11. Feindliche Übernahme

11.6 Lian Zhao


Die Tage verstrichen und es zeichnete sich keine Lösung des Problems ab. Auf der Erde hatte die UNO eine offizielle Protestnote an die Chinesen gerichtet, die jedoch zurückgewiesen wurde. Es folgten endlose Stunden der Beratung, dem Schmieden von Plänen, die gleich verworfen wurden, da man sie nicht für durchführbar hielt.
Die Großmächte standen der Situation hilflos gegenüber. Ihre gesamte Kriegsmaschinerie war wertlos angesichts der Bedrohung durch chinesische Atomraketen. Einen solchen Krieg würde weder die USA noch Russland riskieren. Sämtliche, für das All taugliche Technologie war in erster Linie für den zivilen Einsatz gedacht und nicht geeignet, den Chinesen auf dem Mond Einhalt zu gebieten. China war der lachende Dritte, der im richtigen Augenblick gehandelt hatte, als niemand der anderen Staaten auch nur daran dachte, es könnte die Gefahr einer feindlichen Übernahme auf dem Mond bestehen. Nun war es geschehen und die Volksrepublik China war im Begriff, riesige Mengen an Kriegsmaterial auf den Mond zu schaffen. Die Akademie der UNO hatten sie bereits in Besitz genommen, die Stationen von Italien, USA und Südafrika würden folgen, sobald man genügend Truppen auf dem Mond stationiert hatte.
Obwohl China noch keine effektive Raumfahrtindustrie entwickelt hatte, war man clever genug gewesen, sich alles, was man für den Coup brauchte, im Ausland zusammenzukaufen. Und man hatte diese Geschäfte mit China gern gemacht, denn sie brachten viele Milliarden Gewinn.
Von all dem bekamen Dr. Kupharhti, Irina Onotova und alle anderen, die quasi als Gefangene Chinas fungierten, nichts mit. Sie waren von allen Informationsquellen abgeschnitten. Man erlaubte ihnen nur zu bestimmten Zeiten, ihre Quartiere zu verlassen – etwa, wenn die Mahlzeiten eingenommen wurden. Dabei wurden sie von Soldaten bewacht, die peinlich darauf achteten, dass die Akademieleute nicht zu viel miteinander sprachen. Nachrichten wurden nur noch flüsternd weitergetragen und die Situation gab zahlreichen Gerüchten Nahrung.
»Ob sie schon mit dem Schiff üben?«, flüsterte Irina Dr. Kupharhti zu. »Ich würde einiges dafür geben, Informationen zu bekommen.«
Dr. Kupharhti nahm einen Bissen von seinem Essen. Zumindest hatten ihre Besatzer die Qualität der Küche nicht verändert. Die Mahlzeiten waren nach wie vor schmackhaft und ausreichend.
Er blickte sich zu den Soldaten um, dann flüsterte er zurück: »Ich bin sicher, dass sie es tun. Wäre es nicht so, hätten die Chinesen schon längst Wind von der Sache bekommen, aber es sieht so aus, als wenn sie sich noch absolut sicher fühlen.«
»Es kann aber durchaus sein, dass sie die Gruppe abgefangen haben und sich genau aus diesem Grunde sicher fühlen. Ich darf gar nicht daran denken, dass sie das Schiff gefunden haben.«
»Hey, was redet ihr da?«, fuhr sie ein chinesischer Wachsoldat an und stieß Dr. Kupharhti seine Waffe schmerzhaft in den Rücken. »Ihr kommt mit! Dann könnt ihr der Kommandantin erzählen, was ihr zu sagen habt! Los hoch mit euch!«
Sie hatten keine Wahl und hoben ihre Hände, um dem Mann zu zeigen, dass von ihnen kein Widerstand zu erwarten war. Der junge Soldat war sichtlich erleichtert, als er erkannte, dass es offenbar keine Probleme geben würde. Er befolgte nur seine Befehle. Trotzdem hielt er seine Waffe auf sie gerichtet und ließ die beiden Wissenschaftler der Akademie vor sich herlaufen. Als sie Dr. Kupharhtis ehemaliges Büro betraten, saß Lian Zhao an seinem Schreibtisch und sah von den Unterlagen auf, die sie studierte.
