14. Tanz auf dem Vulkan
14.04 Unfall im Kuiper-Belt

Bereits seit über einem Jahr war die DIGGER XI unterwegs. Leo Parker, Geologe am Institut für solare Geologie im australischen Canberra hatte von seinem Institut den Auftrag erhalten, eine Forschungsreise bis an die Grenzen des bekannten Sonnensystems zu unternehmen, um die sogenannten Plutoiden im Kuipergürtel zu erforschen. Es war eine kostspielige Reise, doch erhoffte man sich davon zum einen Aufschlüsse über die Entstehung des Sonnensystems und zum anderen die Entdeckung wertvoller Materialien, die auf der Erde dringend gebraucht wurden. Leo Parker hatte den Finanziers dieser Expedition den Mund wässerig gemacht, in dem er ihnen in Aussicht gestellt hatte, die Vorkommen der begehrten Speicherkristalle könnten in den Randbezirken möglicherweise häufiger sein, als im Asteroiden-Gürtel, wo bisher mühsam danach gesucht werden musste.
Den Pluto hatten sie bereits besucht und mit allen ihren Spezialkameras fotografiert. Den Auswertungen zufolge gab es tatsächlich Vorkommen von Kristallen auf der Oberfläche des Kleinplaneten, doch war noch nicht geklärt, ob sich der Abbau durch Einrichtung einer Mine kommerziell lohnen würde. Sie hatten auf Pluto nicht landen können, da die DIGGER XI dafür nicht ausgerüstet war. Die Auswertung der Unterlagen auf der Erde würde endgültige Sicherheit geben. Nun waren sie auf dem Weg zu einem weiteren Himmelskörper, der sich zufällig noch innerhalb ihrer Reichweite befand, bevor sie den Rückweg antreten mussten. Es handelte sich um den erst im Jahre 2005 entdeckten Zwergplaneten Makemake, der – ebenso wie Pluto – auf einer leicht exzentrischen Bahn in einem Winkel von circa dreißig Grad gegen die Ekliptik um die Sonne kreiste. Von Makemake gab es bisher weder Fotos noch Angaben über seine Zusammensetzung oder Dichte. Parker glaubte nicht, dass Makemake wesentlich andere Ergebnisse bringen würde als Pluto, doch wollte er die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, auch diesen Himmelskörper zu untersuchen.
»Wie lange werden wir noch brauchen, bis wir diesen Kleinplaneten erreichen?«, fragte Leo seine Kommandantin. Neema Smith hatte er erst zu Beginn der Reise kennengelernt. Leo verstand im Grunde nichts von Raumfahrt und deshalb hatte er mit den Mitteln des Instituts ein komplettes Raumschiff samt Besatzung chartern müssen. Neema Smith, der die DIGGER XI gehörte, hatte das Schiff durch einige lukrative Prospektionsgewinne finanziert. Sie war stets an gut bezahlten Aufträgen interessiert, doch als sie erfuhr, wohin es gehen sollte, und wie lange die Reise dauern würde, hatte sie auf einem großzügigen Zuschlag für sich und die beiden anderen Besatzungsmitglieder bestanden. Schließlich war man sich einig geworden und die DIGGER XI war für diese außergewöhnliche Fernreise ausgerüstet worden. Eigentlich hätte man für eine Fernreise in den Kuiper-Belt ein Schiff mit Plasmaantrieb und Landevorrichtungen wählen sollen, aber die DIGGER XI stand zur Verfügung und die Chartergebühr war für das Institut erschwinglich. So hatten sie sich mit einem Prospektionsschiff mittlerer Größe auf den Weg gemacht, das eigentlich dafür gedacht war, im Asteroidengürtel nach Kristallballungen zu suchen.
»Es kann nicht mehr lange dauern«, sagte sie. »Wir können zwar noch immer nichts entdecken, aber dieser Himmelskörper muss innerhalb eines Radius von vierundzwanzig Stunden sein. Das Radar arbeitet rund um die Uhr.«
»Ich kann diese Schwärze des Alls nicht mehr ertragen«, sagte Leo. »Hier draußen ist wirklich absolut nichts. Selbst die Sonne ist nichts weiter als ein hellerer Stern. Ich will endlich wieder frische Luft atmen können und blauen Himmel über mir sehen.«
Er bekam einen schwärmerischen Gesichtsausdruck.
Neema löste sich von ihrer Konsole und schwebte zu ihm hinüber. Sie schmiegte sich an ihn und gab ihm einen Kuss.
