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14. Tanz auf dem Vulkan
14.05 Isabellas Zwangslage
Es waren harte Verhandlungen, die Isabella zu führen hatte. Jan war absolut dagegen, als sie ihm erklärt hatte, welches Angebot man ihr gemacht hatte. Als er dann erfahren hatte, was es für ein Schiff war, um das es ging, hatte er sie gefragt, ob sie vollkommen verrückt geworden wäre. Schließlich hatte er eingewilligt, dass sie den Simulator benutzte, um die RISING STAR beherrschen zu lernen, wenn ihre Zeit das erlaubte.
Isabella war wütend. Nie zuvor hatte sie so ein Gespräch mit Jan geführt. Sie waren beide Raumfahrer und damit war klar, dass sie beide für die Raumfahrt lebten. Sie ärgerte sich daher maßlos über das Macho-Verhalten ihres Mannes. Reichte es nicht, dass es die Frauen waren, die Kinder bekamen? Mussten sie da auch noch alle ihre Interessen der Mutterrolle unterordnen, während das für Männer offenbar nicht zu gelten schien. Sie beschloss, das mit ihm auszudiskutieren, wenn sie sich das nächste Mal trafen. In der Zwischenzeit wollte sie das tun, das ihrer Meinung nach das Beste für sie war.
So fuhr Isabella etwa zweimal in der Woche zum Simulator hinüber und trainierte den Flug des Schiffes. Inzwischen war sie bereits so gut, dass sie die Manöver im Echtmodus durchführte, also mit Kommunikation zwischen Schiff und Bodenstation und allem Drum und Dran. Sie musste zugeben, dass sie mittlerweile neugierig auf das echte Schiff geworden war. Mehrfach war sie bereits zur Werft geflogen und hatte sich Details angesehen, die sie in der Simulation kennengelernt hatte. Leider war Dr. Burmester meistens nicht da, dem sie gern verschiedene Fragen gestellt hätte.
Eines Morgens summte sich die Rufanlage und Isabella meldete sich.
»Hallo Isabella, hier ist Irina«, meldete sich die Leiterin der Akademie. »Ich muss dringend mit dir reden.«
»Heute so förmlich?«, fragte Isabella unbefangen. »Was verschafft mir die Ehre dieses frühen Anrufs?«
»Könntest du sofort zu mir kommen? Ich würde es ungern am Phon besprechen. Ich bin in meinem Büro.«
Isabella sah ihr Gegenüber fragend an, doch Irina machte keine Anstalten, ihr merkwürdiges Verhalten zu erklären. Also beeilte sie sich, ihre Tochter fertigzumachen und zur Krippe zu schaffen. Sie hasste diese Eile, doch hatte sie das Gefühl, dass es ein dringendes Problem gab, sonst hätte Irina nicht so verschlossen gewirkt. Wie immer in solchen Fällen war Jan natürlich wieder unterwegs. Für ihn war es immer sehr einfach. Er hatte halt seinen Job und der ging vor.
Eine Stunde nach dem Anruf betrat Isabella Irinas Büro.
»Gut, dass du kommst«, sagte sie statt einer Begrüßung. »Wir haben ein großes Problem.«
»Um was geht es denn?«
»Es geht um ein Schiff um die DIGGER XI.«
»Dem Namen nach würde ich auf ein Prospektionsschiff schließen«, vermutete Isabella.
»Das ist es auch«, erklärte Irina. »Es wurde vor über einem Jahr vom Institut für solare Geologie im australischen Canberra gechartert, um in den Randbereichen des Sonnensystems Kleinplaneten zu erforschen.«
»Das Schiff ist bis in den Kuipergürtel vorgestoßen?«, fragte Isabella skeptisch.
»Wir wollten es auch nicht glauben, zumal die DIGGER XI nicht über einen Plasmaantrieb verfügt. Aber es steht fest, dass sich dieses Schiff dort aufhält.«
»Und was willst du von mir?«, fragte Isabella.
