2. Die Abreise

 

2.3 Moonshuttle-1

Die Moonshuttle-1 war ein gewaltiges Schiff. Es war schon imposant, wenn man es aus einiger Entfernung betrachtete, aber es war einfach unglaublich, wenn man im Aufzug zum Cockpit stand und die Fahrt kein Ende nehmen wollte.
Endlich waren sie auf der Ausstiegsplattform angekommen und schritten die letzten Meter auf die Einstiegsschleuse des Shuttles zu.
An der Innenschleuse erwartete sie Lisa Ramirez, die Kopilotin des Shuttles.
»Willkommen an Bord! Ihr seid also das Frischfleisch für die Akademie. Ich bin Lisa Ramirez, die Kopilotin.«
Sie deutete der Reihe nach auf die übrigen Besatzungsmitglieder. »Der stabile Mann dort an den Kontrollen ist Carl Feininger, unser Kommandant. Er liebt es, mit Captain angesprochen zu werden.«
»Glaubt ihr nicht alles!«, rief Carl, der Lisas Vorstellung mitbekommen hatte. »In Wirklichkeit nennen wir uns beim Vornamen, wenn wir unter uns sind.«
»Spielverderber«, sagte Lisa und deutete auf den Nächsten. »Der Lange da ist Luuvi Tainonen, unser Funk-Finne und der Kleine dort hinten ist Zhen Chien, ein begnadeter Bordtechniker. Was wir nicht bieten können, ist ein Steward oder eine Flugbegleiterin für den Service während des Fluges. Wir werden leider jeden Handgriff selbst machen müssen. Ihr nehmt die Konturliegen in der zweiten Reihe. Sucht euch eine Liege und nehmt darauf Platz. Sie sind mit Tempur überzogen, also nicht wundern, wenn ihr allmählich in der Liege zu versinken scheint. Sobald sie sich an euren Körper angepasst hat, wird Zhen euch anschnallen und die Helme geben. Ihr habt doch schon einmal solche Helme aufgesetzt und gesichert?«
Sie nickten.
»Gut. Wir haben noch etwa fünfundvierzig Minuten bis zum Start, also Zeit genug. Ich werde mich jetzt mit Carl den Kontrollen widmen müssen. Der abschließende Check beginnt in wenigen Minuten.«
Lisa ließ sie allein und sie kletterten zu den Liegen hinüber, die wie überdimensionale Polstersessel mit hoher Rückenlehne wirkten. Lisa hatte nicht zu viel versprochen. Nachdem sie sich auf die Liegen gelegt hatten, begann der Körper allmählich in der Tempur-Masse zu versinken. Jan begriff, dass das Material des Sitzes für eine optimale Druckverteilung während der Beschleunigung sorgen würde. Die Sitze in der Zentrifuge während der Tests waren lange nicht so bequem gewesen. Sie hatten zwar nichts zu tun, aber sie langweilten sich nicht, da es für sie ungemein interessant war, die Besatzung bei ihrer Arbeit zu beobachten.
Jan versuchte, seinen Kopf so weit zu drehen, dass er Isabella sehen konnte, aber der Sessel und sein Anzug ließen es leider nicht zu.
Schließlich war es so weit. Zhen ging von einem zum anderen und prüfte die Gurte ihrer Fluggäste. Anerkennend vermerkte er, dass sie es alle richtig gemacht hatten. Er reichte jedem einen Helm und blieb dabei, bis das Magnetschloss der Halterung hörbar eingerastet war. Dann schloss er Kommunikation und Frischluftversorgung an und kletterte zu seinem eigenen Sitz, wo er sich selbst mit geschickten Handgriffen fixierte.
Als alle ihre Helme aufgesetzt hatten, machte Lisa noch eine Sprechprobe. Alles war vorbereitet und es waren nun nur noch wenige Minuten bis zum Start.
In der Ferne vernahmen sie ein tiefes Dröhnen.
»Die Triebwerke werden vorgeheizt«, kommentierte Carl. »Triebwerke und Treibstoffleitungen müssen zum Zeitpunkt der Zündung eine genau definierte Temperatur haben, sonst kann die Düsenabschirmung reißen, aber das wird man euch sicher bereits während der Vorbereitung erklärt haben.«
Jan spürte, dass er sich verkrampfte. Die Kühlung seines Anzuges lief auf Hochtouren, weil ihm der Schweiß aus allen Poren drang. Er versuchte, sich mit den Techniken zu beruhigen, die er sonst anwandte, doch schienen sie diesmal nicht zu helfen. Er fragte sich, ob es den anderen genau so erging.
