13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.18 Tod eines Piraten

»Sabina, was treibst du da?«, wollte London wissen. Seine Waffe richtete sich auf sie.
»Gar nichts, was sollte ich auch tun?«, fragte Sabina. »Die Anlagen hast du ja durch deine Schießerei endgültig ruiniert. Ich bin einfach nervös.«
»Erzähl nichts! Ich hab gesehen, wie du einen Schalter immer wieder gedrückt hast. Also, ich frage noch einmal: Was treibst du da?«
Bevor Sabina noch etwas sagen konnte, erfüllte auf einmal ein merkwürdiger, brandiger Geruch die Kabine.
»Hier kokelt irgendetwas«, sagte Danladi Swaso und schnüffelte herum.
London blickte sich suchend um, behielt aber seine Waffe im Anschlag. Zu erkennen war nichts. Er wandte sich wieder Sabina zu.
»Was hast du Schlampe gemacht? Ich spüre förmlich, dass du dahinter steckst. Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns trennen.«
Er hob seine Waffe. Hagen spürte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Panik. Er fühlte sich außerstande, etwas für Sabina zu tun.
In diesem Augenblick erfüllte ein pfeifendes Zischen die Zentrale und im Schott zeigte sich ein Loch. London fuhr herum. Ihm, wie auch den Anderen war sofort klar, dass es einen Druckverlust gab, wenn sie ihn sich auch nicht erklären konnten.
»Helme schließen!«, brüllte Isabella und klappte ihr Visier herunter. Hektisch griffen auch die Übrigen an ihre Helme und versuchten, sie so schnell wie möglich dicht zu bekommen.
»Mein Gott!«, stöhnte Sabina. »Mein Helm hat ein Leck. Ich will nicht sterben.«
London stand wie angewurzelt und starrte auf das Schott und das Loch, durch welches nun bereits ein wahrer Sturm pfiff. Er hob seine Waffe.
»Das sind die Schweine von der FREELANCER!«, brüllte er und schoss mehrfach auf das Loch, in der Hoffnung, jemanden zu treffen.
Hagen schwankte, was er nun tun sollte. Einerseits erhielt er eine Chance, London zu überwältigen, andererseits brauchte Sabina Hilfe. Er entschied sich für Sabina. Schnell stieß er sich ab und trieb zu ihr herüber, wo er mit einem Klebstreifen, den er in einer seiner Anzugtaschen hatte, provisorisch versuchte, das Loch in Sabinas Helm abzudichten. Er wusste, dass es sie auf Dauer nicht retten würde, doch verschaffte es ihr etwas mehr Zeit. Es versetzte ihm einen Stich, ihre vor Angst geweiteten Augen zu sehen. Er blickte zu Lech Vasecky hinüber, der bereits sein Bewusstsein verloren hatte. Das Leck in seinem Ärmel war ungleich größer, als der Schaden in Sabinas Helm. Er warf das Klebeband zu Eduardo Lorca hinüber.
»Hier, versuch, damit den Anzug von Lech notdürftig abzudichten!«
»Was hat das denn noch für einen Sinn?«, fragte der Arzt resignierend.
Hagen glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Verdammt noch mal, Lorca! Du bist Arzt! Kümmere dich gefälligst um unsere Leute! Noch sind wir nicht tot!«
Lorca schien aus seiner Lethargie zu erwachen und machte sich an Lech zu schaffen. Hagen sah zu London, der wie besessen auf das Loch im Schott feuerte, welches sich inzwischen noch weiter vergrößert hatte. Jetzt zog er einen eiförmigen Gegenstand aus seiner Anzugtasche und fingerte daran herum. Hagen zog seine Brauen zusammen. London hatte eine nukleare Granate in seiner Tasche. Er wollte doch nicht etwa so ein Ding hier zünden.
»London, was tust du?«, fragte Hagen ihn.