»Wir haben einen Notruf von der DIGGER XI aufgefangen. Ihnen sind die Verdichterzellen geplatzt. Dadurch sind sie nicht mehr manövrierfähig. Dummerweise läuft ihre Wasserrückführung über das System. Du kennst dich mit solchen Systemen aus?«
Isabella nickte. »Ein wenig schon. Man hat das früher gemacht, um die ungenutzte Energie aus Triebwerkseinheiten zur Verdampfung und Re-Kondensation von Gebrauchswasser zu verwenden. Für Schiffe, die nur bis zum Asteroidengürtel vordringen, ist das eine praktikable Lösung. Bei Schiffen, die weiter hinausfliegen, installiert man aber in der Regel eine autonome Wasseraufbereitungsanlage.«
»Genau. Aber die DIGGER XI war nie als Fernraumschiff konzipiert. Natürlich kann sie bis an die Grenzen des Sonnensystems fliegen, aber wenn der begrenzte Wasservorrat nicht mehr aufbereitet werden kann, wird es eng. Sie werden sich nur noch wenige Wochen halten können dann müssen sie sterben.«
»Das ist ja grauenhaft«, entfuhr es Isabella. »Wie sollen wir innerhalb der verbleibenden Zeit ein Schiff bis in den Kuipergürtel entsenden? Diese armen Menschen sind doch bereits jetzt zum Tode verurteilt.«
Irina sah Isabella einige Augenblicke schweigend an. »Isabella, ein Schiff könnte es schaffen, diese Menschen zu retten.«
Isabella froren förmlich die Gesichtszüge ein. »Du meinst nicht die RISING STAR, oder? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Irina verzog keine Miene und sah sie ausdruckslos an.
»Verdammt, du meinst die RISING STAR!«, sagte Isabella. »Bist du vollkommen übergeschnappt? Dieses Schiff ist ein Prototyp und darüber hinaus noch nicht einmal fertig. Vergiss diesen Gedanken ganz schnell wieder.«
»Die RISING STAR ist einsatzbereit«, sagte Irina. »Zurzeit befindet sie sich etwas mehr als vierhunderttausend Kilometer von hier entfernt im All und wird mit Antimaterie beladen. Diese Phase ist besonders kritisch, deshalb machen wir es fern ab im All. Ich erwarte jeden Moment die Meldung, dass die RISING STAR aufgetankt ist.«
»Das würde bedeuten, dass auch die Zyklotrone bereits aktiv sind«, sagte Isabella. »Wieso habe ich nichts davon erfahren?«
»Und dann?«, fragte Irina. »Was hättest du getan? Du hast mehr als nur einmal bekräftigt, dass du als Pilotin für dieses Schiff nicht zur Verfügung stehst.«
»Und warum hast du mich dann jetzt hergebeten?«
»Weil du die Einzige bist, die diese Maschine beherrschen kann. Ich hab mit Tomasz gesprochen. Er ist überzeugt davon, dass du das Schiff kennst wie deine Westentasche. Im Simulator beherrschst du die RISING STAR perfekt. Isabella wir brauchen dich! Wenn du es nicht machst, werden die Leute auf der DIGGER XI sterben.«
»Du willst mir jetzt die Verantwortung dafür aufbürden, wenn diese Menschen umkommen? Das glaub ich jetzt nicht!«
Isabella war sprachlos. Sie suchte nach Worten. »Angenommen, ich würde es machen wie soll das funktionieren? Der Andruck würde mich ebenso töten, wie der Wassermangel die Leute auf der DIGGER XI.«
Irina schüttelte den Kopf. »Diese Angst brauchst du nicht zu haben, Isabella. Das Problem des Andrucks hat Dr. Burmester gelöst. Am besten wird es sein, wir fliegen gleich zur RISING STAR, sobald sie mit der Antimaterie beladen ist.«
»Das Andruckproblem ist gelöst?«, fragte Isabella. Ihr fiel ein, dass auch Tomasz eine Andeutung gemacht hatte, ohne jedoch zu erklären, wie das funktionieren sollte.
Die Rufanlage meldete sich und Irina griff zum Hörer. Nach ein paar Worten legte sie auf. »Das war die Werft. Sie wollten nur mitteilen, dass die RISING STAR startbereit ist. Nun ist es an uns, tätig zu werden. Wann kommt Jan von seiner Mission zurück?«
»Morgen. Warum?«
»Bis Morgen kann sich die Krippe um eure Kleine kümmern. Dann kann Jan sie von dort abholen. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren.«
»Ich hab noch nicht zugestimmt.«
»Verdammt Isabella!«, schimpfte Irina. »Ich wünschte auch, es wäre anders, aber das Leben dieser Menschen liegt im wahrsten Sinne des Wortes in deinen Händen! Wenn ich könnte, würde ich selbst fliegen, aber ich kann es nicht. Niemand kann es außer dir.«
»Wer hat das Schiff denn aus der Werft bis zum jetzigen Standort gesteuert?«
»Das hat die Werft-Crew erledigt, aber das sind keine ausgebildeten Piloten, die mehr als das kleine Korpuskulartriebwerk beherrschen. Isabella, ich brauche dich!«
Isabellas Gedanken rasten. So sehr sie das Schiff interessierte, so sehr fürchtete sie sich auch davor, es zu fliegen. Doch konnte sie verantworten, dass Menschen starben, nur weil sie Angst hatte? Sie gab sich einen Ruck.
