6. Das Leben in der Akademie

6.5 Virgin 2 - Teil 1/2


Nur wenige Minuten später zündete sie die Triebwerke des Shuttles und sie hoben ab. Für Jan war der Flug in den Orbit nichts Besonderes mehr und auch Susann war nicht sonderlich aufgeregt. Das änderte sich erst, als die Virgin 2 in Sichtweite kam. Das Schiff war nicht groß, aber es war von imposanter Erscheinung. Die Designer hatten offenbar ihr Augenmerk auf die Attraktivität gelegt, um Kunden anzulocken, eine Reise mit diesem Schiff zu buchen. Die Virgin 2 war stromlinienförmig gebaut und besaß im Heckbereich vier große Heckflossen, an deren Enden große Navigationstriebwerke angebracht waren. Eine solche Bauform war im All vollkommen überflüssig, sprach aber das Auge an. Jan bezweifelte, dass dieses Schiff in der Lage war, auf der Erde zu landen, obwohl die äußere Form das suggerierte.
Eva lehnte sich entspannt in ihrem Sessel zurück. »Das nenne ich wahren Komfort. Die haben eine vollautomatische Anflugkontrolle. Der Computer der Virgin 2 greift direkt auf die Schnittstelle unseres Shuttles zu und steuert uns millimetergenau an den Andockrüssel ihres Schiffes.«
Jan nickte anerkennend. »Da fragt man sich, wieso wir überhaupt noch den manuellen Anflug lernen müssen.«
Susann lachte. »Vielleicht, weil wir in der Akademie so was noch nicht haben?«
»Aber ist doch wahr! Da gibt es bereits ausgereifte Technik wie diese, und wir hampeln mit der manuellen Steuerung herum.«
Eva sah ihn von der Seite an. »Aus deinem Munde klingt das eigenartig. Warst du nicht derjenige, der immer wieder versucht, alles von Hand zu machen?«
Jan schwieg. Er wusste, dass sie recht hatte.
Wie von Zauberhand näherten sie sich dem Schiff, aus dem bereits ein langer Rüssel herausgefahren kam und ihre Ankunft erwartete. Sie mussten noch warten, bis der Saugrüssel sich um ihre Schleuse festgesaugt hatte. Über Funk hieß der Kommandant der Virgin 2 sie willkommen und bat sie, an Bord zu kommen.
Eva schnallte sich los und umarmte Jan noch einmal. »Pass auf dich auf, okay? Und viel Spaß auf der Erde.« Sie wandte sich auch an Susann. »Auch dir wünsch ich schöne Ferien in der Heimat. Gute Reise.«
»Du kommst nicht mit rüber?«, fragte Jan.
»Nein. Ich muss gleich wieder zurück. Es warten noch andere Transporte.«
Sie griffen ihr Gepäck, das sie von innen aus dem Frachtraum zerren mussten und kletterten in die Schleuse. Jan drehte das Verschlussrad und ließ das Schott aufschwingen. Vor ihnen wand sich eine Röhre von etwa zwei Metern Durchmesser, diffus beleuchtet durch Lichtbänder in den Wänden der Röhre. Sie fassten ihr Gepäck fester und ließen sich in die Röhre gleiten. Hinter ihnen verschloss Eva bereits wieder das Schleusenschott. Nach wenigen Metern tauchte vor ihnen die Schleuse der Virgin 2 auf. Geschickt steuerten sie die einladende Öffnung an und segelten sanft in den Raum hinein, der um Einiges größer war als die Schleusen, die sie gewohnt waren.
Eine junge Frau im Borddress der Virgin-Crew schloss die Schleuse und ließ den Rüssel einfahren. Anschließend wandte sie sich ihnen zu. »Willkommen an Bord der Virgin 2. Ich bin Sheila und für die Dauer der Reise für sie zuständig. Dürfte ich die Bordkarten sehen?«
Jan fingerte an seiner Ausrüstung herum und zog ihre Bordkarten heraus. Mit einem strahlenden Lächeln nahm sie ihm die Karten ab und warf einen Blick darauf. »Luxus-Kabine 9. Sie werden sich sicher wohlfühlen. Ich werde sie zu ihrer Kabine begleiten. Das Gepäck können sie hier lassen, es wird ihnen gleich gebracht.«
Sie stieß sich mit einer eleganten Bewegung ab und segelte in den Gang zu den Kabinen. Die Flugbegleiterin hatte das Aussehen und die Anmut eines Models und Jan konnte es überhaupt nicht fassen, dass sie von so hübschen Damen bedient werden sollten. Susann stieß ihn mit dem Ellenbogen an.
