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1. Florida
1.3 Das Warten - Teil 1/4
Die Fahrt hatte nicht lange gedauert, aber Jan erschien sie wie eine Ewigkeit. Er hatte dem Fahrer gesagt, dass er es sehr eilig hatte, doch der ließ sich nicht erweichen, die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten. Endlich kamen sie vor dem Gebäude der Kleiderkammer an. Er zahlte und rannte auf die schwere Metalltür zu, die den Eingang zu dem schmucklosen, kantigen Bau darstellte. Was immer man sich unter einer »Kleiderkammer« vorstellte, dieser gigantische Klotz gehörte nicht dazu. Die NASA unterhielt eine zentrale Stelle für die Einkleidung ihrer Astronauten. Hierzu gehörte es einerseits, die Männer und Frauen mit exakt passender Unterkleidung und individuellen Anzügen auszustatten, andererseits auch Wartung und Reparatur schadhafter Ausrüstung. Es war also eher eine ausgedehnte Werkstatt als eine reine Kleiderkammer.
»Einkleidung für Anwärter?«, brüllte Jan dem erstbesten Mitarbeiter entgegen, der ihm in den Gängen begegnete.
»Sie sind spät dran, junger Mann«, antwortete er und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Dort hinten letzte Tür vor Kopf. Sie können es nicht verfehlen.«
»Danke!«
Jan sprintete los und erreichte das Ende des Korridors. Er stand vor einer schweren Metalltür, an der in schwarzen Lettern »Kleiderkammer« geschrieben stand. Er atmete noch ein paar Mal tief durch und stieß die Tür entschlossen auf.
Jan betrat den großen Raum und stellte fest, dass die übrigen Mitstreiter bereits anwesend waren. Die schwere Metalltür rutschte ihm aus der Hand und fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Die Gespräche waren für den Moment verstummt und Jan fühlte sich, als ob ein Scheinwerfer direkt auf ihn gerichtet wäre. Vereinzelt erklang spöttisches Gelächter.
»Sorry«, sagte er knapp und beeilte sich, um in der Gruppe unterzutauchen. Der Chefprüfer - Homer Sherman - nickte kurz und kam wieder auf sein Thema zurück.
Nelson Dwhite, ein amerikanischer Bewerber, der neben ihm stand, flüsterte ihm zu: »Man sollte euch deutsche Grobmotoriker nicht auf unsere Weltraumtechnologie loslassen.«
Jan konnte ihn von Anfang an nicht leiden, was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Nelson ließ keine Gelegenheit aus, ihn darauf hinzuweisen, dass es amerikanische Raumfahrer waren, die den ersten Flug zum Mond unternommen hatten und er als Amerikaner natürlich besser geeignet wäre, als alle anderen.
»Noch ist nicht klar, wer hier die besseren Karten hat«, zischte Jan zurück. »und was heißt im Übrigen Eure Technologie? Wir haben hier ein internationales Gemeinschaftsprojekt. Es gibt inzwischen eine Menge deutscher Technik in Euren Systemen. Ich sehe keinen Grund, dich hier so aufzublähen.«
Nelson schien es nicht für nötig zu erachten, darauf zu antworten. Er verzog spöttisch seine Mundwinkel und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Prüfer zu.
»Ärgere dich nicht über diesen Blödmann«, flüsterte Pelle, der plötzlich neben ihm aufgetaucht war. »Was war heute Morgen los mit dir? Ich hab alles versucht, aber du hast einfach auf nichts reagiert.«
Jan winkte ab. »Keine Ahnung, aber ich habe auch wirklich alles unternommen, damit es schief geht. Danke, dass du wenigstens versucht hast, mich wach zu bekommen. Hab ich was verpasst hier?«
»Bisher nicht, aber später hättest du nicht kommen dürfen.«
»Wenn die Herrschaften aus Deutschland und Schweden mir vielleicht auch ihre Aufmerksamkeit schenken könnten, würde ich gern anfangen!«
Jan und Pelle merkten, dass Homer Sherman offenbar sie beide meinte, und hoben entschuldigend ihre Hände.