»Was gibt es?«
»Kommandantin, diese beiden haben im Speisesaal miteinander geflüstert«, meldete der Soldat. »Sie wollten informiert werden.«
»Ah, ja«, sagte Lian Zhao und machte eine Bewegung mit der Hand. »Lassen sie die Zwei hier und warten vor der Tür, bis ich sie rufe.«
Als sie allein waren, wandte sich Lian Zhao ihnen zu. »Sie wussten doch, dass Gespräche untereinander während der Mahlzeiten verboten sind, oder etwa nicht?«
Irina und Kupharhti schwiegen.
Lian Zhao drehte sich zu einem Computer herum, der hinter ihr stand, und der nicht zur ursprünglichen Ausrüstung des Büros gehört hatte. Auf dem Monitor war der Speisesaal zu erkennen. Die meisten Tische waren noch von Akademiemitgliedern besetzt, die ihr Mittagessen einnahmen.
»Man mag uns Chinesen in der westlichen Welt noch immer belächeln«, sagte sie dann. »Aber wir haben auch eine Menge Fortschritte gemacht. Passen sie mal auf.«
Sie nahm einen Joystick in die Hand und steuerte damit die Kamera durch den Speisesaal. Nach kurzer Zeit hatte sie die leeren Stühle anvisiert, an denen sie noch vor wenigen Minuten gesessen hatten. Dann ließ sie die Aufnahme rückwärts laufen, denn sie konnten sehen, wie sie mit dem Soldaten rückwärts ihre Stühle ansteuerten und sich setzten. Sie sahen den Stoß mit der Waffe in Kupharhtis Rücken, und wie sich der Soldat dann entfernte. Lian Zhao fuhr mit der Kamera nah an ihre Köpfe heran und ließ die Aufnahme einige Male vor- und zurücklaufen. Schließlich hatte sie die Sequenz isoliert, in der sich ihre Lippen flüsternd bewegt hatten. Dann drückte sie eine Taste und wandte sich ihnen zu.
»Eine nette Spielerei, nicht wahr?«, sagte sie mit siegessicherem Lächeln. »Der gesamte Raum wird von unserem System vielschichtig überwacht und aufgezeichnet. Es wäre jetzt an der Zeit, mir freiwillig zu berichten, worüber sie vorhin gesprochen haben.«
»Es war nichts Besonderes«, meinte Irina. »Ich glaub, es war eine Bemerkung über das Essen. Oder war es das Wetter? Ich bin mir nicht mehr sicher ...«
Lian Zhao lächelte sie mit ausdruckslosem Gesicht an.
»Der Humor hat sie noch nicht verlassen, was? Wenn sich einer der Hangartechniker mit dem Koch unterhält – wobei auch das verboten gewesen wäre – würde ich das noch glauben, aber nicht wenn sie beide sich unterhalten. Überlegen sie doch bitte noch einmal genau, ob sie nicht ein anderes Gesprächsthema hatten. Es wär nicht nett, wenn ich feststellen müsste, dass ich angelogen worden bin.«
Irina und Kupharhti schwiegen.
Der Computer gab einen leisen Piepston von sich und Lian Zhao fuhr auf ihrem Sitz herum.
»Dann wollen wir mal sehen, was unsere Anlage herausfiltern konnte.«
Sie drückte eine Taste und die Szene auf dem Monitor lief in Echtzeit ab.
»... Schiff üben?«, klang es aus dem Computerlautsprecher. »... dafür geben ... Informationen ... k ommen.«
»... sicher, dass sie es ... sieht ... Grunde noch absolut sicher ...«
»... Genau aus diesem Grunde ... daran denken ... Schiff gefunden ...«
Sie wandte sich um.
