13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.19 Entwarnung

»Sind das die Leute, die für die ganze Schweinerei verantwortlich sind?«, fragte er. »Dann will ich Ihnen gleich sagen, dass ich alles tun werde, um sie hinter Gitter zu bringen.«
»Schatz, lass sie«, sagte Isabella. »Die Hauptverantwortlichen sind tot. Diese beiden, Hagen und Sabina, sind eher dafür verantwortlich, dass die Sache doch noch glimpflich ausgegangen ist. Sicher, sie sind Piraten, aber sie haben sich uns gegenüber sehr korrekt verhalten. Besonders die Besonnenheit Hagens hat uns sehr geholfen.«
Jan konnte nicht verstehen, dass ausgerechnet Isabella diese Leute auch noch in Schutz nahm, aber er akzeptierte es fürs Erste. Er wandte sich an alle:
»Wollt Ihr sehen, was geschehen ist, während Ihr in der Schleuse gesteckt habt?«
»Sicher«, sagte Pelle. »Spiel uns die Aufnahme mal vor.«
Gebannt sahen sie zu, wie sie aus der JEAN SIBELIUS herausgeschossen kamen und wie der Schlitten mit allen Personen auf die FREELANCER zukam. Dann fiel das Schiff zurück. Die FREELANCER musste mit ungeheuren Werten beschleunigt haben. Dann blitzte es auf und eine kleine Sonne stand für einige Sekunden im All. Völlig unspektakulär fiel diese Sonne in sich zusammen und verschwand schließlich. Nicht einmal Trümmerteile drangen bis zur FREELANCER vor.
»Das war sie also, die JEAN SIBELIUS«, sagte Isabella. »Mein erstes eigenes Schiff. Welch ein trauriges Ende.«
Mit dem Handrücken wischte sie eine Träne fort, die sie im Augenwinkel hatte.
»Wir haben nie gewollt, dass es so endet«, sagte Hagen.
»Ach hören Sie doch auf, verdammt noch mal!«, ereiferte sich Jan. »Sie haben das Schiff meiner Frau überfallen und wollten es ausrauben. Sie haben doch billigend in Kauf genommen, dass es zu Verletzten und Toten kommen kann. Es ist doch ein Wunder, dass wir die Besatzung unversehrt retten konnten.«
»Jetzt spielen Sie nicht den Moralapostel!«, konterte Hagen. »Ich hab nie abgestritten, dass ich als Pirat das Schiff Ihrer Frau angegriffen habe. Ich war schon immer so eine Art von Glücksritter und Söldner. Es ist das, was ich am besten kann. Aber ich kann auch genau beurteilen, wie hoch das Risiko eines Angriffs auf ein ziviles Schiff ist. Mir war von Anfang an klar, dass ich es schaffen konnte, die JEAN SIBELIUS unblutig zu entern. Genau so ist es dann auch gekommen. Niemand von uns hat die Besatzung angerührt. Zu guter Letzt waren es Sabina und ich, die Ihren Leuten die Informationen zugespielt haben, die sie benötigten, uns alle zu retten. Ich will jetzt nicht sagen, dass wir unschuldig sind, aber wir sind auch nicht die Monster, die Sie in uns sehen wollen.«
»Er hat recht«, sagte Isabella. »Zuletzt standen beide auf unserer Seite. Ich weiß nicht, was London mit uns noch angestellt hätte, wenn Hagen nicht gewesen wäre und London abgelenkt hätte, während Sabina gemorst hat.«
»Sie waren das?«, fragte Jan verblüfft.
Sabina nickte und lehnte sich an Hagen, der schützend einen Arm um sie legte.
»Ich erwarte ja nicht, dass wir Freunde werden«, sagte Hagen. »Aber könnten wir uns darauf einigen, dass wir für den Rest der Reise zur Erde wie normale Besatzungsmitglieder behandelt werden?«
Er reichte Jan seine Hand.
»Was meint Ihr?«, fragte Jan in die Runde. Als von überall nur Zustimmung kam, ergriff er Hagens Hand. »Einverstanden, für den Rest der Reise.«
Sie waren weit draußen im All, der Flug zurück zur Erde nahm einige Zeit in Anspruch. Jan bemühte sich um eine Funkverbindung und erhielt nach einigen Versuchen Kontakt zur Station der Mondakademie, die noch immer über die stärksten Sendeanlagen verfügte. Er schilderte die Rettung der Besatzung der JEAN SIBELIUS und anschließende Vernichtung des Schiffes. Die wertvolle Ladung sei in alle Richtungen zerstreut.
Als die Verbindung beendet war, fragte Hagen: »Warum haben Sie nichts davon erzählt, dass sie Gefangene an Bord haben?«
»Sind Sie Gefangener?«, fragte Jan. »Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass sie Besatzungsmitglied sind?«
Hagen blickte ihn fragend an.
»Ich habe inzwischen viel nachgedacht, Hagen – ich darf doch Hagen sagen? Sie haben die Seiten gewechselt. Niemand von unseren Leuten ist zu Schaden gekommen. Selbst Lech, der Navigator, hat die Entscheidungen der Schiffsleitung der BLACK BOTTOM nie wirklich mitgetragen. Wir sind noch eine Weile unterwegs. Ich mache euch einen Vorschlag: Bis wir in die Reichweite des normalen irdischen Schiffsverkehrs kommen, bleibt uns noch etwas Zeit. Bis dahin wird Eduardo Lorca auch Lech so weit haben, dass er wieder fit ist. Niemand weiß von euch. Auf dem Mond weiß man lediglich, dass sowohl die BLACK BOTTOM, als auch die JEAN SIBELIUS nicht mehr existieren. Wir können euch einen Schlitten mit etwas Ausrüstung zur Verfügung stellen und euch damit ziehen lassen. Ihr müsst uns nur sagen, wo das geschehen soll.«
Hagen war sprachlos. Sabinas Augen leuchteten, als sie das hörte.