London lachte irre. »Niemand wird mich fangen«, sagte er. »Niemand. Ich werd es ihnen allen zeigen.«
Im nächsten Moment schien London in Flammen zu stehen. Sein Anzug warf an einigen Stellen Blasen und platzte auf. Er warf seine Arme in die Höhe und die Granate entfiel seinen Händen. Es war Hagen sofort klar, dass Hagen sofort tot gewesen war. Er kannte die Wirkungsweise solcher Treffer. Es konnte nur bedeuten, dass ihre Retter draußen über Laserwaffen verfügten. Er fingerte an der Steuerung seines Helmsenders herum, bis er die Leute auf dem Gang hören konnte. Wahrscheinlich wäre es klug gewesen, das bereits viel früher zu tun, aber er war unter dem Druck der Bedrohung durch London überhaupt nicht auf die Idee gekommen.
»Hallo, können Sie mich hören?«, fragte er.
»Gott sei Dank, endlich haben wir Kontakt«, kam es aus dem Lautsprecher. »Mit wem spreche ich? Hier ist Sean McConnor von der FREELANCER.«
»Ich bin Hagen Thermorn. Ich war als Söldner an Bord der BLACK BOTTOM. Betrachten Sie mich bitte in dieser Situation nicht als ihren Feind. Hier im Raum wird ihnen niemand Widerstand leisten. Ich möchte Sie nur bitten, schnell zu machen, da wir zwei Menschen mit defekten Anzügen haben. Uns fehlen die Mittel, sie zuverlässig abzudichten.«
»Halten Sie sich vom Schott fern«, sagte Sean. »Wir werden es jetzt zerstören.«
Hagen gab den anderen ein Zeichen, sich vom Schott fernzuhalten. Erst jetzt fiel ihm die Granate wieder ein. In welche Richtung war sie geflogen? Er versuchte, sich zu erinnern. Nach kurzer Zeit fiel es ihm wieder ein und er fand sie – eingeklemmt zwischen zwei Konsolen. Ein Blick auf den Zünder ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. London hatte sie noch vor seinem Tod scharfgemacht und mit einem Code gesperrt. Es war unmöglich, sie wieder zu entschärfen. Die Uhr im Display zeigte elf Minuten. Es blieben ihnen also gerade einmal elf Minuten, um dieses Schiff zu verlassen und aus der Reichweite der Granate zu entkommen.
»Sean, wie lange braucht Ihr noch?«, fragte er über Funk.
»Wir haben es gleich. Geduld«, kam es zurück.
»Geduld ist das Einzige, was wir nicht haben«, sagte Hagen. »London hat eine nukleare Granate scharfgemacht. In gut zehn Minuten fliegt hier alles in die Luft.«
»Scheiße!«, rief Sean. »Zieht euch zurück. Wir werden mit Dauerfeuer arbeiten.«
Einen Augenblick später färbte sich das gesamte Schott rot vor Hitze. Bald lösten sich flüssige Kugeln heißen Metalls und flogen durch die Kabine. Es wurde immer schwerer, ihnen auszuweichen. Eine Berührung hätte ernste Schäden am Raumanzug verursachen können. Endlich war die Öffnung groß genug, um einen Menschen hindurch zu lassen. Pelle erschien in der Öffnung und winkte. Einer nach dem Anderen kletterten sie vorsichtig durch die Öffnung, deren Ränder noch rot glühten, in den Gang. Für Begrüßungen und Gespräche blieb keine Zeit. Jetzt galt es nur noch, Abstand zur JEAN SIBELIUS zu bekommen.
»Jan, komm uns entgegen«, forderte Pelle über Funk. »Im Wrack befindet sich eine scharfe Nukleargranate. Wir haben noch acht Minuten.«
»Nicht schon wieder!«, entfuhr es Jan, der nebenher bereits die Anlagen anfuhr, um die FREELANCER zu starten. »Mandy, Haruki, wir müssen alles geben, um die Leute einzusammeln und zu verschwinden. Es gibt gleich noch eine nukleare Explosion. Haruki, du gehst zur Polschleuse und hilfst beim Einschleusen. Ich will eine Meldung, sobald der Letzte drin ist, verstanden?«
»Eye Captain!«, rief Haruki und verschwand.
Pelle und Sean trieben die Geretteten in Windeseile durch die Gänge zum Schlitten. Noch während Sean ihnen beim Anlegen der Gurte half, zündete Pelle bereits die Triebwerke des Schlittens. Sie mussten sich trotzdem gut festhalten, da Pelle den Schlitten bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastete. Er war im Grunde zum Transport von Lasten gedacht und nicht als Fluchtfahrzeug. Sie hatten das Gefühl, als kämen sie überhaupt nicht von der JEAN SIBELIUS weg. Glücklicherweise stand die FREELANCER bereits kurz vor dem Wrack und die Polschleuse zeigte genau in ihre Richtung.
