12. Rettung?

12.7 Rettung?


Es war ein ereignisloser, langweiliger Flug zum Mond. Jan konnte sich nicht erinnern, wann er jemals so langsam zum Erdtrabanten geflogen war, aber er hatte keine andere Wahl. Er durfte die Triebwerke des Schiffes noch nicht so belasten, wie er es gern getan hätte. So verbrachten Jan und Isabella sehr viel Zeit in den Schlafnetzen ihrer Kabine. Jan hatte gemeint, dass man nie wisse, ob sie noch ausreichend Schlaf finden, wenn sie erst den Mond erreicht hätten.
Die Überwachungsgeräte würden jedes Ereignis melden, sodass sie nicht die ganze Zeit im Kommandostand bleiben mussten.
Nach sechs Tagen erreichten sie den Mondorbit und schwenkten in die Umlaufbahn ein.
»Hier GINA DACCELLI auf dem Weg von Orbiter 3 zum Mond«, meldete Isabella sich über Funk.
»Gut, dass Sie endlich da sind«, kam die Antwort. »Landen Sie direkt auf Landeposition 1 vor der Akademie und melden sich in der Verwaltung.«
»Was ist bei euch eigentlich los?«, fragte Isabella, doch die Gegenstelle hatte bereits abgeschaltet.
»Eigenartig«, meinte Jan und nahm einige Schaltungen vor. »Dann bringen wir das Baby mal auf den Boden.«
Die Landung war inzwischen ein Kinderspiel für Jan, der mit der Steuerung des Schiffes so vertraut war, als hätte er nie etwas anderes getan. Auf dem Boden angekommen, mussten sie erst noch ihre Raumanzüge anlegen, da sie die letzten Meter bis zur Akademie leider laufen mussten.
Als sie das Schiff an einem der Eckpunkte des Hexaeders verließen, wartete bereits Rick O'Hara mit einem Jumper auf sie.
»Was ist bei euch los?«, fragte Jan. »Erst gibt man uns Urlaub, der vorzeitig widerrufen wird, dann werden wir wortkarg zur Landung aufgefordert. Kannst du uns das erklären, Rick?«
»Was soll ich sagen, bei uns brennt es. Nahezu alle Aktiven sind entweder fort und auf Missionen oder sind krank. Wir können nicht für alle Arbeiten Schüler heranziehen, das wisst Ihr.«
»Rick, mach mal 'nen Punkt!«, ereiferte sich Jan. »Wie war es denn, als wir noch Studenten der Akademie waren? Für jeden Quatsch mussten wir da ran. Erzähl mir nicht, die Studenten von heute wären schlechter, als wir damals.«
»Natürlich sind sie nicht schlechter. Aber es war auch damals nicht in Ordnung, Schüler zu Arbeiten heranzuziehen, die ein ausgebildeter Raumfahrer machen sollte. Wir brauchen euch dringend – und euer Schiff.«
In der Akademie erschien es ihnen ruhiger als sonst. Als sie einen Techniker fragten, sagte er, dass die Semesterferien begonnen hätten und die meisten Studenten sich auf dem Weg zur Erde befänden. Sie legten ihre Raumanzüge ab und machten sich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Unterwegs lief ihnen Dr. Kupharhti über den Weg.
»Gut, dass ich euch treffe. Ihr braucht euch hier gar nicht häuslich niederlassen. Ihr müsst unverzüglich starten.«
»Langsam reicht es mir!«, rief Isabella. »Wir haben es nicht verdient, dass wir dauernd herumgestoßen werden! Wir haben morgen einen Termin für unsere Trauung, Dr. Kupharhti.«
»Das muss warten!«, sagte er. »Es ist ein Notfall eingetreten!«
»Was für ein Notfall?«
»Wir haben einen Notruf aufgefangen. Ein Schiff ist manövrierunfähig geworden und treibt nun steuerlos in einer Entfernung von etwa vierhunderttausend Kilometern im All. Abgesehen davon, dass die Besatzung gerettet werden muss, ist auch das Schiff selbst eine Gefahr für andere Schiffe.«
»Um welches Schiff handelt es sich?«, fragte Isabella.