»Wenn wir das alles hier hinter uns haben, werden wir irgendwo Urlaub machen, wo uns nichts und niemand daran hindern wird, die Natur der Erde einfach nur zu genießen«, sagte sie. »Mir geht diese Reise mittlerweile auch auf die Nerven.«
Leo und Neema waren sich während der endlos langen Zeit in der Leere des Raumes allmählich nähergekommen, nachdem sie sich anfangs zusammenraufen mussten. Seit etwa drei Monaten waren sie ein Paar, was vom Piloten Lance Payne und Jack, der Technikerin, die eigentlich Jaqueline hieß, nur begrüßt wurde. Sie selbst waren bereits länger zusammen, bemühten sich aber, das gegenüber Neema nicht zu offensichtlich zu zeigen. Erst jetzt, wo auch ihre Kommandantin ihre Beziehung zu Leo nicht mehr leugnete, zeigten auch sie deutlich, dass sie zusammengehörten. Der Stimmung an Bord tat es nur gut, sorgte es doch dafür, dass die Besatzungsmitglieder ausgeglichener waren. Eines der Hauptprobleme auf diesen langen Missionen war die Langeweile, die sich schon kurz nach dem Start einstellte. Bald hatte man einander alles erzählt und jeder kannte den anderen so gut wie sich selbst. Dann galt es, sich die Zeit irgendwie zu vertreiben. Nirgends gab es so viele Spieler, wie unter Raumfahrern. Ein echtes Problem entstand immer dann, wenn sich herausstellte, dass die Mitglieder der Besatzung nicht zusammenpassten, doch in der DIGGER XI hatte man Glück. Die Vier verstanden sich ausnehmend gut – selbst noch nach einem Jahr auf engstem Raum. Die Paarbildung war fast eine logische Konsequenz ihrer personellen Konstellation.
»Wenn wir Makemake vermessen haben, geht es endgültig nach Hause«, sagte Leo.
»Vergiss aber nicht, dass wir für den Rückweg noch Monate brauchen werden«, mahnte Neema.
»Das weiß ich doch, Schatz. Aber es ist zumindest eine Perspektive. Was wirst du tun, wenn wir wieder zu Hause sind?«
»Was soll die Frage?«, wollte Neema wissen. »Wir werden Urlaub machen. Die DIGGER XI muss allmählich auch in der Werft überholt werden. Ich denke, es wird einige Zeit dauern, bis sie erneut starten kann. Wenn ich erst das Geld vom Institut habe, werde ich mir eine gute Werft suchen.«
»Das meine ich nicht!«, sagte Leo leicht verärgert. »Was wird mit uns? War es das dann, nachdem wir zurückgekehrt sind? Ein Urlaub zu zweit und jeder zieht seiner Wege?«
»Wie kommst du auf die Idee?«, wollte Neema wissen. »Wenn ich nach all der Zeit mit dir an Bord noch immer zusammen bin, sehe ich keinen Grund, dich zu verlassen, nachdem wir zurück sind.«
»Dann lass uns heiraten!«
»Wie bitte?«, fragte Neema verblüfft. »Du bist verrückt! Wir sind fast sieben Milliarden Kilometer von der Erde entfernt.«
»Na und? Du bist Kommandantin, und berechtigt, Ehen zu schließen, oder nicht?«
»Aber doch nicht meine Eigene!«, sagte sie lachend.
»Warum nicht? Im Ernst Neema: Steht irgendwo geschrieben, dass du nicht selbst eine rechtsgültige Ehe schließen darfst? Oder willst du nicht?«
»Oh doch, mein kleiner Leo, ich würde dich schon heiraten«, sagte sie. »Ich hatte mir zwar noch keine Gedanken darüber gemacht, aber jetzt, wo du es so sagst, stell ich fest, dass ich es auch möchte.«
Jack, die eben die Zentrale betreten hatte, hatte die letzten Worte der beiden mitbekommen.
»Das wird leider noch warten müssen«, sagte sie.
Leo uns Neema sahen sie verblüfft an. Jack bemerkte den Blick Leos und sah an sich herunter. Sie musste unwillkürlich grinsen. Sie trug fast überhaupt keine Kleidung am Körper.
»Verdammt Jack, ich hab dir schon mal gesagt, dass du im Dienst deine Kombination tragen sollst«, sagte Neema. »Was du während deiner Freizeit tust, ist mir egal. Außerdem ...«
»Außerdem?«, fragte Jack lauernd.
Neema musste nun auch lachen.
»Außerdem lenkst du meinen Leo offensichtlich mehr ab, als ich gern sehen würde.«
»Gut, ich zieh mir gleich was an. Aber wir haben ein ernstes Problem.«
»Was ist los?«, fragte Neema besorgt.
