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11. Feindliche Übernahme
11.4 Die neuen Herren der Akademie
Das Leben in der Akademie würde sich für deren Mitglieder drastisch ändern. War Major Ning Song noch vergleichsweise umgänglich, konnte man das von der Kommandeurin Lian Zhao nicht behaupten. Sie hatte gleich nach der Inbesitznahme der Station alle UNO-Mitglieder in den Versammlungssaal treiben lassen und hielt vor ihnen ihre Antrittsrede.
»Meine Damen und Herren«, begann sie. »Ich bin ihre neue Kommandeurin und mein Name lautet Lian Zhao. Ich befehlige den Truppenteil der chinesischen Volksarmee, der diese Station in Besitz genommen hat, sowie unsere Basisstation. Mir ist bekannt, dass sie alle in der Vergangenheit durch ihre Hilfe den Bau und die Betriebsaufnahme unserer Mondbasis erst möglich gemacht haben. Dafür dankt ihnen das chinesische Volk. Ich gehe davon aus, dass sie auch in Zukunft unter meiner Leitung gute Arbeit leisten, und uns unterstützen werden. Dann wird sich für sie und ihre Arbeit nicht viel ändern – nur, dass sie ihre Befehle nicht mehr von Dr. Kupharhti oder dem UNO-Hauptquartier erhalten werden, sondern von mir oder Major Song, wenn ich nicht hier bin. Haben Sie Fragen?«
»Sie haben die Akademie in einem kriegerischen Akt an sich gerissen«, warf Irina Onotova ihr vor. »Wie können sie davon ausgehen, dass wir ihnen helfen werden, die Einrichtungen dieser Station zu benutzen?«
Lian Zhao sah Irina durchdringend an. Ein ausdrucksloses Lächeln prägte ihr Gesicht. »Irina Onotova, wenn ich nicht irre. Sie werden uns unterstützen, weil sie überhaupt keine andere Wahl haben. Ich bitte nicht um ihre Hilfe, ich befehle, dass sie meine Anweisungen ausführen. Im Moment gilt auf dem Mond das Kriegsrecht, bis sich die Lage normalisiert hat, und die übrigen Staaten auf der Erde akzeptiert haben, dass der Mond nun Territorium Chinas ist. Ich brauche sicher nicht darauf hinzuweisen, dass meine Männer jeden meiner Befehle notfalls mit der Waffe durchsetzen werden.«
»Trotzdem verstehen wir nicht, was sie sich davon versprechen, uns festzuhalten und zur Mitarbeit zu zwingen«, sagte Irina wieder. »Der Mond ist lebensfeindlich. Es gibt keine Atemluft und kein Wasser. Alles, was wir brauchen, muss von der Erde herantransportiert werden. Der Betrieb einer Station wie der Akademie oder auch ihrer eigenen Station kostet riesige Summen. Was nutzt ihnen der Mond bei ihrem Bevölkerungsproblem?«
»China ist ein aufstrebendes Land«, sagte Lian Zhao stolz. »Finanzielle Mittel spielen keine Rolle. Wir werden ausgedehnte sublunare Städte schaffen, in denen Millionen von Menschen leben werden. Wir werden unsere Atemluft über hydroponische Farmen selbst herstellen, ebenso unsere Nahrung. Wer weiß, vielleicht wird es sogar Industrie geben, aber das spielt im Augenblick keine Rolle.«
»Das sind doch Hirngespinste«, entfuhr es Dr. Kupharhti. »Niemals wird die irdische Staatengemeinschaft akzeptieren, was hier abläuft. Wenn sich die erste Überraschung gelegt hat, wird man sich überlegen, wie man sie von hier vertreiben kann.«
»Halten sie den Mund!«, befahl Lina Zhao schroff. »Oder ich lass sie einsperren! Bis man auf der Erde eine Entscheidung getroffen hat, sind wir hier auf dem Mond so gut befestigt, dass wir jedes angreifende Schiff abschießen können. Finden Sie sich damit ab, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist.«
»Trotzdem sind sie von den Materiallieferungen der Erde abhängig«, warf ein weiterer Sprecher ein. »Wie wollen sie verhindern, dass man diese Lieferungen unterbindet?«
»China besitzt inzwischen mehrere asiatische Frachtlinien, die unseren Bedarf decken werden. Wir sind nicht mehr abhängig von den Dienstleistungen anderer Staaten.«
»Dann wird man ihre Frachter so blockieren, dass sie nicht zum Mond fliegen können. Warten sie nur ab!«
Lian Zhaos Blick wurde noch eine Spur kälter. »Sie übersehen, dass wir über eine beachtliche Zahl internationaler Geiseln verfügen. Außerdem ist China seit Langem eine Atommacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man auf der Erde ihr wertvolles Leben gefährdet sehen möchte, oder einen atomaren Krieg riskieren würde. Der Mond ist de facto chinesisches Staatsgebiet. Sie haben das Recht, sich uns anzuschließen, oder es zu lassen. In jedem Falle jedoch werden sie für uns arbeiten, ob es ihnen gefällt oder nicht. Gehen Sie jetzt zurück in ihre Unterkünfte. Ich gestatte nur, heute Abend die Kantine aufzusuchen, sonst werden sie bis morgen in den Quartieren bleiben, bis ich über ihren weiteren Einsatz entschieden habe.«
Der Versammlungssaal leerte sich allmählich, doch als Irina und Dr. Kupharhti gehen wollten, hielt Lian Zhao sie zurück. »Sie muss ich noch sprechen. Mir wurde berichtet, dass in keinem einzigen der Hangars eine Landefähre zu finden ist. Wo sind diese Fluggeräte geblieben? Nach meinen Informationen gehören sie fest zum Inventar der Akademie.«
»Glauben sie, wir machen es ihnen so leicht?«, fragte Kupharhti. »Selbstverständlich haben wir sie fortgeschickt, damit sie ihnen nicht in die Hände fallen.«
Lian Zhao nickte. Sie hatte mit dieser Antwort gerechnet.