»Es ist die GOLIATH 1, unser größtes und neustes Schiff.«
»Die GOLIATH 1?«, fragte Jan entgeistert. »Ist das nicht Giovanni Saltos Schiff? Was ist dort passiert?«
»Wir wissen es nicht. Die Verbindung ist abgerissen und sie reagieren nicht mehr auf unsere Rufe.«
»Verdammt!«, sagte Jan. »Wir starten sofort. Aber warum habt Ihr nicht schon Selma, Pelle, Maurice oder sonst wen dort hingeschickt?«
»Die sind alle nicht verfügbar. Ihr seid die Einzigen. Bitte beeilt euch, und ich hätte noch eine Bitte: Nehmt mich mit.«
»Sie wollen mit?«, fragte Isabella verblüfft. »Wie kommt das? Sie bleiben doch sonst lieber in der Station.«
»Ich möchte einfach dabei sein, wenn Ihr die GOLIATH 1 untersucht.«
»In Ordnung, dann kommen Sie mal mit, Dr. Kupharhti«, sagte Isabella. »Wir legen die Anzüge an und lassen uns von Rick zum Schiff fliegen.«
Die Prozedur des Anlegens der Raumanzüge war immer wieder zeitraubend und lästig. Jan und Isabella waren dabei noch recht geübt, doch Dr. Kupharhti hatte seit Langem keinen solchen Anzug mehr getragen und stellte sich äußerst ungeschickt an. Jan fragte sich, warum er wirklich mitkommen wollte. Wollte er sie kontrollieren? Er verstand es nicht, und wenn er Isabella ansah, konnte er erkennen, dass auch sie nicht wusste, was sie davon halten sollte.
Rick O'Hara flog sie hinaus zum Schiff, und als sie alle sich im Gang hinter dem Einstieg befanden, sah Jan, dass auch Rick hinter ihnen her geklettert war.
»Rick, was tust du?«, fragte Jan. »Wir werden gleich starten.«
»Das geht in Ordnung«, sagte Dr. Kupharhti. »Ich hab ihn gebeten, uns zu begleiten, da wir nicht wissen, was wir an unserem Ziel vorfinden werden.«
Jan ließ es unkommentiert und lief voran zur Kommandozentrale. Dort angekommen wies er seine Passagiere an, die Raumanzüge nicht abzulegen und sich auf den Sesseln festzuschnallen.
»Die GINA DACCELLI ist wieder voll einsatzfähig«, kommentierte Jan. »Wir werden daher mit voller Leistung unser Ziel ansteuern. Wenn es wirklich ein schwerwiegendes Problem auf der GOLIATH 1 gibt, möchte ich keine Zeit mit dem erneuten Anlegen der Anzüge vergeuden.«
Jan machte das Schiff startklar, während Isabella erst die Gurte der Passagiere kontrollierte und danach versuchte, eine Funkverbindung zur GOLIATH 1 zu bekommen – leider ohne Erfolg.
»Bring uns hin, Jan«, sagte sie. »Da stimmt wirklich was nicht.«
Jan ließ das Schiff zunächst senkrecht steigen und zwang es dann in eine Kurve, die es unweigerlich in eine stabile Umlaufbahn bringen würde. Das Ziel war bereits in den Computer eingegeben, die Richtung lag somit fest. Jan begann, das Schiff zu beschleunigen. Nach den endlosen Tagen der Schleichfahrt fand er es angenehm, die Kraft zu spüren, die von den Korpuskularprojektoren erzeugt wurde. Erst, als das Triebwerk sein Maximum erreicht hatte, schaltete er um auf das Plasmatriebwerk. Die Passagiere hatten das Gefühl, als wenn sie von einer Kanone abgefeuert worden wären. Isabella hörte ein Ächzen aus der hinteren Reihe, konnte sich aber nicht umdrehen, da auch sie mit dem Mehrfachen ihres Gewichts in die Polster des Sessels gedrückt wurde.
Jan ließ die Triebwerke bis zur Hälfte der Strecke feuern und schaltete dann um auf Bremsschub. Trotz der ungeheuren Beschleunigung dauerte der Flug mehrere Stunden. Dr. Kupharhti und auch Rick O'Hara waren völlig erschöpft, als Jan bekannt gab, dass die GOLIATH 1 direkt vor ihnen im All liege.