»Hier stehen wir in der schon häufig erwähnten Kleiderkammer, meine Freunde«, sagte Sherman. »Wir werden heute für jeden von euch einen passenden Raumanzug heraussuchen. Es ist wichtig, dass er perfekt sitzt - also zögert nicht, ihn sofort abzulegen, wenn ihr das Gefühl habt, dass er sich nicht richtig anfühlt. Der einzige Unterschied zwischen den Anzügen im All und denen, die ihr gleich anprobiert, ist der Rückentornister. Er ist zwar vorhanden, doch enthält er nicht alle Elemente der Anzüge, die im All verwendet werden. Die Luftversorgung wird über Schläuche von außen erfolgen. Der Tornister enthält lediglich eine Pressluftpatrone für Notfälle - wird also in der Regel nicht benötigt. Trotzdem muss man für alle denkbaren Eventualitäten gerüstet sein. Sobald alle mit passender Ausrüstung versorgt sind, bekommt Ihr noch eine kurze Vorbereitungszeit, bis der eigentliche Test beginnt. Danach wird der oder die Erste von euch mit diesem Anzug in den Tank gehen. Das ist ein oben geschlossener Wassertank, mit einer Grundfläche von hundert Quadratmetern und einer Wasserhöhe von acht Metern. Ihr habt keine andere Aufgabe, als so lange wie möglich am Grund dieses Behälters auszuharren. Stellt es euch aber bitte nicht so einfach vor, wie es sich anhört. Ihr werdet dort nur wenig Licht haben, keine Uhr, keine Gespräche. Ihr werdet wirklich mit euren Gedanken allein sein, denn Ihr steigt jeweils einzeln ins Wasser oder besser gesagt: Ihr werdet hinabgelassen. Die anderen werden inzwischen in kleinen Gruppen in einem Wartebereich auf ihren Einsatz warten. Niemand von euch wird wissen, wann er an der Reihe ist und keiner der Bewerber, die ihre Prüfung hinter sich haben, wird anschließend mit euch sprechen dürfen.«
»Wozu ist dieser Test eigentlich gut?«, wollte Isabella Grimadiu wissen.
»Der Einsatz im All kann mit längerer Einsamkeit verbunden sein«, erklärte Homer Sherman bereitwillig. »dann müssen wir sicher sein, dass wir uns auf unsere Leute verlassen können und sie nicht durchdrehen. Ich will ganz ehrlich sein: Ihr seid die Besten, die aus einer Vielzahl von Anwärtern übrig geblieben sind. Wir haben ein internes Punktesystem, um die Eignung der Bewerber festzustellen. Wie es sich gezeigt hat, liegt Ihr alle - trotz Stärken und Schwächen in unterschiedlichen Bereichen - so dicht beieinander, dass erst dieser abschließende Test die Entscheidung bringen wird. Wer von euch unter den sieben Besten ist, die aus dem Tank kommen, wird die Reise zum Mond antreten dürfen. So sieht es aus. Ich wünsche euch daher viel Glück für diesen Test.«
In den folgenden Stunden waren sie damit beschäftigt, sich einen passenden Raumanzug auszusuchen. Jan musste sechs Mal wechseln, bis er endlich zufrieden war. Ein Mitarbeiter der NASA schrieb Jans Namen auf den Anzug und er konnte ihn bis zu seinem Einsatz weglegen. Jan sah zu Isabella hinüber, die eben damit beschäftigt war, ihre langen Haare hochzustecken, damit sie in den Helm passten. Ein Mitarbeiter reichte ihr eine Art Badekappe und erklärte ihr, dass ein einfaches Hochstecken ihrer Haarpracht nicht ausreichte. Jan bemerkte erst, dass er sie anstarrte, als sich ihre Blicke kurz trafen. Ihre dunklen Augen schienen ihn anzulächeln, obwohl sie - wie immer - ein sehr ernstes Gesicht machte. Jan fühlte sich von diesen Augen angezogen, trotzdem war es ihm peinlich und er wandte seinen Blick ab. Als er dabei war, seine Schuhe anzuziehen, bemerkte er einen Schatten. Er hob den Blick und sah in das Gesicht von Gheorghe Papu - Isabellas Leibwächter, der sie immer und überall begleitete und dafür sorgte, dass sie mit niemandem von den anderen in Kontakt kam.
»Junger Mann«, sagte Gheorghe auf Deutsch mit starkem Akzent. »ich habe eben bemerkt, wie Sie Isabella beobachtet haben, und möchte Sie dringend bitten, sich von ihr fernzuhalten. Isabella ist hier im Auftrag der rumänischen Regierung und wird für ihr Land auf den Mond reisen. Es ist ihr verboten, mit Nichtrumänen zu sprechen. Ebenfalls werde ich alles tun, damit dieses Verbot auch eingehalten wird. Sehen Sie sich also vor.«
Jan glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Sie wollen mir drohen, nur weil ich ihr rumänisches Staatseigentum angesehen habe?«
»Ich drohe Ihnen nicht, ich informiere Sie nur über die Fakten«, sagte Gheorghe mit einem undeutbaren Lächeln. »Sie können dann selbst über die Konsequenzen nachdenken, wenn Sie Zeit haben. Halten Sie sich einfach von Isabella fern.«
Später, als alle Bewerber ihre Anzüge ausgewählt hatten, rief Homer Sherman die Gruppe noch einmal zusammen. »Ich werde nun Zettel mit Nummern verteilen. Ihr werdet auf zehn Gruppen zu je fünf Personen aufgeteilt und in isolierte Wartebereiche gebracht. Wie ihr euch auf die anstehende Prüfung vorbereitet, ist eure Sache. Versucht, euch zu entspannen.«
Jan faltete seinen Zettel sofort auseinander und sah, dass er in Gruppe sechs war. Anschließend wurden die Gruppen der Reihe nach aufgerufen und zum Ausgang gebeten. Als seine Gruppe an die Reihe kam, traf Jan am Ausgang mit Pelle Larsson, dem Japaner Tako Takoshi, dem Engländer Jon Hobson und - was ihn besonders freute - mit Isabella Grimadiu zusammen.
