Es ist fast als ... hätten sie Schiss, sie könnten was verraten, das ihnen Minuspunkte einbringt. Ich kapier das nicht. Meine Güte, wir sind doch alle jung, oder?«
»Stimmt, die haben alle nur die ›Mondbrille‹ auf«, sagte Jan.
»Und ihr seid da anders? Ihr seid nicht scharf darauf, auf den Mond zu kommen? Macht ihr euch da nicht selbst was vor?« Gina sah Pelle forschend an.
Jan blickte von einem zum anderen. Es war nicht zu übersehen, dass zwischen den beiden eine Spannung entstand. Pelle hatte ja deutlich durchblicken lassen, dass er ein Auge auf Gina geworfen hatte. Er war sich nur nicht sicher, ob Pelle sich nicht zu viel erhoffte.
»Nein, du hast Recht«, meinte Jan. »In diesem Punkt sind wir nicht anders. Aber wo steht geschrieben, dass man sich zwischendurch nicht amüsieren darf?«
»Heute enge Freunde und morgen Feinde?« Arina schüttelte den Kopf. »Das funktioniert nicht. Glaub's mir.«
»Wer redet hier von Feindschaft?«, fragte Jan. »Konkurrenz ja, aber Feindschaft? Ist das nicht übertrieben? Wieso seid ihr gekommen, wenn ihr das so seht?«
Arina lachte leise mit ihrer rauchigen Stimme, was Jan sehr gut gefiel. Das Mädchen aus der Tschechischen Republik hatte meist einen ernsten Gesichtsausdruck. Wenn sie jedoch lachte, hatte sie auffällige Grübchen. »Vielleicht wollten ja auch wir etwas anderes sehen? Und von allen Jungs bei den Prüfungen seid ihr zwei wirklich die Nettesten.«
Jan hob sein Glas und prostete ihr zu. »Na dann auf uns.«
»Und auf das Bestehen der Tests«, fügte Pelle hinzu. »Wäre doch toll, wenn wir das hier auf dem Mond wiederholen könnten, oder nicht?«
»Träumer. Was glaubst du, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir alle vier die Reise zum Trabanten antreten?« Gina sah ihn skeptisch an.
»Ich fänd's trotzdem super.«
»Was denkt ihr denn, wer eine Chance hat?«
Jan blies seine Wangen auf und pustete die Luft geräuschvoll aus. »Schwer zu sagen. Ich hoffe nur, dass es nicht Nelson Dwhite ist. Der ist einfach nur arrogant, leider aber auch sehr gut.«
»Nelson kann ich auch nicht leiden«, stimmte Gina zu. »Der benimmt sich, als wäre er etwas Besseres.«
Arina und Pelle nickten.
»Und diese Rumänin?«, fragte Gina. »Sie hat durchaus einige sehr gute Ergebnisse gehabt. Allein die Punkte für psychische Belastung und Mathematik waren schon beeindruckend.«
»Du meinst Isabella?«, wollte Jan wissen. »Ich denke auch, dass sie gut im Rennen liegt.«
»Und du selbst?« Arina sah Jan forschend an. »Soweit ich mitbekommen habe, halten viele auch dich für einen Kandidaten ...«
»Ach, hör auf damit! Wenn ich mich so umsehe, finde ich nicht, dass ich so herausragende Ergebnisse erzielt habe. Es ist alles noch drin und ich möchte nicht, dass ich hier hochgespielt werde.«
»Ich wollte dich überhaupt nicht ärgern«, sagte Arina verstimmt. »Aber was anderes: Wie kommt es, dass du den Namen der Rumänin kennst? Die wird doch total abgeschottet. Dieser Geheimdienst-Typ lässt keinen an sie ran. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal ihren Vornamen gehört zu haben.«
Jan zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe ihn wohl irgendwo aufgefangen. Sie heißt Isabella Grimadiu. Ich dachte, das wäre bekannt.«
»Klar«, meinte Pelle zweideutig.
»Was soll das überhaupt heißen?«
Die Mädchen lachten und sahen sich wissend an.
»Na, hör mal. Jeder von uns weiß gerade mal, dass sie aus Rumänien stammt und du kennst sogar ihren Vornamen. Da kommt man doch ins Grübeln ...«, sagte Arina. Als sie seinen Protest bemerkte, legte sie ihm ihre Hand beschwichtigend auf den Arm. »Jetzt reg dich nicht auf. Wir wissen doch alle ...«
»Jetzt hört auf mit dem Scheiß! Was wisst Ihr alle?«, platzte Jan heraus. »Nur, weil ich den Namen von dem Mädchen weiß, heißt das nicht, dass ich hinter ihr her bin.«
»Kann er ja auch schlecht«, lachte Pelle und schlug sich mit der Hand auf den Oberschenkel.