»Es ist, als wäre sie völlig tot«, meinte Isabella. »Sie antworten noch immer nicht. Wir werden uns dort persönlich umsehen müssen.«
Jan nickte nachdenklich. »Das fürchte ich auch.«
Er wandte sich an die beiden Passagiere. »Bitte schließen Sie Ihre Helme und aktivieren die Versorgungssysteme. Wir werden nun zu einer der Schleusen laufen und von dort zur GOLIATH 1 hinüberspringen.«
»Mein Gott, und wenn wir das Ziel verfehlen?«, fragte Kupharhti.
»Dieses Riesenschiff werden wir nicht verfehlen«, sagte Isabella. »Aber Sie können sich beruhigen. Wir feuern ein Seil ab, das sich mit einem starken Magneten drüben verankert. Wir können uns dann an diesem Seil entlang bewegen.«
Sie liefen zu der, dem anderen Schiff am nächsten gelegenen Ecke und schufen eine Kabelverbindung zwischen den Schiffen. Erst setzte Isabella über, dann Kupharhti und O'Hara, und zuletzt Jan. Das große, unbeleuchtete Schiff kam ihm unheimlich vor. Er fühlte sich unbehaglich, es gleich zu untersuchen. Er musste sich eingestehen, dass er Angst vor dem hatte, was er dort vorfinden könnte.
Die Hülle des Frachters war mit Griffen übersät, an denen sie sich festhalten konnten. Jan wusste, wo er eine Personenschleuse finden konnte, die man auch manuell bedienen konnte. Als er an der Außenhülle entlang blickte, bemerkte er eine Bewegung.
Wenn man ganz genau hinsah, konnte man erkennen, dass sich der breite Ring, der den Frachter umgab, langsam drehte. Also war das Schiff nicht ganz tot, sonst hätte die Rotation der Personenzelle irgendwann aufhören müssen.
Isabella bemerkte ebenfalls, was Jan entdeckt hatte. »Lass uns nachsehen. Es macht keinen Sinn, hier draußen zu rätseln, was drinnen vorgefallen ist.«
Sie erreichten eine kleine Schleuse und Jan drehte den Verschluss so, dass man die Luke öffnen konnte. Nacheinander zwängten sie sich in die Enge des dahinter liegenden Raumes. Sie passten soeben alle in die Schleuse hinein. Isabella verschloss die Luke wieder, anschließend ließ Jan über ein Ventil Luft aus dem Innern des Schiffes in die Schleuse strömen. Als sein Druckmesser anzeigte, dass Normaldruck in der Schleuse vorhanden war, öffnete er seinen Helm und nahm ein paar tiefe Züge der frischen Luft. Dann machte er den anderen ein Zeichen, ebenfalls ihre Helme abzunehmen. Isabella öffnete die innere Schleusenluke.
Der Gang dahinter war absolut dunkel.
»Ist ihnen die Energie ausgegangen?«, wunderte sich Jan. »Das ist kaum zu verstehen bei einem Schiff, das über einen Atomreaktor verfügt.«
Er leuchtete mit einer Handlampe den Gang hinunter. Er war absolut leer.
»Wir müssen zur Personenzelle, also in den rotierenden Teil«, sagte Jan.
Sie machten sich auf den Weg. Der Zugang zur Personenzelle befand sich im Zentrum des Schiffes, wo es eine Schleuse gab, die sich zwar ebenfalls drehte, die jedoch einen bequemen Zugang darstellte. Im Zentrum des Schiffes herrschte Schwerelosigkeit. Es erschwerte ihren Weg, dass die Beleuchtung im Schiff ausgefallen war. Die Beleuchtung aus den Handlampen erzeugte gespenstische Effekte. Endlich fanden sie den Zugang. Isabella leuchtete hinein. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber es war darin genauso dunkel wie überall sonst im Schiff.