»Ich mach es«, sagte sie. »Nur, dann muss es sofort losgehen, sonst mache ich doch noch einen Rückzieher.«
»Ich danke dir, Isabella«, rief Irina erleichtert aus. »Ich hatte gehofft, dass du es tun würdest.«
»Eine echte Wahl hast du mir auch nicht gelassen. Dir ist aber schon bewusst, dass es ein Himmelfahrtskommando sein kann?«
»Dr. Burmester ist sicher, dass die RISING STAR hält, was sie verspricht. Und mit dir als Pilotin wird das Schiff rechtzeitig am Ziel sein und die arme Besatzung der DIGGER XI retten.«
Isabella war noch nicht ganz überzeugt und kaute nervös an ihrer Unterlippe.
»Dann lass uns sofort zur klinischen Abteilung gehen«, sagte Irina.
»Wozu das?«
»Die Besonderheit der Beförderung macht einige Untersuchungen erforderlich«, sagte Irina vorsichtig. Sie wagte noch nicht, Isabella die ganze Wahrheit zu offenbaren.
»Wenn du meinst, dass das nötig ist, bitte«, sagte Isabella. »Dann lass ich mich auch noch mal von den Ärzten durchchecken.«
Später, als sie alles hinter sich hatte, hatte sie die gründlichste Untersuchung überstanden, die sie je erlebt hatte. Besonders die Lungenfunktion hatte es den Ärzten angetan. Sie verstand es nicht, denn sie hatte nie Probleme mit ihren Lungen gehabt. Irina ließ sie nicht zum Nachdenken kommen und brachte sie gleich zu einem wartenden Shuttle, das sofort startete, sowie sie an Bord waren. Der Flug zur RISING STAR dauerte eine Weile, da das Shuttle nicht so extrem beschleunigen konnte. Als sie sich dem Schiff näherten, welches mit blinkenden Positionslichtern vor ihnen im All stand, wurde Isabella erst wieder bewusst, wie gigantisch dieses Schiff war. Es sah wirklich aus wie ein Kegel, oder wie ein Zuckerhut. Das Shuttle verfügte über einen Personen-Rüssel, der ausgefahren werden konnte und der sich an der Schleuse der RISING STAR festsaugte. So konnten sie ohne Raumanzüge bequem ins Schiff wechseln.
Drinnen wartete bereits Dr. Burmester mit seiner Crew und begrüßte Isabella wie eine alte Freundin. »Ich bin so froh, dass Sie sich entschließen konnten, diesen Flug zu unternehmen.«
»Ich mach das nur für die Raumfahrer des havarierten Schiffes«, antwortete Isabella steif.
»Das weiß ich doch«, sagte er. »Und ich bin froh, dass Sie es überhaupt tun. Sie sind die letzte Chance dieser bedauernswerten Menschen.«
»Ich habe aber auch noch ein paar Fragen, Dr. Burmester«, sagte Isabella. »Dieses Schiff soll eine Beschleunigung von sechzehn G erzeugen, ist das richtig?«
»Das ist korrekt«, bestätigte er. »Sobald der Antimaterieantrieb gezündet wird, wird eine Beschleunigung von etwa sechzehn G anliegen. Sämtliche Bauteile der RISING STAR wurden auf der Erde speziellen Tests in Großzentrifugen unterzogen und werden damit garantiert zurechtkommen.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Isabella. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Organismus diese Kräfte länger als ein paar Sekunden aushalten wird.«
»Oh, das wird er«, sagte Dr. Burmester und blickte sich nach Irina um. »Hat man Ihnen noch nicht erklärt, wie es funktionieren wird?«
»Nein, bisher nicht.«
»Nun, ich gebe Ihnen recht, dass wir Sie nicht einfach auf ein Konturlager packen und dann diesen Kräften aussetzen können. Das würde Sie töten. Allein die Luft würde so stark komprimiert werden, dass Ihre Lungen platzen würden. Es würde Ihnen nach einiger Zeit das Fleisch von den Knochen ziehen. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Kräfte zwar auf Sie einwirken, Ihnen aber nichts anhaben können. Sie haben doch sicher schon davon gehört, dass es nicht möglich ist, Flüssigkeiten zu komprimieren, oder? Anders wäre der Einsatz von Hydrauliken überhaupt nicht denkbar.«
»Was hat das mit mir zu tun?«, fragte Isabella.