»Bemerkungen über das Essen, was?«, fragte Lina Zhao spöttisch. »Ich kann durchaus zwei und zwei zusammenzählen. Leider haben sie wirklich sehr, sehr leise gesprochen, aber ich reime mir einfach mal Folgendes zusammen: Es gibt hier auf dem Mond noch irgendwo ein richtiges Raumschiff, das wir nicht gefunden haben. Ich gebe ihnen die Chance, mein Vertrauen zurückzugewinnen, indem sie mir verraten, um was für ein Raumschiff es sich handelt und wo es verborgen ist.«
»Das ist doch Unsinn«, meinte Kupharhti. »Sie wissen doch selbst, dass große Raumschiffe nicht auf dem Mond oder der Erde landen können, aber sie haben recht, dass wir über ein Raumschiff gesprochen haben. Wir machen uns nämlich noch immer Hoffnungen, dass unsere Leute mit einigen Raumschiffen kommen werden, um sie hier zu vertreiben. Sie würden im umgekehrten Fall nicht anders denken.«
»Da gebe ich ihnen durchaus recht«, sagte Lina Zhao. »Trotzdem glaube ich nicht, dass ausgerechnet sie beide sich mit solchen Gedanken befassen würden, wenn nicht etwas an der Sache dran wäre.«
Sie beugte sich nach hinten und ließ die Aufnahme noch einmal ablaufen. Konzentriert hörte sie auf jedes gesprochene Wort, das der Filter herausgearbeitet hatte.
»Schiff üben, Schiff gefunden«, murmelte sie, dann hellte sich ihre Miene auf.
»Reden Sie!«, forderte sie die beiden auf. »Oder muss ich sie erst unter verschärften Arrest stellen? Ihre Formulierungen deuten für mich eindeutig darauf hin, dass irgendwo ein richtiges Schiff verborgen ist. Vermutlich ein neuartiges Schiff, da man damit noch üben muss. Sie hatten hier doch eine Forschungsabteilung, nicht wahr?«
Irina und Kupharhti schwiegen noch immer.
»Wie sie wollen, dann werde ich sie so lange in Einzelhaft nehmen, bis sie bereit sind, zu reden. Ich muss ihnen leider ihre törichten Hoffnungen nehmen, man könnte uns mit einem Raumschiff vertreiben. In jeder Minute nimmt die Zahl der Geschütze zu, mit denen wir unsere Anlagen auf dem Mond schützen. Jeder Angriff kann bereits im Ansatz erkannt und abgewehrt werden. Selbst, wenn ihre Regierungen auf die Idee kommen sollten, an einer abgelegenen Stelle Truppen und Bodenfahrzeuge abzusetzen, wird das nicht gelingen. Unsere, zu fliegenden Festungen umgebauten, Frachter umkreisen den Mond ständig und würden solche Pläne erkennen. Den Rest würden unsere Bodengeschütze und die Festungen erledigen. Möchten sie vielleicht doch etwas erzählen?«
»Stecken sie uns doch in Einzelhaft, wenn es ihnen Spaß macht«, sagte Irina.
»Wache!«, brüllte Lian Zhao verärgert.
Als der Soldat erschien, gab sie ihm die Anweisung, die beiden getrennt in die vorbereiteten Zellen zu sperren.
Nachdem sie weg waren, lehnte sich Lian Zhao in ihrem Sitz zurück. Sie fragte sich, ob sie mit ihren Vermutungen richtig lag. Die Gesprächsfetzen waren nicht exakt auswertbar. Trotzdem war sie überzeugt davon, dass es etwas zu bedeuten hatte, wenn die Personen, die früher diese Einrichtung geleitet hatten, solche Worte benutzten. Bestand Gefahr für sie? Hatte die Akademie noch einen Trumpf im Ärmel? Was könnte das sein? Angenommen, sie hätten tatsächlich ein Raumschiff an einem verborgenen Ort. Wo sollte das sein? Die Schiffe des Kordons um den Mond hätten schon gemeldet, wenn die Kameras irgendwo ein Schiff entdeckt hätten. Sie spann den Faden weiter: Angenommen es gab ein solches Schiff, wer sollte es fliegen? Was könnte es der Akademie nutzen, wenn ein solches Schiff abhob und fortflog? Fragen über Fragen. Sie konnte nicht glauben, dass ihnen allen eine Flucht im großen Stil gelingen würde, noch dazu unbemerkt. Sie würde warten müssen, bis sie die beiden in ihrer Einzelhaft weich gekocht hatte.