An der Wand befand sich eine Metallleiter, die nach unten führte, wieder zur Außenhaut des Schiffes. Dort unten müsste die Rotation wieder für Gewicht sorgen. Jan deutete nach unten und begann, an der Leiter entlang nach unten zu gleiten. Die Anderen folgten ihm. Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, hatten sie das Gefühl, ihr Gewicht würde sich erhöhen. Nach einigen Minuten hatte Jan den Boden erreicht und teilte dies den Anderen mit:
»Vorsicht, ich bin unten.«
»Und? Siehst du was?«
Jan leuchtete mit der Lampe in jede Richtung, doch er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken.
Die Anderen kamen nach und nach ebenfalls unten an und gesellten sich zu ihm.
»Ich finde das gruselig«, sagte Isabella. »Wir müssen doch irgendwann auf Menschen stoßen.«
»Wir durchsuchen jetzt systematisch diesen Bereich«, schlug Jan vor. »Wir bleiben zusammen und leuchten gründlich in jede Ecke.«
So liefen sie los und waren nach einer halben Stunde reichlich entnervt. Die ersten Lampen ließen in ihrer Leuchtkraft nach.
»Jetzt stellt sich auch noch heraus, dass die Akkus nicht voll waren«, meinte O'Hara. »Was machen wir, wenn uns jetzt auch noch das Licht ausgeht?«
»Wir haben auch noch Licht an den Anzügen«, sagte Isabella. »Das ist zwar ein reines Arbeitslicht, aber es ist besser als Nichts.«
Auf einmal hörten sie ein Geräusch, als wenn eine Tür zugeschlagen worden wäre.
»Habt Ihr das auch gehört?«, fragte Jan.
»Wir haben das alle gehört«, antwortete Isabella und leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Am Ende der Halle, in der sie sich befanden, war eine schwere Metalltür. Offenbar war sie zugefallen. Doch warum schlug eine schwere Tür ohne das Zutun eines Menschen einfach zu? Sie liefen zu der Tür hinüber und zogen sie auf. Dahinter befand sich ein eben so dunkler Raum, wie der, in dem sie vorher waren. Nacheinander betraten sie den nächsten Raum. Die Tür fiel hinter ihnen knallend ins Schloss.
Im nächsten Moment schlossen sie geblendet die Augen, als das Licht aufflammte. Tränen schossen ihnen in die Augen und für einen Moment konnten sie nichts erkennen. Doch dann gewöhnten sich ihre Augen an das helle Licht.
Überall an den Decken hingen Lampions und Girlanden. Auf großen Tischen, die mitten im Raum standen, waren Speisen und Getränke angerichtet. Eine Musikanlage war auf einer kleinen Bühne aufgebaut.
Jan und Isabella blickten sich ungläubig um.
»Verdammt noch mal, was ist hier los?«, fragte Jan und drehte sich zu Dr. Kupharhti um, der ihn breit angrinste. Er hob seine Arme und klatschte dreimal laut in die Hände.
Zahlreiche Türen führten aus diesem Raum hinaus. Alle diese Türen öffneten sich nun und Menschen strömten in den Raum hinein – allen voran Homer Sherman mit den Lückerts und Grimadius.
Sowohl Jan als auch Isabella standen wie vom Donner gerührt. Alle waren sie da: ihre Eltern, Homer, Pelle, Maria Sanchez, Selma Horec, Giovanni Salto. Sogar Carl Feininger und Lisa Ramirez von der Moonshuttle-1 waren gekommen. Viele ihrer Kommilitonen aus dem Studium sowie unzählige Studenten.
»Was soll das werden?«, fragte Isabella. »Ich dachte, hier gibt es ein Problem. Was sollte der Notruf?«
»Oh, der Notruf war frei erfunden«, sagte Dr. Kupharhti. »Er sollte nur dazu dienen, euch zu motivieren, hierher zu fliegen.«
»Glaubt Ihr etwa, wir würden es einfach übergehen, wenn zwei Menschen aus unserem Kreis heiraten wollen?«, fragte Homer. »Seid Ihr bereit? Wir haben Giovanni Salto hier, er ist der Kapitän dieses Schiffes. Ich habe mich schlaugemacht – es ist wie früher auf der Erde: Er ist berechtigt, Ehen zu schließen.«