»Wir werden einfach jegliches Gas durch Flüssigkeit ersetzen«, eröffnete Dr. Burmester, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
»Wie bitte? Und wie soll ich dann atmen? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«
»Doch, das ist mein voller Ernst und es wird gut funktionieren. Die Lösung heißt Perfluorkarbon, eine relativ schwere, wasserklare Flüssigkeit, die hervorragende Eigenschaften hat, was den Transport von Sauerstoff oder Kohlendioxid betrifft. Sie werden Perfluorkarbon atmen und sich komplett in einem Perfluorkarbonmedium bewegen. Die Atmung wird Ihnen in den ersten Minuten etwas träge und mühsam vorkommen, doch Sie werden sich daran gewöhnen. Die gesamte Zentrale wird mit diesem Stoff geflutet und versiegelt. Dadurch wird der Druck beim Beschleunigen komplett auf jede Zelle Ihres Körpers verteilt und wird von Ihnen nicht einmal besonders wahrgenommen.«
Isabella hatte bisher entsetzt zugehört. »Sie wollen, dass ich Wasser atme? Dann können Sie mich auch gleich umbringen.«
»Nicht Wasser, sondern Perfluorkarbon, Isabella. Ich gebe zu, dass es einige Überwindung kosten wird, eine Flüssigkeit einzuatmen, aber das Verfahren ist getestet. Sie werden es kaum spüren. Die Atmung wird nur etwas schwerer sein. Sie werden schneller ermüden. Dafür können Sie die brutale Beschleunigung von sechzehn G ohne Weiteres aushalten. Ich will aber nicht verschweigen, dass ein paar Kleinigkeiten zu beachten sind. Sie müssen natürlich etwas essen, während Sie fliegen. Sie können nur Spezialnahrung verwenden, die sich sofort im Mund auflöst und bereits über die Mundschleimhaut aufgenommen wird. Außerdem werden wir einen Venenzugang legen müssen, über den Sie von Zeit zu Zeit sobald Sie Durst verspüren dem Körper echtes Wasser zuführen können. Perfluorkarbon wird leider vom Körper nicht als Wasser akzeptiert. Ach ja
Sie werden Ihre Stimmbänder nicht verwenden können, sobald Sie auf Flüssigatmung umgestellt sind. Sie müssen zur Kommunikation eine Tastatur benutzen. Haben Sie sonst noch Fragen?«
Isabella hatte einen schalen Geschmack im Mund. Ihre Nackenhaare hatten sich aufgerichtet und sie empfand einen Kälteschauer, bei dem Gedanken, ihre Lungen mit einer Flüssigkeit zu füllen.
»Ich komme mir vor, wie in einem schlechten Märchen«, sagte sie. »Aber ich sehe, dass Sie jedes einzelne Wort ernst meinen. Ich soll also komplett in einer mit Flüssigkeit gefüllten Zentrale leben. Ich weiß jetzt, dass ich besondere Nahrung brauche und Wasser über einen künstlichen Zugang erhalten werde. Was wird mit meinen Ausscheidungen? Wie wird meine Haut reagieren, wenn sie viele Tage in dieser Flüssigkeit steckt?«
»Wir werden die Haut mit einer speziellen Creme schützen, die von Perfluorkarbon nicht gelöst werden kann und die nur langsam von der Haut absorbiert wird. Sie werden genügend davon an Bord haben, um sich immer wieder eincremen zu können. Es ist wichtig, den gesamten Körper damit abzudecken.«
»Wie soll das gehen?«, fragte Isabella.
»Niemand verlangt, dass Sie an Bord Kleidung tragen«, sagte Dr. Burmester. »Die Flüssigkeit wird konstant auf Körpertemperatur gehalten. Das ist notwendig, damit Sie nicht unterkühlen, oder überhitzen, da ein Austausch der Temperatur mit Luft, wie es normal wäre, nicht möglich ist. Fliegen Sie nackt, dann können Sie Ihre Haut ständig schützen.«
»Ich werde mich ganz bestimmt nicht splitternackt in dieses Schiff setzen!«, sagte Isabella bestimmt.
