11. Feindliche Übernahme

11.5 Die unbewaffnete Waffe


Weder Jan, Isabella, noch einer der anderen konnte glauben, was auf den Bildschirmen zu sehen war. Jan hatte die GINA DACCELLI sehr nah an ihren simulierten Landepunkt herangebracht und Eva hatte ihre Teleskope ausgerichtet.
Dort, wo vorhin noch zerklüftete Felsspitzen gewesen waren, die eine Landung auf dem Mond an dieser Stelle unmöglich gemacht hätten, befand sich ein kleiner See kochenden Magmas. Das Felsgestein war komplett geschmolzen und man konnte genau erkennen, dass es in der Mitte noch kochte, während es am Rand bereits begann, sich zu verfestigen.
»Das kann ich einfach nicht glauben«, sagte Jan leise. »Solche Gewalten kann doch ein einfaches Triebwerk nicht entfachen.«
»Ihr habt es doch mit eigenen Augen gesehen«, erwiderte Sam. »Stufe 2 ist ein lupenreiner Plasmaantrieb. Aus diesem Grunde sollte er auch nur im offenen All eingesetzt werden. Über mehrere Hundert Meter hinweg hat er eine verheerende Wirkung auf jede Materie, die in seinen Abgasstrahl gerät. Dieser kleine See dort unten ist aus einer Entfernung von hundert Metern erzeugt worden und reicht sicherlich einige Meter tief ins Gestein. Selbst aus größerer Entfernung richtet der Abgasstrahl noch eine Menge Schaden an.«
»Wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass dieser Einsatz hier nicht nur ein einfacher Jungfernflug eines neuen Raumschiffs ist?«, fragte Pelle.
»Weil Sam uns gezeigt hat, dass dieses Schiff eine effektive Waffe ist«, sagte Isabella. »Ist es nicht so? Wir sollen mit diesem Schiff in den Kampf ziehen.«
Sam schwieg einen Moment, dann sprach er: »Ihr habt natürlich recht. China hat unrechtmäßig Anspruch auf den Mond erhoben, und inzwischen auch eine Menge an Kampfausrüstung hier stationiert. Es hat Anzeichen gegeben, aber man wollte es nicht wahrhaben. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass sie tatsächlich den gesamten Himmelskörper annektieren würden. Jetzt ist es fast zu spät, noch etwas dagegen zu unternehmen. Sie haben komplette Frachterlinien aufgekauft, die sie mit Waren beliefern. Sie besitzen Landefähren, sie haben Raupenfahrzeuge, sie haben Geschütze und sie haben vor allem jede Menge Menschen. Wie wir erfahren haben, sind sogar einige der Frachter mit Waffen ausgerüstet worden. Sie haben offenbar vor, diese Schiffe um den Mond kreisen zu lassen, um damit Landeunternehmen der anderen Staaten unmöglich zu machen. An dieser Stelle kommen wir ins Spiel. Wir besitzen ein leistungsfähiges Schiff, dessen Antrieb man als Waffe einsetzen kann, wenn man es geschickt anstellt.«
»Du meinst also, wir brauchen mit der GINA DACCELLI nur aufzutauchen und das Plasmatriebwerk zu zünden und die Chinesen werden freiwillig das Feld räumen?«, fragte Pelle. »Das kann nicht dein Ernst sein! Sie werden uns mit ihren Geschützen vom Himmel blasen! Da spiel ich nicht mit.«
»Eva, reich mir doch bitte mal den Ausdruck mit dem Foto der chinesischen Station!«, bat Sam. »Ich will euch was zeigen.«
Er strich den Ausdruck glatt und hängte ihn so auf, dass alle gut sehen konnten.
»Seht euch die Konstruktion der Station an«, sagte er. »In der Mitte ist die eigentliche Station mit den Unterkünften für die Besatzung, der Zentrale, den Labors und so weiter. Die Energieversorgung erfolgt über drei unabhängig arbeitende Atomreaktoren, die in einiger Entfernung von der Station installiert wurden, um die Strahlung für die Menschen gering zu halten. Die Station selbst sieht aus dem All wie ein großes Dreieck aus. Die Zuleitungen von den Reaktoren zur Station befinden sich in nur drei Metern Tiefe unter der Mondoberfläche – das wissen wir, da wir selbst bei der Installation der Energieversorgung geholfen haben. Zwischen den Schenkeln der Zuleitungen haben sie die Hangars für die Fahrzeuge sowie die Geschütztürme gebaut. Im Grunde können diese Geschütze nahezu jeden Punkt beschießen, aus welcher Richtung auch immer ein Feind kommen würde.«
»Und da sollen wir uns herantrauen?«, fragte Mari. »Das ist doch Selbstmord! Was würde es auch nützen? Ein Angriff auf diese Station hilft unseren Leuten in der Akademie nicht weiter.«
»Falsch!«, rief Sam. »Nur ein Angriff auf die Station wird sie ernsthaft in Schwierigkeiten bringen, denn ihre gesamte Kommunikation und der gesamte Warentransport läuft über diese Station.«
Sam ließ seine Worte einen Moment wirken. »Die chinesischen Landefähren sind nicht für eine Landung auf unbefestigtem Gelände geeignet. Sie benötigen ein Start- und Landegestell. Diese Dinger findet ihr hier ...« Er deutete auf mehrere Punkte in der Nähe der Hangars.
»Wir würden daher, wenn wir sie von ihrer Energieversorgung abschneiden könnten, und zudem ihre Landegestelle zerstören, sie komplett von ihrem Nachschub abschneiden.«
»Aber dazu müssten wir nah genug an unser Ziel herankommen«, wandte Jan ein. »Du hast selbst gesagt, dass sie jeden Punkt mit ihren Geschützen erreichen können.«
»Das ist richtig und deshalb fühlen sie sich auch so sicher. Doch habt ihr schon mal die Explosion einer ballistischen Granate im Vakuum gesehen? Es gibt eine Menge Splitter, aber eine Druckwelle, wie auf der Erde, bleibt aus.«
»Aber der Treffer selbst. Die Wucht des Aufschlags könnte uns vernichten«, sagte Eva.
»Eben nicht. Seht euch die Konstruktion der GINA DACCELLI an. Nur ein direkter Treffer, der uns rechtwinklig trifft, hat überhaupt eine Chance, uns gefährlich zu werden, und genau das werden wir nicht zulassen. Wir werden es mithilfe der Triebwerke verhindern. Der erste Angriff wird sie noch überraschen. Ich denke nicht, dass man dann bereits auf uns schießen wird. Anders ist es beim zweiten und dritten Mal. Da werden wir uns vorsehen müssen.«
»Du glaubst also, dass wir mit nur drei Angriffen diese Station ausschalten werden?«, fragte Isabella verständnislos.
»Na, ausschalten würde ich nicht sagen, aber dann wird ihnen die Energie für den Betrieb der Geschütztürme fehlen und wir können ein Landegestell nach dem anderen zerstören. Wir werden erst die Zuleitungen zum Kochen bringen und anschließend die Landegestelle, wobei wir uns erst auf die unbelegten Gestelle konzentrieren werden, weil dort nicht damit zu rechnen ist, dass Menschenleben zu schaden kommen.«
»Bevor wir solche Manöver korrekt fliegen können, müssen wir aber noch üben«, wandte Jan ein. »Nach nur einem einzigen Test würde ich mir nicht zutrauen, solche chirurgischen Aktionen auszuführen.«
»Jan, das erwartet auch niemand«, sagte Sam. »Wir werden sofort mit dem Training beginnen. Ich will, dass es auf der chinesischen Station so bald wie möglich dunkel wird.«