»Ihr Kerle seid alle gleich. Deine Augen saugen sich ja förmlich an ihr fest.«
Er lächelte. »Bist du etwa neidisch? Sie ist aber auch eine ausgesprochene Schönheit.«
Sie folgten ihrer Führerin, die ihnen die Kabine mit einer Codekarte öffnete und ihnen anschließend zwei Karten aushändigte. Das Licht in der Kabine schaltete sich automatisch ein, als sie eintraten.
»Wow!«, sagte Susann. »Das ist eine Kabine? Ich würde das Suite nennen.«
Sheila lächelte. »Wir geben uns alle Mühe, unsere Kunden zufriedenzustellen.«
»Okay«, sagte Jan. »Das mag für die Leute gelten, die eine Reise bei ihrer Gesellschaft gebucht haben. Wir sind Studenten der Akademie. Wir sind anderes gewohnt.«
»Das spielt für die Virgin-Corporation keine Rolle. Jeder, der das Privileg genießt, mit uns zu reisen, hat Anspruch auf jeden Komfort, den wir bieten können. Ich zeig ihnen jetzt die Einrichtungen ihrer Kabine.«
Sie glitt an ihnen vorbei und verschwand in einem Nebenraum. »Hier ist der Schlafraum.«
Sie folgten ihr und blieben erschreckt stehen, als sie das Doppelbett sahen, das sie erwartete. »Ein Doppelbett?«
»Ja, wir sind stolz darauf, auch Paaren eine adäquate Schlafmöglichkeit anbieten zu können. In den meisten Schiffen ist das nicht möglich.«
Jan schüttelte den Kopf. »Sie verstehen nicht. Wir sind kein Paar. Auch, wenn sie das vielleicht vermuten - wir sind nicht einmal zusammen. Wir reisen lediglich gemeinsam.«
Sheila runzelte die Stirn. »Ich war mir sicher ... Darf ich noch mal die Bordkarten sehen?«
Jan hielt sie ihr hin und sie nickte. »Mein Fehler. Auf meiner Liste stand eine Isabella Grimadiu. Wir wussten nicht, dass sich Personen geändert haben. Ist aber kein Problem.«
Sie trat an ein Terminal heran und begann, dort etwas einzutippen. Anschließend verschoben sich die Wände des Schlafzimmers. Der Aufenthaltsraum mit den bequemen Sitzmöbeln wurde geringfügig kleiner, und ehe sie sich versahen, besaßen sie zwei Schlafräume mit jeweils einem Einzelbett. Mit einem gewinnenden Lächeln wandte sich zu ihnen. »Wir sind hier an Bord sehr flexibel, was die Raumaufteilung angeht. Die Betten sind kardanisch aufgehängt. Während einer Beschleunigungsphase richten sie sich automatisch aus, sodass man nicht aus dem Bett fallen kann. Im Aufenthaltsraum befindet sich eine leistungsfähige Com-Konsole. Damit können sie jederzeit mit dem Mond und der Erde sprechen. Irdisches TV wird zeitversetzt übertragen. Aus unserem Media-Center können sie aus über tausend Filmen und hunderttausend Musiktiteln wählen. Das Restaurant ist durchgehend geöffnet. Nur während der Beschleunigungs- und Bremsphasen wird es kurzfristig geschlossen. Wir haben eine gut bestückte Bar im Bug des Schiffes. Dort gibt es eine Glaskuppel, von der aus man einen wunderschönen Ausblick in Flugrichtung hat. Ich kann nur empfehlen, dort einen Drink zu nehmen, wenn wir uns der Erde nähern. Für den kleinen Durst zwischendurch und den kleinen Hunger gibt es die Minibar. Sollten sie Gebrauch davon machen, tippen sie bitte nur ein, was sie entnommen haben, damit wir es wieder auffüllen können. Haben sie noch Fragen?«
Jan und Susann hatten den Mund vor Staunen nicht mehr zubekommen. »Nein, im Moment nicht.«
»In Ordnung. Dann würde ich sie jetzt allein lassen. Wenn sie etwas benötigen oder eine Frage haben, drücken sie auf dem Kommunikator die Taste null und fragen nach Sheila.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, sahen sich die beiden fragend an.