»Wie Sie wünschen«, sagte Dr. Burmester. »Ich empfehle jedoch, höchstens einen leichten Badeanzug zu tragen. Wir können Ihnen einen zur Verfügung stellen. Wichtig ist nur, dass Sie Ihre Haut so häufig wie möglich mit der Creme schützen. Sie sprachen Ihre Ausscheidungen an. Das ist das einzig Unangenehme. Alle Körperausscheidungen werden über eine spezielle Vorrichtung abgesaugt werden müssen, um das Perfluorkarbon nicht zu verunreinigen.«
Er holte ein eigenartig geformtes, flexibles Kunststoffteil hervor, das wie eine Art platt gedrückter Trichter wirkte.
»Hiermit werden Sie umgehen lernen müssen«, sagte er. »die Anwendung ist denkbar einfach. Wenn Sie Stuhl- oder Harndrang verspüren, klemmen Sie sich dieses Ding zwischen die Beine. Die Saugöffnungen passen sich automatisch an Ihre Körperformen an und die Anlage kümmert sich um den Abtransport der Ausscheidungen. Sie müssen nur warten, bis dieses Gerät meldet, dass Ihr Körper wieder sauber ist, dann können Sie es abziehen.«
Isabella blickte angewidert auf das Kunststoffteil in seiner Hand.
»Verdammt, auf was habe ich mich da eingelassen?«, fragte sie sich selbst.
»Ich verstehe Sie gut«, sagte Dr. Burmester. »Wir würden es auch nicht von Ihnen verlangen, wenn wir eine Wahl hätten. Sie müssen immer daran denken, dass Ihr Engagement vier Menschen das Leben retten kann.«
»Ich denke an nichts anderes. Das können Sie mir glauben.«
»Ich werde Sie jetzt mit meiner Mitarbeiterin Claudia Lamotte allein lassen, die sich um Ihre weitere Vorbereitung kümmern wird. Ich könnte mir vorstellen, dass es für Sie angenehmer ist, wenn eine Frau bei den weiteren Dingen helfen wird.«
Dr. Burmester drehte sich um und verließ die Zentrale der RISING STAR, wobei er alle anderen mitnahm. Unvermittelt stand Isabella allein in der Zentrale. Sie fühlte sich verloren. Doch es dauerte nur einen Moment, dann öffnete sich die Zentralen-Schleuse erneut und eine junge Frau erschien. Sie hatte ein große Tasche bei sich.
»Hallo, ich bin Claudia Lamotte«, rief sie gleich vom Eingang aus. »Ich werde dich jetzt für den Flug vorbereiten. Du kannst mich Claudia nennen.«
Die burschikose Art Claudias löste etwas von Isabellas Verkrampfung.
»Ich bin Isabella.«
»Ich weiß«, meinte Claudia. »Und ich hoffe, dass wir trotz der Maßnahmen, die wir jetzt gleich ergreifen müssen, noch Freundinnen werden können.«
Sie griff in ihre Tasche und holte einen Badeanzug hervor.
»Der müsste dir passen. Das Material ist leicht und verträgt sich gut mit dem PFK, mit dem nachher dieser Raum geflutet wird. Am besten legst du deine Kleidung ab. Ich werde sie mitnehmen und für dich aufbewahren.«
Isabella begann, sich auszuziehen. Sie fühlte sich, wie in einem unwirklichen Traum. Zwar war ihr bewusst, dass alles hier wirklich geschah, trotzdem betrachtete sie die Szene wie eine unbeteiligte Beobachterin. Als sie vollständig nackt war, reichte Claudia ihr eine große Tube mit einer vollkommen klaren Creme, mit der sie sich den kompletten Körper einrieb. Das Mittel fühlte sich nicht unangenehm an. Es zog innerhalb weniger Sekunden ein und man spürte nichts mehr davon.
»Diese Prozedur wirst du spätestens alle vierundzwanzig Stunden wiederholen müssen, besser etwas eher. Deine Haut wird es dir danken.«
Isabella zog den Badeanzug an. Er passte hervorragend und sah für ihren Geschmack auch ganz gut aus. Nun fühlte sie sich etwas wohler, begann aber bald zu frösteln, weil es in der Zentrale nicht so warm war, wie sie es sich gewünscht hätte.