»In Ordnung, ich hätte an ihrer Stelle nicht anders gehandelt. Wir werden die Hangars also mit unseren eigenen Fähren füllen müssen. Aber was ist mit diesen Fahrzeugen, die sie Jumper nennen? Meine Leute haben mir berichtet, sie würden nicht funktionieren. Ich verlange, dass sie unverzüglich betriebsbereit gemacht werden.«
»Das wird nicht so einfach sein«, sagte Irina. »Die Jumper sind robuste Fluggeräte, die mit chemischem Treibstoff betrieben werden. Wir haben Ersatzteile für quasi alle Verschleißteile dieser Flieger. Also haben wir uns Gedanken gemacht, was wir zerstören müssen, um die Jumper zum einen unbrauchbar zu machen und das ohne Lieferungen von der Erde nicht repariert werden kann. Wir haben uns für den Verdichter entschieden. Dieses Teil versagt praktisch nie und deshalb besitzen wir nicht ein einziges Ersatzteil dafür. Bestellen sie es doch beim UNO-Hauptquartier!«
»Ihre Ironie können sie sich sparen, Irina Onotova«, sagte Lina Zhao. »Es ist für mich nur ärgerlich, dass sie wertvolles Ausrüstungsgut zerstört haben. Wir haben große Mengen an Raupenfahrzeugen, die tun es auch. Ich möchte sie nur warnen. Was sie vor unserem Eintreffen getan haben, ist die eine Sache, was sie ab jetzt tun eine andere. Wenn ab jetzt Ausrüstung zerstört wird oder verschwindet, wird der Verursacher vor ein Kriegsgericht gestellt. Sie wissen, wie wir in China mit Verrätern umgehen?«
Sie ließ ihre Drohung im Raum stehen und machte deutlich, dass das Gespräch damit beendet war.
Während sie zu ihren Quartieren gingen, kamen sie an kleinen Bullaugen in den Gängen vorbei, durch welche man einen Blick auf die Mondoberfläche werfen konnte. Der Anblick hatte sich in den wenigen Stunden seit Eintreffen der Chinesen dramatisch verändert. Unzählige, zum Teil gepanzerte Raupenfahrzeuge standen draußen, zwischen denen Männer in Raumanzügen der chinesischen Raumfahrtbehörde herumliefen. Einige der Fahrzeuge waren Transporter, die eilig entladen wurden. Dem Aussehen nach handelte es sich um Geschütze und deren Sockel. Man war offenbar bereits dabei, die Akademie in eine Festung zu verwandeln. Eines musste man diesen Männern lassen: Sie verloren keine Zeit. Ein bewaffneter Soldat stieß Irina mit der Waffe an und deutete ihr, weiterzugehen.
Den Rest des Weges gingen Irina und Kupharhti schweigend. Sie dachte an Isabella, Jan und die übrige Gruppe. Hoffentlich hatten sie Area 17 erreicht und Hellfire sichergestellt. Sie war sicher, dass irgendwann auch Hilfe von der Erde eintreffen würde, doch war sie nicht sicher, ob eine effektive Abwehr der Chinesen eine Landung von Hilfstruppen nicht unmöglich machen würde. Hellfire war etwas anderes. Zwar war sie nur ein Prototyp und absolut unbewaffnet, doch war sie ungemein robust gebaut und könnte möglicherweise sogar den Geschützen der Chinesen widerstehen. Überhaupt war sie nicht sicher, ob ihre Feinde sich nicht verrechneten, wenn sie auf ballistische Geschütze bauten. Eine Explosion auf der Erde verursachte zerstörerische Druckwellen, die im All unter Umständen wirkungslos verpufften – jedenfalls hoffte sie, dass es so war. Ebenso hoffte sie auf das Überraschungsmoment, wenn Jan die Hellfire in einigen Tagen zum Einsatz brachte.