»Sie wollen uns tatsächlich freilassen?«, fragte sie. Sie strahlte Hagen an. »Schatz, wir dürfen noch einmal ganz neu anfangen.«
Dann fiel sie Jan um den Hals und küsste ihn. Er war davon völlig überrumpelt. Diese Frau war ein Wirbelwind und so ganz anders, als der ruhige Hagen. Trotzdem konnte niemand übersehen, dass diese beiden zueinandergefunden hatten. Jans Wut war inzwischen vollkommen verraucht und er würde es nicht übers Herz bringen, diese Leute ins Gefängnis zu bringen, die sich so bedingungslos in ihr Schicksal ergeben hatten.
Isabella sah lächelnd zu, wie ihr Mann vergeblich versuchte, sich Sabina zu erwehren. Sie ertappte sich dabei, wie sie mit der Hand über ihren Bauch fuhr und ihr Lächeln vertiefte sich. Eduardo Lorca hatte sie vor wenigen Stunden noch einmal untersucht. Er hatte gemeint, dass die Ereignisse der letzten Tage nicht gerade förderlich für ungeborenes Leben gewesen seien und es könne nicht schaden, ihren Zustand noch einmal zu überprüfen. Nach der Untersuchung hatte er ihr gratuliert – ihre Schwangerschaft war noch immer vollkommen in Ordnung. Nur, ihr Mann wusste noch immer nichts davon.
Als sie die Marsbahn erreichten, stellten sie fest, dass sie den Planeten in sehr geringer Entfernung passieren würden.
»Jan, Sabina, Lech und ich würden gern auf den Angebot zurückkommen und euch verlassen«, sagte Hagen.
»Was? Hier?«, fragte Jan verständnislos. »Du weißt, dass wir euch nur einen Schlitten zur Verfügung stellen können. Wo wollt Ihr hin?«
Hagen grinste. »Keine Sorge, mir ist schon klar, dass ich mit dem Schlitten keine Chance habe, auf einem Planeten zu landen. Wir wollen auch nicht auf den Mars, wir wollen nur den Marsmond Phobos anfliegen. Der ist klein genug und hat keine Atmosphäre. Aber ich weiß, dass es auf Phobos eine Station der autonomen Raumfahrer gibt. Dort kann ich ein Beiboot bekommen, mit dem wir zur Erde gelangen können.«
»Sie werden euch nichts schenken«, wandte Jan ein. »Wie wollt Ihr ein Beiboot finanzieren?«
Wortlos griff Hagen in seine Tasche und zog drei große, lupenreine Kristalle hervor.
»Ich gebe zu, ich habe sie gestohlen, als wir die JEAN SIBELIUS geentert haben. Es sind Speicherkristalle von hervorragender Qualität und Kapazität. Dafür können wir uns zumindest ein Fahrzeug mieten – wahrscheinlich sogar erwerben.«
Jan lachte. »Ihr seid unverbesserlich!«
»Nein, wir werden wirklich neu anfangen. Dies wird unsere letzte Aktion aus illegalen Geschäften sein. Wir werden es beweisen. Wenn wir Fuß gefasst haben, werden wir uns vielleicht eines Tages mit dir in Verbindung setzen.«
Sie begaben sich in die Ausrüstungskammer und legten neue Raumanzüge an. Pelle und Sean bereiteten einen neuen Schlitten vor und kurze Zeit später war es Zeit für den Abschied. Die früheren Gegner wurden verabschiedet wie alte Freunde. Isabella gab ihnen noch die besten Wünsche mit auf den Weg, dann stiegen die Drei auf den Schlitten und Lech übernahm das Steuer. Der Schlitten verließ die Schleuse und wurde schnell kleiner. Jan schloss die Schleuse und sie kehrten in die Zentrale zurück. Nun waren sie wieder unter sich. Irgendwie vermissten sie den ruhigen Hagen und seine Freundin Sabina sowie den zurückhaltenden Lech. Jan war gespannt, ob er sie jemals wiedersehen würde.
Er vergewisserte sich, ob die Systeme alle einwandfrei liefen. Eine große Müdigkeit überkam ihn. Lange hatte er unter großer Anspannung gestanden. Jetzt war es vorbei. Isabella kannte ihren Mann – sie sah, wie müde er war und zog ihn am Ärmel.
»Du hast doch hier sicher auch eine Kabine, in die wir uns zurückziehen können, oder?«
»Sicher.«
»Dann lass die anderen ein wenig Pilot spielen und uns in deine Kabine gehen«, schlug sie vor. »Wir waren so lange nicht mehr allein.«
Renata, die das Gespräch mitbekommen hatte, grinste unverschämt.
Jan führte Isabella zu seiner Kabine. Sie war nicht groß, aber ausreichend auch für zwei Personen.
Jan nahm seine Frau in den Arm und küsste sie zärtlich.
»Endlich sind wir zwei einmal wieder allein«, sagte er.
Isabella schon ihn ein Stück weg.
»Was ist?«, fragte er.
»Wir werden nicht mehr all zu lange zu zweit allein sein«, sagte sie. »Du musst dich damit abfinden, dass wir bald zu dritt sein werden.«
Jan brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte, was Isabella da gesagt hatte, doch dann begann er, zu strahlen. Er schnappte Isabella und hob sie hoch.
»Wir werden Eltern!«, rief er immer wieder. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie blieben noch lange wach an diesem Abend und es war ihnen vollkommen egal, wer die FREELANCER in den heimatlichen Hafen steuern würde.