»Ist dir kalt?«, fragte Claudia. »Das wird gleich vergehen. Das PFK wird genau auf Körpertemperatur gehalten. Das wird dir nach kurzer Eingewöhnung angenehm sein. Reich mir mal deinen linken Arm, ich muss noch den Zugang legen.«
Während sie die Vorbereitungen traf, erklärte sie: »Ich werde dir eine flexible Nadel in die Vene schieben. Das wird in den nächsten Tagen deine einzige Möglichkeit sein, dem Körper Wasser zuzuführen. Du wirst die Nadel nicht mehr bemerken, wenn ich den Einstich erst versiegelt habe. Dort drüben neben dem Ding, das dir als Toilette dienen wird, ist der Anschluss für Wasser. Schließ einfach den Schlauch an deinen Zugang an und nimm über die automatische Dosierung jeweils zwölf Einheiten, immer wenn du Durst verspürst. Du kannst auch häufiger Wasser nehmen, aber spätestens, wenn Durst im Spiel ist, musst du es tun.«
Isabella nickte. Den kurzen Einstich hatte sie fast nicht bemerkt. Claudia verstand etwas von ihrem Geschäft.
»So das wäre es auch schon«, sagte sie. »Jetzt kommt der schwierigste Teil die Umstellung auf die Flüssigatmung.«
»Jetzt schon?«, fragte Isabella ängstlich.
»Es muss sein, Isabella«, sagte Claudia. »Wir dürfen nicht zu viel Zeit vergeuden, da wir nicht genau wissen, wie lange die Menschen an Bord der DIGGER XI noch durchhalten können.«
»Ja, aber ich muss doch noch wissen, wie es mit den Zielkoordinaten ist und ...«
Claudia unterbrach sie sanft: »Isabella, ich verstehe dich vollkommen. Die Zielkoordinaten sind bereits im Navigationscomputer. Du brauchst sie nachher nur abrufen. Ich weiß, dass du eine wahnsinnige Angst hast, vor dem, was jetzt kommt, aber ich versichere dir, dass nur der erste Moment unangenehm sein wird.«
»Woher willst du das wissen? Hast du etwa schon diese Flüssigkeit geatmet?«
»Ja, das hab ich allerdings«, sagte Claudia. »Ich habe dieses Verfahren mit entwickelt und im Selbstversuch getestet. Ich muss gestehen, dass ich beim ersten Mal nicht so ruhig war, wie du jetzt.«
»Ich bin alles andere, als ruhig«, meinte Isabella. »Wenn ich könnte, würde ich jetzt sofort von hier verschwinden. Kannst du mir Tipps geben, wie ich mir selbst helfen kann?«
»Ich denke schon. Ich werde dir einige Dinge sagen, wenn es so weit ist, o. k.?«
Isabella nickte.
»Gut, dann zieh bitte diesen Anzug hier an.« Claudia zog eine Art Raumanzug aus ihrer großen Tasche. Natürlich war es kein richtiger Raumanzug, denn er war dafür viel zu dünn. Allerdings besaß er am Halsansatz einen Magnetverschluss, der einen Helm tragen konnte.
»Warum soll ich den anziehen?«, wollte Isabella wissen. »Ich dachte, ich werde die ganze Zeit über im Badezeug arbeiten müssen.«
»Das wirst du auch, aber erst müssen wir dich umstellen. Dabei hilft der Anzug.«
Mit Claudias Hilfe legte sie den - ihr viel zu weiten - Anzug an. Claudia holte noch einen Raumhelm und setzte ihn Isabella auf den Kopf. Das Visier war noch geöffnet.
»Ich werde jetzt die Anschlussschläuche für das Perfluorkarbon hinten am Anzug anschließen. Bis der komplette Raum nachher gefüllt ist, wirst du stehen müssen. Ist das ein Problem?«
Isabella schüttelte den Kopf. Sie hatte ganz andere Sorgen, als einige Zeit stehen zu müssen, was in der Schwerelosigkeit sowieso nicht sonderlich mühselig war.
»Dann schließ jetzt bitte den Helm, ich werde die Flüssigkeit langsam in den Anzug einströmen lassen.«
Mit zitternden Fingern schloss sie den Helm, der mit einem schmatzenden Laut einrastete. Sie hörte ein leises Rauschen, das ihr zeigte, dass die Pumpe für das PFK bereits lief. Um ihre Beine herum wurde es warm. Isabella war wie gelähmt. Claudia stand vor ihr und beobachtete sie aufmerksam.