»Wir können uns hier wirklich wie Luxusreisende verhalten?«, fragte Susann.
»Wie es scheint, ja.«
»Was meinst du? Sollen wir uns diese Bar im Bug mal ansehen? Die Glaskuppel interessiert mich. Es ist sicher ein toller Ausblick, wenn wir starten.«
Jan nickte. »Keine schlechte Idee. Unser Gepäck können wir auch noch später in den Schränken verstauen.«
Sie verließen ihre Kabine und zogen die Tür hinter sich zu, die mit einem satten Geräusch einrastete. Sie stießen sich ab und segelten zu den Aufzugkabinen, die sie an jeden gewünschten Ort im Schiff bringen konnten.
»Ein Lift in der Schwerelosigkeit«, lachte Susann. »Etwas lächerlich ist das schon, oder?«
Jan musste auch lachen. Als die Kabine bei ihnen hielt, blickten sie in einen komplett gepolsterten Raum. »Lift? Das ist eine Gummizelle.«
Lachend betraten sie den Raum und ihr Blick fiel auf das Tastenfeld.
»Lounge, Starflight-Kasino, Bar, Crew, Wellness-Oasis, Cabin-Deck«, las Susann laut vor. »Ich könnte mich daran gewöhnen. Wir sollten bei unserer Rückkehr vorschlagen, dass solche Abteilungen auch in der Akademie zur Pflicht werden.« Sie drückte die Taste für die Bar. Die Kabine schloss sich und setzte sich sanft in Bewegung.
»Haben wir überhaupt Geld dabei?«, fragte Susann.
»Wenn ich Sheila richtig verstanden habe, ist das an Bord auch nicht erforderlich. Mit dem Reisepreis ist alles abgegolten.«
Nach wenigen Sekunden hielt die Kabine wieder an und es ertönte ein angenehmes Signal. Die Tür gab beim Öffnen den Blick auf eine schummerige Bar frei. Die Theke und einige Tische waren beleuchtet, der Rest des Raumes verschwand im Dunkeln. Als sie aus der Kabine schwebten, hatten sie das Gefühl, direkt unter dem Sternenzelt zu schweben. Die transparente Kuppel vermittelte einen grandiosen Eindruck. Der Mond war nur einige Kilometer entfernt und drehte sich zügig unter ihnen hinweg. Sie suchten die Erde, doch sie schien im Augenblick hinter dem Mond zu stehen.
»Kann ich ihnen helfen?«, fragte der Mann an der Bar. »Ich werde allerdings gleich die Schränke versiegeln müssen, weil wir starten werden. Wenn sie sich schnell entscheiden, kann ich noch etwas ausschenken.«
Sie setzten sich auf die Barhocker vor der Theke und sicherten sich mit einem leichten Beckengurt. »Ich hätte gern ein kühles Bier«, sagte Jan.
Susann nickte. »Das nehm ich auch.«
Der Barkeeper schob ihnen zwei Gläser über die Theke. Sie waren oben verschlossen und konnten nur über einen Trinkhalm getrunken werden.