Die letzten Sekunden vergingen und auf einem Monitor in Blickrichtung wurde von 20 an abwärts gezählt.
»Von diesem Moment an liegt unser Schicksal in den Händen von Mission Control«, sagte Carl. »Jetzt müssen wir starten. Die Routine kann nicht mehr gestoppt werden.«
Als der Monitor die Zahl »0« zeigte, schwoll das Dröhnen zu einem wahren Orkan an. Selbst durch die Helme war der Lärm nur schwer zu ertragen. Es war aber nicht allein der Lärm, der ihnen zu schaffen machte. Von einem Moment zum anderen legte sich ihnen ein zentnerschweres Gewicht auf die Brust. Es war nicht möglich, auch nur einen Arm zu heben. Das Atmen wurde zur Tortur. Die Zahlen auf dem Monitor zählten nun aufwärts.
Jan hatte das Gefühl, als wenn sie schon minutenlang in einem Schraubstock steckten, dabei waren es auf der Uhr erst zwanzig Sekunden.
»Alles klar da hinten?«, brüllte Carl gegen den Lärm an.
»Ja«, kam es gequält von allen neuen Studenten der Akademie. »Es geht.«
Von einer Sekunde zur anderen war der Druck weg und das Dröhnen schien aufgehört zu haben. Für den Körper war es im ersten Moment eine Erleichterung, aber dafür setzte jetzt ein Gefühl des Fallens ein, das sich negativ auf den Magen auswirkte. Jan musste sich mit aller Gewalt darauf konzentrieren, nicht zu erbrechen.
»Tief und gleichmäßig durchatmen«, sagte Lisa, die offenbar genau zu wissen schien, wie sich ihre Passagiere fühlten.
»Nicht bewegen, es geht gleich wieder los«, sagte Carl. »Die Zündung der zweiten Stufe erfolgt gleich.«
Er hatte es kaum ausgesprochen, da schlug das Gewicht wieder zu. Jan ächzte, als er wieder in seinen Sitz gepresst wurde und es ihm die Luft aus den Lungen drücken wollte. Den anderen erging es offenbar genau so, denn er hörte in seinem Kopfhörer auch das Ächzen seiner Freunde.
Kurz darauf war es vorbei.
Carl und Lisa schnallten sich von ihren Liegen los und stießen sich mit geübten Bewegungen ab. Sie waren alte Hasen der Schwerelosigkeit und waren ihr nicht nur so kurz ausgesetzt wie die Neulinge, die es bisher lediglich bei Sturzflugübungen der NASA für einige Sekunden erleben durften.
Lisa kam zu Jan und schnallte ihn los.
»Ihr müsst nun auf eure Reflexe achten«, mahnte sie. »Eine kleine Bewegung kann euch hier quer durch die ganze Kabine befördern. Das kann gefährlich sein. Ihr könntet euch verletzen oder aber gegen eine Kontrollkonsole stoßen und sie beschädigen. Es wird euch nicht von Anfang an gelingen, aber versucht, jeden Handgriff nur zu machen, wenn ihr mit der anderen Hand gesichert seid. Nutzt die Sicherungshaken, wo immer ihr sie findet.«
Sie machte einen nach dem anderen los, bis sie alle sich von ihren Liegen lösen konnten.
»Die Helme braucht ihr jetzt nicht mehr«, sagte Lisa. »Ihr könnt sie abnehmen und in den Schränken verstauen. Die Raumanzüge lassen wir noch an, bis wir auf Mondkurs gehen. Zurzeit sind wir im Orbit und drehen noch ein paar Runden, bis wir das Fenster für die letzte Beschleunigung haben.«
Jan versuchte, sich vorsichtig abzustoßen, um eines der Fenster zu erreichen. Er wollte unbedingt einen Blick auf die Erde werfen, bevor sie endgültig den Kurs zum Mond einschlugen und der Heimatplanet immer kleiner werden würde. Er stellte fest, dass es nicht so einfach war, wie er es sich vorgestellt hatte, und trieb viel zu schnell zum Fenster hinüber.
Gleichzeitig rotierte er um seine Körperachse und landete mit dem Rücken an der Wand. Lisa leistete ihm schnell mit einer Hand Hilfe, als sie den ungeschickten Versuch Jans bemerkte und sah, wie er hilflos mit dem Rücken gegen die Fensterwand schlug.