»Nicht hyperventilieren!«, ermahnte sie Isabella. »Ganz normal atmen!«
Das warme Gefühl kletterte ganz allmählich an ihrem Körper empor. »Nicht so schnell atmen!«, ermahnte sie sich selbst, bekam aber die Angst nicht unter Kontrolle. Inzwischen ging ihr die Flüssigkeit bereits bis zur Brust.
»So, nun pass auf Isabella!«, rief ihr Claudia zu. »Ich weiß, dass du jetzt gern in Panik verfallen möchtest. Gleich wird das PFK den Hals und dann auch Mund und Nase erreichen. Du wirst instinktiv die Luft anhalten. Es ist nicht notwendig, aber wir kommen eben nicht gegen unsere Instinkte an. Schließ die Augen und wenn du die Luft nicht mehr anhalten kannst, presse sie mit aller Gewalt aus deinen Lungen heraus. Dein Körper wird tun, was nötig ist und sich mit frischer Luft versorgen wollen. Du wirst automatisch tief einatmen. Der erste Atemzug ist eklig, aber du wirst sehen, dass es geht.«
Claudia sah die vor Angst geweiteten Augen, als die Flüssigkeit im Helm anstieg und über Mund und Nase stieg. Isabella kniff ihre Augen fest zusammen und hielt den Atem an. Sie schaffte es sehr lange, doch dann konnte sie nicht länger aushalten. Sie begann, wild mit ihren Armen zu rudern und presste die Luft heraus, schrie förmlich dabei, was allerdings nur in einem Gurgeln endete. Der Körper forderte sein Recht und sie atmete tief ein. Isabella riss die Augen auf sie schienen ihr fast aus den Höhlen zu quellen. Sie würgte und hustete, der ganze Körper wand sich dabei unkontrolliert.
»Ruhig atmen!«, schrie Claudia sie an, um zu ihr durchzudringen. »Es ist doch schon vorbei!«
Ganz langsam hörte das Husten und Würgen auf und das Gesicht hinter der Scheibe des Helms wurde ganz allmählich ruhiger.
»Geht es?«, fragte Claudia, als sie das Gefühl hatte, Isabella würde sie wieder wahrnehmen.
Isabella streckte ihre rechte Hand vor und reckte den Daumen nach oben. Claudia war beruhigt.
Isabella spürte noch immer ihren Herzschlag bis zum Hals. Die letzten Sekunden waren schrecklich gewesen. Nun wusste sie, wie sich ein Mensch fühlen musste, der ertrinken musste, nur dass sie nicht ertrunken war. Nachdem endlich sämtliche Luft aus ihrer Lunge entwichen war, stellte sich ein wohliges Gefühl ein. Ihr Körper bekam genügend Sauerstoff, obwohl sie nur noch Flüssigkeit in ihren Lungen hatte. Das Atmen war nur etwas anstrengend. Sie musste sich noch auf die Atmung konzentrieren. Sie konnte Claudia erkennen, die vor ihr stand. Ihre Stimme klang dumpf und weit entfernt, aber sie konnte sie durchaus verstehen. Sie erklärte, dass sie die Zentrale verlassen und verschließen würde. Anschließend würde das Befüllen der Zentrale mit PFK erfolgen. Dieser Vorgang würde eine Weil dauern. Sie solle warten, bis die Zentrale vollständig mit Flüssigkeit gefüllt ist, erst dann könne sie den Anzug ausziehen.
»Ich wünsche Dir viel Glück, Isabella«, sagte Claudia laut. »Komm heil zurück und bring die Leute von der DIGGER XI mit. Ich leg dir noch eine Spezialbrille auf die Konsole. Sie korrigiert den Lichtbrechungskoeffizienten von Perfluorkarbon. Ich denke, sie wird dir helfen. Bis dann!«
Claudia winkte ihr noch einmal zu. Isabella hob ebenfalls eine Hand. Dann war sie allein. Sie blickte sich um und sah, dass aus einem Schlauch bereits PFK in die Zentrale strömte.
Bis die Zentrale vollständig gefüllt war, dauerte es fast sieben Stunden. Am längsten hatte es gedauert, die vielen Luftblasen zu entfernen, die in der Schwerelosigkeit eben nicht nach oben entwichen. Sie mussten jedoch entfernt werden, weil sie Isabella Probleme gemacht hätten, wenn sie nach ihrer Umstellung versehentlich eingeatmet wurden. Sie zog ihren Anzug aus und stellte fest, dass sie sofort das Gefühl bekam, die Luft wäre frischer als in ihrem Anzug.