»Pelle, du bist ein Arsch!«
»Kommt hört auf!«, fuhr Gina dazwischen. »Jetzt streitet euch nicht wegen so einem Quatsch. Das verdirbt die ganze Stimmung.«
Sie warf Jan einen wissenden Blick zu. »Aber es fällt allen auf, dass du sie manchmal anstarrst. Das kannst du nicht abstreiten.«
»Meine Güte! Sie sieht ja auch wohl sehr gut aus, oder nicht?«
»Da hat er recht!«, meinte Pelle.
»Hört ihr euch eigentlich reden, Leute?«, fragte Arina und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Da sitzt ihr mit zwei bildhübschen Mädchen im Pub und wagt es, über die Schönheit einer anderen Frau zu reden?«
Sie verstummten einen Moment und blickten Arina fragend an. Sie konnte ihre ernste Miene nicht mehr lange halten und lachte los. Auch die anderen stimmten mit ein und die ganze Spannung der letzten Tage entlud sich dabei.
»Die Herrschaften scheinen aber in sehr guter Stimmung zu sein.«
Die Freunde wurden still und starrten den Mann an, der zu ihnen gesprochen hatte. Es war Homer Sherman. Niemand von ihnen hatte ihn hereinkommen sehen.
»Warum so schweigsam, Herrschaften? Sie machten doch eben noch einen sehr ausgelassenen Eindruck.«
»Guten Abend, Mr. Sherman«, sagte Jan leise.
»Sie sollten eigentlich nicht hier sein und ich denke, das wissen Sie, oder etwa nicht?«
»Ja schon«, meinte Pelle. »Aber was tun wir denn Schlimmes? Wir unterhalten uns ein wenig, trinken ein Bier und das wars auch schon.«
Sherman griff sich einen freien Stuhl und setzte sich zu den Vieren.
»Es ist nicht, dass ich es Ihnen nicht gönne, aber im Gegensatz zu Ihnen weiß ich, was morgen auf Sie zukommt. Und da würde ich es begrüßen, wenn Sie es nicht auf die leichte Schulter nehmen würden, sich entspannen und ihre Kräfte schonen.«
»Mr. Sherman, seien Sie doch nicht so.« Gina sah ihn mit großen Augen an. »Wir entspannen uns doch auch hier oder meinen Sie, dass es Arbeit für uns bedeutet, in lockerer Runde zusammenzusitzen?«
Homer Sherman seufzte. »Signorina Daccelli, Sie brauchen nicht erst zu versuchen, mich mit Ihrem Augenaufschlag um den Finger zu wickeln. Das mag bei den beiden jungen Männern ziehen - bei mir nicht. Ich hätte ja überhaupt nichts dagegen, wenn Sie die Prüfungen bereits hinter sich hätten. Ich bin ganz sicher nicht der Spielverderber, den Sie vielleicht alle in mir sehen, doch ich schlage vor, Sie trinken in Ruhe ihre Gläser aus und machen sich auf den Heimweg.«
»Können Sie uns nicht einen Tipp geben, was uns morgen erwartet?« Arina setzte ein verschwörerisches Lächeln auf.
»Genau!«, rief Pelle. »Jetzt, wo Sie schon mal da sind.«
Homer winkte ablehnend mit der Hand ab. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Es wäre unfair den anderen gegenüber. Ich weiß genau, was in Ihren Köpfen vor sich geht. Sie fragen sich, was jetzt noch passieren kann. Sie wurden in Zentrifugen getestet, haben an Parabelfügen teilgenommen, wurden in Jets durchgeschüttelt, nicht zu vergessen die psychologischen Tests zur Erstellung von Profilen und die unzähligen Wissens-, Reaktions-, Sprach- und Mathematiktests. Also: Was kann noch kommen? Was kann es noch schlimmer machen? Morgen werden Sie es erfahren und ich kann Ihnen versichern, dass dieser letzte Test vollkommen anders sein wird als alle vorangegangenen. Es würde mich sehr freuen, wenn ich mich später mit Ihnen unterhalten könnte und Sie könnten mir erzählen, dass Sie ihn bestanden haben. Wir sehen uns dann in der Kleiderkammer.«
»Nicht ein ganz kleiner Tipp?« Arina lächelte ihn gewinnend an. »Wenn es wirklich so hart wird, kann uns das doch keinen Vorteil verschaffen, oder?«
Homer musste gegen seinen Willen lachen. »Sie sind wirklich hartnäckig, was? Ich verrate Ihnen nur so viel, dass morgen nur Vorbereitungen getroffen werden. Dem eigentlichen Test werden Sie dann in den folgenden Tagen einzeln unterzogen. Sie bekommen also noch genügend Zeit, sich darauf vorzubereiten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass es nicht schaden kann, wenn Sie schon jetzt etwas ›herunterschalten‹ und sich geistig sammeln. Aber mehr werde ich Ihnen nicht verraten.«
Er erhob sich, schob seinen Stuhl an den Tisch heran, ging zwei Schritte und drehte sich noch einmal herum.