Noch bevor eine NASA-Angestellte sie hinausführen konnte, erschien Gheorghe Papu und bestand darauf, diese Gruppe begleiten zu können. Andernfalls würde er Isabella mitnehmen.
Homer Sherman bemerkte den Tumult und kam nun ebenfalls zum Ausgang. »Herr Papu, wir haben es bisher toleriert, dass Sie die Bewerberin Grimadiu auf Schritt und Tritt begleiten und sie von allem abschirmen. Unsere Geduld endet genau jetzt und hier. Diese Gruppe von fünf jungen Bewerbern wird nun eine Vorbereitungszeit bekommen, die sie auch dringend benötigt. Jeder wird genau dieselben Voraussetzungen haben und Sie werden sich da heraushalten.«
»Ich bin von der rumänischen Regierung ermächtigt und beauftragt, Grimadius Sicherheit in jeglicher Hinsicht und jederzeit zu gewährleisten«, beharrte Gheorghe. »Sie dürfen mich nicht an der Ausübung meines Auftrags hindern. Tun Sie es doch, haben Sie mit den Konsequenzen zu leben.«
Homer Sherman schenkte ihm einen spöttischen Blick. »Welche Konsequenzen sollten das wohl sein? Ich kann Leute wie Sie nicht ausstehen, Papu. Die Ermächtigung durch Ihre Regierung können Sie sich einrahmen lassen. Sie werden die Gruppe nicht begleiten und Sie werden auch nicht Grimadiu mitnehmen - es sein denn, die junge Dame möchte das.«
»Isabella, komm mit!«, forderte Gheorghe. »du begleitest diese Leute nicht, ohne dass ich dabei bin.«
Jan sah, wie Isabella mit sich rang.
»Gheorghe, das hier ist meine Chance«, sagte sie. »und die Chance für Rumänien, an etwas Großem teilzuhaben. Wenn ich jetzt nicht mit diesen Leuten gehe, bin ich draußen.«
Gheorghe blieb stur. »Dann bist du eben draußen. Ich habe meine Befehle.«
»Ich gehe nicht mit dir!«, sagte Isabella trotzig. »Diese Befehle sind doch idiotisch. Einerseits soll ich unbedingt für Rumänien ins All und dann willst du mich mitnehmen, nur weil du mich nicht begleiten kannst?«
Gheorghe wollte nach Isabellas Arm greifen, als Jan - ohne darüber nachzudenken - dazwischen ging. Mit beiden Händen hielt er Gheorghes Arm fest und verhinderte so, dass Gheorghe das Mädchen erreichen konnte, das nun weiter zurückwich. Allerdings war Jan kein Kampfsportler und so musste er erleben, von Gheorghe mit ein paar gezielten Schlägen zu Boden geschickt zu werden. Homer Sherman fackelte nicht lange und zog eine Pistole, die er stets bei sich trug, und richtete sie auf Gheorghe.
»Das reicht!«, brüllte er ihn an. »Ihre Aufenthaltsgenehmigung ist soeben abgelaufen, Papu.«
Mit einem Knurren ließ Gheorghe von Jan ab und wurde von den Sicherheitskräften festgenommen.
»Es ist noch nicht zu Ende!«, rief Gheorghe noch, als die Sicherheitskräfte ihn wegbrachten.
Homer Sherman steckte die Waffe wieder weg. »Ich hasse so etwas. Ich trage dieses Ding so ungern. Glücklicherweise hat er nicht gemerkt, dass ich sie noch nicht einmal geladen hatte.«
Er beugte sich zu Jan hinunter. »Bist du in Ordnung, Junge?«
»Es geht schon. Von mir aus können wir fahren.«
Isabella trat hinzu und half ihm auf die Beine. Es war das erste Mal, dass sie sich berührten und Jan hatte das Gefühl, einen elektrischen Schlag zu erhalten.
Sie hielt ein Papiertaschentuch in der Hand und hielt es ihm hin. »Du blutest aus der Nase. Lass es mich abtupfen.«
Jan genoss diese sanften Berührungen und war nicht in der Lage, etwas zu sagen. Anschließend wurden sie nach draußen geführt, wo bereits ein Kleinbus auf sie wartete. Isabella stieg zu Jan auf die hintere Bank und setzte sich neben ihn. »Warum hast du das getan?«
»Ich?«, fragte Jan. »Was habe ich denn getan? Dieser Kerl hat mich zusammengeschlagen.«
»Nein, ich meine, warum bist du eigentlich dazwischen gegangen? Die Sache ging dich doch überhaupt nichts an.«
Er sah Isabella an und sein Herz pochte wie wild. Er fürchtete, dass man es sehen könnte. »Ich fand es einfach unerträglich, wie er mit dir umgesprungen ist. Da habe ich nicht lange überlegt und gehandelt.«
»Das war gefährlich, Jan. Gheorghe ist vom rumänischen Geheimdienst und soll auf mich aufpassen. Trotzdem danke ich dir, dass du mich vor ihm beschützt hast.«
»Ein toller Beschützer bin ich«, sagte Jan sarkastisch. »den man sofort auf die Bretter schickt.«