Pelle grunzte zufrieden. Genau so hatte er sich das vorgestellt, als er Jan anwies, ihnen entgegenzufliegen. Auf Jan konnte er sich voll verlassen. Er hielt mit der vollen Geschwindigkeit auf die offene Schleuse zu und bremste erst im letzten Moment ab. Die Bremsdüsen richteten in der Schleuse massive Schäden an der übrigen Ausrüstung an, doch das war Pelle vollkommen gleich. Wichtig war nur, möglichst schnell in die Sicherheit des Schiffes zu kommen.
Haruki sprang zum Schleusenschalter und drückte auf den Schließmechanismus.
»Wir sind drin«, gab Pelle durch und fügte hinzu: »Bring uns weg hier!«
Er hatte kaum ausgesprochen, als sie alle gegen die Wand purzelten und sich Prellungen zuzogen. Der Andruck war so groß, dass sie nicht mehr in der Lage waren, vernünftig zu atmen.
»Jan, Druckausgleich!«, keuchte Pelle. »Wir haben teilweise defekte Anzüge dabei.«
Er wusste nicht, wie Jan das unter diesen Bedingungen machte, aber im nächsten Moment hörten sie bereits das Zischen der Luftdüsen, die in der Kammer eine atembare Atmosphäre herstellten. Es wurde kalt, durch die plötzliche Dekompression des Gases, doch das war ihnen egal. Nach einer Zeitspanne, die allen endlos erschien, ließ der Druck nach und sie konnten sich wieder bewegen. Pelle nahm seinen Helm ab und sog prüfend die Luft ein.
»Kalt aber o. k.«, sagte er. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass die Explosion jeden Moment erfolgen musste. Da die Schleuse geschlossen war und die Inneneinrichtungen beim Bremsmanöver weitgehend zerstört wurden, hatten sie nun keine Möglichkeit, zu sehen, was draußen vor sich ging.
»Jan, sind wir weit genug entfernt?«, fragte Sean.
»Keine Sorge, der elektromagnetische Puls wird uns nicht mehr schaden können«, sagte er. »Ich zeichne das Ganze auf. Ihr könnt es euch nachher anschauen. Kommt am Besten schon zur Zentrale.«
Alle nahmen ihre Helme ab. Als Pelle Isabella sah, nahm er sie fest in den Arm.
»Ich dachte, ich komme aus dieser Sache nicht mehr heraus«, sagte sie.
Pelle blickte sich um und betrachtete die anderen.
»Sie sind Hagen Thermorn, nicht wahr? Einer der Piraten. Wer ist die junge Dame?«
»Ja, ich bin Hagen«, bestätigte Hagen. »Das hier ist meine Kollegin Sabina Doyle. Sie war unsere Ortungs- und Kommunikationsspezialistin. Wenn Sie so wollen, ist sie auch Pirat.«
»Es ist Ihnen klar, dass wir sie festnehmen müssen, nicht wahr?«, fragte Pelle.
Hagen nickte.
»Das ist uns vollkommen klar. Wir sind bereit, die Verantwortung für unser Handeln zu tragen. Wir werden keine Schwierigkeiten machen.«
Pelle nickte. »Wenn wir uns darauf verlassen können, werden wir darauf verzichten, Sie einzusperren.«
Er deutete auf den noch immer bewusstlosen Lech.
»Wer ist das?«
»Er heißt Lech Vasecky«, sagte Sabina. »Er war unser Navigator.«
»Gut, wir nehmen ihn mit«, entschied Pelle. »Machen wir uns auf den Weg.«
Als sie die Zentrale erreichten, flog Isabella förmlich in Jans Arme. Jan küsste sie immer wieder und strich ihr mit der Hand über die Haare.
»Ich hatte solche Angst um dich«, sagte er. »Und jetzt bin ich einfach glücklich, dass ich dich wohlbehalten zurückhabe.«
Dann entdeckte er die Fremden, bei denen es sich nur um Piraten handeln konnte und sein Gesicht wurde abweisend.