»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, hörte sie Dr. Burmesters Stimme. »Wir werden das Schiff verlassen und uns ein Stück entfernen. Wenn es so weit ist, geben wir Ihnen Starterlaubnis.«
Es musste irgendwo ein Lautsprecher sein, aber wo er war, konnte Isabella nicht entdecken. Die Schallübertragung in der Flüssigkeit ließ eine Richtungsbestimmung nicht zu. Also wollte sie zur Hauptkonsole. Dabei stellte sie fest, dass das PFK erheblich mehr Widerstand erzeugte, als Luft. Sie musste schwimmen, um an ihr Ziel zu gelangen. Was sie am meisten überraschte, war die Tatsache, dass sie sich in diesem fremden Medium doch im Grunde wohlfühlte.
Auf der Konsole lag noch die Brille, die Claudia dort hingelegt hatte. Sie setzte sie auf und konnte sofort klarer sehen. Diese Gläser würden noch wichtig werden. In der Konsole war eine Tastatur eingelassen. Ihre Stimmbänder würde sie in der nächsten Zeit nicht benutzen können. Da ihr Körper vollständig mit Flüssigkeit gefüllt war, würden ihre Stimmbänder nicht schwingen können. Alle Kommunikation würde von ihrer Seite aus schriftlich erfolgen müssen. Sie schaltete die übliche Frequenz der Flotte am Funkgerät ein und koppelte den Sender mit ihrer Tastatur.
»Ich bin soweit«, tippte sie ein. »Die RISING STAR ist bereit zum Start.«
»Sie können in fünf Minuten starten«, kam es aus dem Lautsprecher. »Dann haben wir genügend Abstand.«
»In Ordnung«, tippte Isabella. »Ich werde in fünf Minuten auf Kurs gehen.«
Sie rief die Zielkoordinaten der DIGGER XI aus dem Navigationscomputer ab und lud sie in den Kursrechner der Pilotenkonsole. Nach kurzer Zeit erfuhr sie, dass sie nach einigen kleinen Manövern, die sie aus dem stark frequentierten Raum um den Mond herausführen sollten, auf Zielkurs gehen konnte. Das Ziel lag in einer Entfernung von fast siebentausend Millionen Kilometern. Eine nahezu unvorstellbare Entfernung. Nach Zündung des Antimaterie-Triebwerks würde sie fast zweiundvierzig Stunden beschleunigen müssen. Danach musste sie wenden und weitere zweiundvierzig Stunden bremsen. Wenn alles glattging, würde sie dann die DIGGER XI erreichen und die Besatzung noch lebend vorfinden. Ihr fiel ein, dass sie überhaupt nicht wusste, was sie am Ziel eigentlich tun sollte. Erneut griff sie zur Tastatur.
»Wie stellt Ihr euch eigentlich die Rettung vor Ort vor?«, fragte sie. »Ich werde das Schiff nicht verlassen können.«
»Die Besatzung der DIGGER XI wird das Schiff aufgeben und in Raumanzügen zur RISING STAR wechseln müssen.«
»Und wie soll der Rückflug vonstattengehen? Ich will sie nicht retten, um sie anschließend in Brei zu verwandeln, wenn ich das Triebwerk starte.«
»Dafür ist gesorgt. Wir haben die Schleuse präpariert, die sie nehmen müssen, wenn sie an Bord kommen. Leider werden wir bei ihnen nicht so schonend vorgehen können, wie bei Ihnen, Isabella. Die Schleuse wird innerhalb weniger Sekunden mit Perlfluorkarbon geflutet, sobald sie die äußere Schleuse verriegelt und ihre Raumanzüge abgelegt haben. Anschließend müssen Sie die Leute zu sich in die Zentrale lassen über Schleusenkammer 2. Den Wasserzugang kann die Kommandantin der DIGGER XI bei den Geretteten selbst legen. Sie hat die notwendigen Kenntnisse. Von der Körpercreme können Sie ihnen abgeben. Es ist genug da. Wenn das alles erledigt ist, kehren Sie zur Erde zurück. Haben Sie sonst noch Fragen?«
»Ich denke, jetzt ist alles so weit klar«, tippte sie zurück. »Die fünf Minuten sind um. Wünscht mir Glück!«