»Ach ja: Ich finde es wirklich toll, dass Sie sich überhaupt zusammengefunden haben, um sich hier in den Pub zu setzen. Das ist nämlich nicht unbedingt die Regel. Die Anwärter sind meist so auf ihre Prüfungen fixiert, dass sie keinen Kontakt zueinanderfinden und in jedem einen Gegner sehen. Schön, dass es offenbar auch anders geht.«
Sie blickten ihrem Ausbilder hinterher, bis dieser das Lokal verlassen hatte.
»Was tun wir jetzt?«, fragte Gina.
»Wir sind alt genug, selbst zu entscheiden, was wir tun«, stellte Pelle fest.
»Ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl.« Gina biss sich nervös auf die Unterlippe. »Ich denke, wir sollten den Abend jetzt wirklich beenden. Wir können es ja wiederholen, wenn wir alles hinter uns haben.«
»Versprochen?« Pelle sah sie erwartungsvoll an.
Sie lachte. »Ja, versprochen.«
»Zu viert?« Arina sah Jan fragend an.
»Was?«
Arina deutete mit dem Kopf auf die anderen. »Gina und Pelle haben sich eben verabredet. Nicht mitbekommen? Ich wollte wissen, ob wir beim nächsten Treffen auch zu viert sein werden?«
Jan zögerte einen Moment zu lange und Gretas Miene wurde ernst. Sie nickte. »Isabella.«
»Nein Arina, hör mal ...«
Sie hob ihre Hände und unterbrach ihn. »Lass gut sein. Ich hab verstanden.«
Sie war sich im Grunde darüber im Klaren, dass dieser oft etwas schüchterne Junge aus Deutschland nicht wirklich an ihr interessiert war. Dennoch wollte sie es ihm nicht ganz so leicht machen. Er sah gut aus, hatte gute Manieren und war witzig. Sie stand zwar nicht unbedingt auf Mittelblond, doch mochte sie ihn irgendwie.
Jan schluckte und fühlte sich überrumpelt. Arina war ein sehr nettes Mädchen.
Sie streifte sich ihre Haare aus der Stirn und legte ihre Hand lächelnd auf seine. »Jan, du bist ein netter Kerl. Irgendwie hatte ich gehofft, dich etwas näher kennenzulernen. Aber ich hatte mir schon sowas gedacht. Dein Blick, wenn du die Rumänin ansiehst, spricht Bände. Aber versprich dir nicht zu viel. Du weißt nicht, ob sie genauso empfindet und selbst wenn, wird der Geheimdienst-Typ keinen Kontakt zulassen. Du solltest sie vergessen.«
Jan wollte erst heftig reagieren, hielt sich dann jedoch zurück und schwieg. Er fragte sich, ob etwas dran war, konnte sich diese Frage aber nicht beantworten.
Nachdem sie gezahlt hatten, verließen sie das Lokal und riefen über ihr Mobiltelefon ein Taxi. Die Jungs wollten es den Mädchen nicht zumuten, allein heimfahren zu müssen und brachten sie bis zu ihrer Unterkunft. Arina gab Jan einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Sollte ich mich geirrt haben, darfst du mich gern wieder anrufen.«
Sie wandte sich ab und betrat, ohne sich noch einmal umzusehen, zusammen mit der bereits wartenden Gina das Haus.
»Ich glaube, sie mag dich«, sagte Pelle, als sie allein im Wagen saßen.
»Ja, das hab ich gemerkt. Sie war ja deutlich genug.«
»Und? Wie sieht es bei dir aus? Worauf wartest du?«
»Ach, ich weiß nicht. Sie ist nett ... Lass mich heute Abend damit in Ruhe, okay?«
Pelle rollte mit den Augen, ließ das Thema jedoch ruhen.