»Ich hoffe, du hast jetzt gemerkt, wie vorsichtig du mit deiner rohen Erdkraft umgehen musst«, sagte sie, als sie ihm den nötigen Halt gab, bis er sich an einem der Sicherheitsbügel am Fenster eingehakt hatte.
In der Zwischenzeit hatte Isabella versucht, es Jan gleich zu tun und hatte sich erheblich sanfter abgestoßen. Leider hatte sie zu wenig Kraft aufgewandt und der geringe Luftwiderstand in der Kabine hatte ausgereicht, sie mitten im Raum schweben zu lassen – ohne die geringste Chance, mit den Händen einen Halt zu erreichen. Pelle musste unwillkürlich lachen, als er das sah.
»Ich möchte erleben, wie du dich gleich anstellst, wenn du deinen Sitz verlässt«, sagte Isabella wütend.
Pelle verzog das Gesicht und meinte kleinlaut: »Ich glaube, ich bleibe noch ein Weilchen hier sitzen. Ich finde es recht bequem hier.«
»Feigling!«
Jan wickelte etwas von seiner Sicherheitsleine ab und stieß sich vorsichtig in Isabellas Richtung ab. Lisa verfolgte Jans Manöver und nickte anerkennend.
»Das ist schon richtig gut«, lobte sie. »Noch etwas Übung und es klappt mit der Navigation hier in der Schwerelosigkeit.«
Jan hatte Isabella erreicht und fasste mit der rechten Hand nach ihrem Arm. Isabellas Drehbewegung hörte auf und Jan zog sie zu sich. Dann zog er leicht an seinem Sicherungsseil und sie beide schwebten langsam auf das Fenster zu.
»Der Junge hat es begriffen«, sagte Carl. »Es ist immer gut, wenn sie sich gleich zu Beginn etwas weh tun. Danach gibt es meist keine Probleme mehr.«
Jan und Isabella hielten sich am Haltebügel fest und sahen aus dem kleinen dreieckigen Fenster des Shuttles.
»Wo ist denn die Erde?«, fragte Isabella.
»Warte einen Augenblick, das Shuttle rotiert ganz leicht. Gleich werden wir sie sehen.«
Nur wenig später schien sich die Erde vom Rand her ins Sichtfeld der Beiden hineinzudrehen.
Isabella starrte ehrfürchtig zu der blauen Kugel im All hinüber. »Mein Gott sieht das schön aus!«
Jan nickte. »Allein für diesen Anblick hat sich die ganze Mühe schon gelohnt.«
»Dürften wir vielleicht auch mal ans Fenster?«, fragten Gina und Pelle, die wie auch Jan und Isabella, sich gegenseitig Halt gebend, hinter ihnen schwebten und darauf warteten, dass sie auch einen Blick auf die Erde werfen konnten.
Jan wich etwas zur Seite aus und zog Pelle am Ärmel seines Raumanzuges näher heran, damit dieser sich ebenfalls am Sicherungsbügel einhaken konnte.
»Deshalb wollte ich Raumfahrer werden«, sagte Gina zu Isabella, nachdem sie staunend die blaue Kugel der Erde betrachtet hatte. »Diesen Eindruck will ich noch oft haben, wenn ich vielleicht selbst einmal ein solches Schiff wie dieses Shuttle steuern werde.«
Jan blickte zur Seite und sah Carl Feininger, der sie lächelnd von seinen Kontrollen aus beobachtete. »Irgendwie seid ihr alle gleich, wenn ihr zum ersten Mal im All seid und euren Heimatplaneten seht. Es ist auch ein gewaltiger Anblick. Schaut sie euch nur noch eine Weile an. Ich gönne euch wirklich eure romantischen Empfindungen. Ihr werdet noch früh genug feststellen, dass ein Raumfahrerleben auch ein hartes und manchmal auch langweiliges Leben sein kann.«
Die letzte Äußerung Carls machte Jan nachdenklich. Er wandte sich wieder Isabella zu, die noch immer wie gebannt die leuchtende Erde bewunderte.
»Was ist?«, fragte sie, als sie seinen Blick auf sich liegen spürte.
»Ach nichts.« Er legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie sanft an sich. Gemeinsam ließen sie sich noch eine Weile vom Anblick der Erde verzaubern.