»Eine Verdichterzelle des Korpuskularbeschleunigers ist durchgebrannt. Wenn wir den Bremsvorgang einleiten, besteht die Gefahr, dass auch die zweite Verdichterzelle den Geist aufgibt.«
»Kann man sie nicht austauschen?«, fragte Neema. »Ich meine, mich erinnern zu können, dass wir dieses Problem schon mal hatten und du die Zelle ausgewechselt hast.«
»Es war die ausgetauschte Zelle, Neema. Eine Weitere haben wir nicht an Bord.«
»Was bedeutet das jetzt genau?«, wollte Leo wissen. »Können wir nicht mehr bremsen?«
»Das weiß ich nicht«, gab Jack zu. »Es kann durchaus sein, dass wir die DIGGER XI noch zum Stehen bekommen, es kann aber auch sein, dass die zweite Zelle platzt und dann sieht es düster aus. Dann können wir nämlich nicht mehr genügend Schub aufbauen, um ins innere System zurückzufliegen. Wir säßen für alle Zeiten hier draußen fest. Leider würde diese Ewigkeit nicht lange dauern, denn unser Wasserrückführungssystem funktioniert dann auch nicht mehr. Selbst, wenn wir uns einschränken, würde das Wasser nur noch für einige Wochen reichen.«
Neema machte ein besorgtes Gesicht. »Wie hoch schätzt du unsere Chancen ein, dass es gut geht?«
»Höchstens vierzig Prozent.«
Knapp einen Tag später war es so weit: Das Radar sprach an und meldete einen Körper von etwa tausendachthundert Kilometern im Durchmesser. Es musste Makemake sein, denn etwas anderes gab es in der näheren Umgebung nicht. Lance Payne nahm an den Kontrollen Platz und berechnete eine Anflugkurve, die sie in eine enge Umlaufbahn um den Kleinplaneten führen sollte. Die Anziehungskraft von Makemake konnte nicht hoch sein. Sie hofften, dass sie ausreichen würde, ihr Schiff in einer Kreisbahn festzuhalten. Sie schnallten sich an und Lance drückte die Taste für die Bremstriebwerke. Unverzüglich spürten sie wieder ihr Gewicht. Nach der langen Zeit der Schwerelosigkeit stöhnten sie unter der ungewohnten Belastung.
»Triebwerke reagieren normal«, rief Lance. »Jack, wie ist der Status?«
»Alles normal«, erwiderte sie.
Die DIGGER XI bremste bereits seit einigen Stunden ab und sie dachten, dass sie noch einmal Glück gehabt hatten, als ein schriller Alarm ertönte.
Jack wurde an ihrer Konsole hektisch und schaltete wild an ihren Instrumenten herum.
»Wie befürchtet!«, rief sie. »Die Verdichterzelle ist geplatzt. Lance, du kannst das Triebwerk abschalten. Es verbraucht nur noch Ressourcen, ohne dass es uns was nützt.«
Nachdem es ruhig im Schiff geworden war, blickten sie einander ratlos an. Die Tragweite dieses Schadens sickerte nur langsam in ihr Bewusstsein.
»Wie ist unser Vektor?«, fragte Neema plötzlich. »Liegen wir auf Kollisionskurs zu Makemake?«
Lance blickte auf sein Radar und schüttelte den Kopf. »Nein, wir werden nicht dort aufschlagen. Wir passieren den Kleinplaneten in einer Entfernung von etwa zehntausend Kilometern.«
»Das bedeutet, dass wir nicht schnell, sondern langsam sterben werden«, sagte Jack flüsternd. Das Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben.
»So hatte ich es mir nicht vorgestellt, als wir zu dieser Mission gestartet sind.«
»So hat sich niemand das vorgestellt«, sagte Neema. »Wir müssen Kontakt zur Erde aufnehmen – je eher, desto besser.«
»Was soll das bringen?«, fragte Lance. »Selbst, wenn wir sehr präzise senden, wird das Signal frühestens in sechs bis sieben Stunden dort eintreffen. Vor vierzehn Stunden kann keine Antwort von der Erde eintreffen. Was glaubt Ihr, werden sie uns sagen? Schön, dass Ihr Euch meldet, aber wir sehen keine Möglichkeit, zu helfen? Macht euch doch nichts vor. Selbst, wenn sie uns sofort ein Schiff schicken, wird es nur noch unsere Leichen vorfinden.«
»Lance hat recht«, sagte Leo. »wir haben keine Chance.«
»Lance, du wirst trotzdem sofort einen Notruf zur Erde senden«, befahl Neema. »Auch wenn es nichts nutzt.«
»Warum denn noch, Neema?«, fragte Leo.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, sagte sie und blickte ihm direkt in die Augen. »Du wolltest mich heiraten, Leo. Gilt das immer noch?«
»Neema, was soll das jetzt noch?«
»Wenn es unser Ende ist, was wir jetzt erleben müssen, dann will ich mit dir verheiratet sein, wenn es geschieht. Ich will es einfach. Also?«
Leo sah sie lange wortlos an. Jack und Lance blickten von einem zum anderen.
»Wenn es dein Wunsch ist, dann will ich es auch«, sagte Leo. »Dann traue uns so bald wie möglich.«
»Dann traue uns beide auch gleich!«, rief Jack dazwischen und sah Lance erwartungsvoll an.
»Wir müssen verrückt sein«, meinte er. »aber lass es uns machen. Die letzte Verrücktheit in unserem Leben.«