Jan sah sich um. »Ist es hier immer so leer?«
»Nein. Es ist nur wegen des Starts. Die meisten Fluggäste erleben die Beschleunigungsphase lieber in ihren Kabinen. Wir haben zwar einige Beschleunigungsliegen, aber unsere Gäste sind nun mal Erdmenschen. Wie kommt es, dass ich sie noch nie hier gesehen habe?«
»Wir sind erst zugestiegen. Wir sind von der Akademie und fliegen in den Ferien nach Hause.«
Der Barkeeper hob anerkennend die Brauen. »Akademie. Hätte ich auch gern gemacht, aber die Chancen sind einfach minimal, dass man einen Platz bekommt. Da ich unbedingt in den Raum wollte, bin ich halt hier gelandet. Aber ich will mich nicht beklagen. Man trifft nette Leute und die Bezahlung ist nicht schlecht. Virgin ist recht großzügig. Von anderen Gesellschaften hört man da durchaus andere Sachen. Ich heiße übrigens Phil.«
Ein Signal ertönte und eine angenehme Frauenstimme verkündete, dass in wenigen Minuten der Start erfolgen würde. Sie wurden gebeten, die nächstgelegenen Beschleunigungsliegen aufzusuchen oder die in den eigenen Kabinen zu benutzen.
Phil zuckte bedauernd mit den Schultern. »Nehmen sie noch einen Schluck. Ich muss ihnen die Drinks abnehmen. Während der Beschleunigung dürfen keine Getränke oder Speisen verzehrt werden.«
»Ist schon okay«, sagte Susann. »Wir kennen das. Ist es in Ordnung, wenn wir uns auf die Beschleunigungsliegen hier in der Bar legen? Wir würden den Start gern hier miterleben. Und wir sind Jan und Susann. Du brauchst uns nicht ständig zu ’siezen'. Schließlich sind wir so was wie Kollegen.«
Phil grinste. »Ihr seid in Ordnung. Wir sollten uns mal zusammensetzen, wenn ich dienstfrei habe.«
Kurz, nachdem sie sich auf den Liegen fixiert hatten, ertönte ein weiteres Signal und danach ging es los. Ein fernes Grollen zeigte an, dass die Triebwerke des Schiffes zu arbeiten begonnen hatten. Sie hatten damit gerechnet, den üblichen Andruck eines Startmanövers ertragen zu müssen, doch die Kräfte, denen sie ausgesetzt waren, ließen sich gut ertragen.
»Eine starke Beschleunigung scheint die Virgin 2 nicht zu haben«, sagte Jan.
»Natürlich nicht«, antwortete Phil. »Mehr kann man den Erdwürmern nicht zumuten, sonst würde niemand mehr mit uns fliegen. Wir machen jetzt noch zwei Mondumkreisungen bei laufenden Triebwerken und lassen uns dann in Richtung Erde schleudern.«
Sie hatten sich mehr davon versprochen, den Start unter der Glaskuppel zu erleben, aber er war wenig spektakulär, und als sie endlich die Umlaufbahn des Mondes verlassen hatten und das Schiff auf Erdkurs war, sah man neben den Sternen die blaue Perle der Erde im All hängen. Interessant würde es werden, wenn sie die Erde erreicht hatten.
Phil löste seinen Sicherheitsgurt und nahm wieder seinen Platz hinter der Theke ein. »Gleich kommen die Gäste wieder hierher. Ich kenn das schon. Meine Schicht endet in vier Stunden. Wenn ihr Lust habt, treffen wir uns nachher im Kasino und essen zusammen? Ich würde mich freuen.«
Susann lächelte ihm zu. »Gern. Wir kommen sicher.«
Sie verließen die Bar und arbeiteten sich systematisch durch das Schiff, um alle Abteilungen zu begutachten.
»Hast du gesehen, wie Phil dich angeschaut hat?«, fragte Jan. »Ich glaube, der will nicht mit uns essen, sondern eher mit dir.«
»Und wenn schon. Er hat uns beide eingeladen und wird sich damit abfinden müssen, dass wir zu zweit auftauchen.«
Jan sah sie forschend an. »Wie findest du ihn denn?«
»Meine Güte, ich kenn ihn doch gar nicht. Was soll die Frage nach ein paar Minuten Small Talk?«
»Ich meine ja nur ...«
»Du meinst was? Klar find ich ihn ganz süß, aber das empfinde ich auch bei dir. Werf ich mich deshalb gleich in deine Arme?«
Jan schwieg.
»Also!« Damit war das Thema für Susann erledigt.