1. Florida

 

1.4 Der Tank - Teil 3/3

Später saßen sie satt und träge um den Tisch verteilt. Der Essensgeruch hatte noch zwei weitere Mitglieder der Gruppe angelockt. Sie konnten gar nicht genug Lobeshymnen auf das tolle Essen anstimmen, sodass es Isabella schon beinahe peinlich war. Im Laufe des Abends stellten sie fest, dass sie sich eigentlich alle gut verstanden. Die Konkurrenzkämpfe der vergangenen Wochen schienen vergessen zu sein. Der Schock über die Erlebnisse im Tank saß ihnen allen noch in den Knochen und die Endergebnisse konnten sie sowieso nicht mehr beeinflussen. Das hatte sie zusammengeschweißt und sorgte für einen entspannten Abend.
Später gingen sie auf ihre Zimmer, um am nächsten Tag fit zu sein, wenn die Ergebnisse verkündet werden sollten. Auch Isabella und Jan trennten sich schweren Herzens nach zahllosen Abschiedsküssen. Jan hatte gehofft, dass sie mit zu ihm kommen würde, doch sie hatte darauf bestanden, nichts zu überstürzen.
Es wurde eine unruhige Nacht.
Jan wälzte sich stundenlang in seinem Bett herum. Immer wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, wie er punktemäßig gegenüber seinen Mitbewerbern abgeschnitten hatte. Eigentlich hatte er ein ganz gutes Gefühl. Doch, was war mit Isabella? Was wäre, wenn es nur einer von ihnen auf den Mond reisen durfte? Der Gedanke, sich bereits jetzt wieder trennen zu müssen, war ihm unerträglich. Er musste sich eingestehen, dass es ihn ganz schön erwischt hatte, und er fragte sich, ob es ihr wohl ebenso erging, wie ihm.
Irgendwann übermannte ihn schließlich die Müdigkeit und er schlief endlich ein.
Am Morgen hatten sie eben ihr Frühstück beendet, als ein Fahrer von der NASA hereinkam.
»Guten Morgen, meine Herrschaften. Ich bin angewiesen, Sie zum Startkomplex 39 zu bringen. Wenn Sie mich bitte begleiten würden?«
»Uns alle?«, fragte Nelson Dwhite.
»Was dachten Sie denn?« Der NASA-Mann hob überrascht die Brauen. »Draußen steht ein Bus. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn wir gleich starten könnten. Ihre Sachen können Sie hierlassen. Sie haben später noch genug Zeit zum Packen.«
Er ging zur Tür hinaus und ließ die verunsicherten Anwärter zurück.
»Was hat das nun wieder zu bedeuten?«, fragte Arina.
Pelle zuckte mit den Schultern. »Vermutlich nichts. Vielleicht will Homer Sherman einfach nur einen großen Auftritt. Heute sollen ja die Ergebnisse bekannt gegeben werden.«
»Das kann natürlich sein.« Jan machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ist Startkomplex 39 nicht die Anlage für die Apollo- und später die Shuttle-Missionen? Dort steht eine riesige Montagehalle.«
Isabella stand auf. »Wenn wir nicht hinausgehen und in diesen Bus steigen, werden wir es wohl nicht erfahren.«
Sie zog Jan hoch. »Komm schon, oder bist du nicht neugierig auf unsere Ergebnisse?«
»Ich weiß nicht. Ich habe ein mulmiges Gefühl.«
Isabella lachte humorlos auf. »Jetzt fang du nicht damit an. Erst machst du mir Mut und dann bekommst du selbst kalte Füße. Was immer wir tun konnten, haben wir getan. Ändern können wir jetzt sowieso nichts mehr. Nun komm endlich, die anderen sind schon fast alle beim Bus.«
Gemeinsam traten sie aus dem Haus und stellten fest, dass sie tatsächlich die Letzten waren. Sowie sie im Wagen Platz genommen hatten, fuhren sie los. Von der Ausgelassenheit des letzten Abends war nichts mehr übrig geblieben. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Jan hielt Isabellas Hand und drückte sie, doch sie schwiegen fast die ganze Fahrt über und sahen aus dem Fenster.
Als sie sich dem VAB, dem Vehicle Assembly Building von Startkomplex 39 näherten, ging ein Raunen durch die Reihen. Das Gebäude wirkte von Weitem wie ein gigantischer Würfel. Jan überlegte, was man ihm darüber erzählt hatte. Mit einer Höhe von 160 Metern war es der größte Hallenbau der Welt. Zutritt war nur NASA-Mitarbeitern und Mitgliedern der US-Regierung gestattet. Und nun waren sie auf dem Weg dorthin. Das Gebäude ragte immer höher vor ihnen auf, doch sie waren noch längst nicht am Ziel.
Nachdem er vor einem der Haupttore angehalten hatte, empfing sie eine junge Angestellte mit langen, blonden Haaren und einer engen Jeans. Dazu trug sie eine blassblaue Bluse mit einem NASA-Emblem auf dem Kragen. In ihrer Hand hielt sie ein Klemmbrett mit einer Liste sowie eine Reihe von Namensschildern.
»Willkommen im VAB, dem Allerheiligsten unseres aktuellen Raumfahrtprogramms. Mein Name ist Lindsey und meine Aufgabe ist es, Sie in die Anlage zu führen. Da es Außenstehenden normalerweise untersagt ist, diese Halle zu betreten, werde ich nun jedem von Ihnen eine Sicherheitsplakette aushändigen. Bringen Sie sie gut sichtbar an ihrer Kleidung an.«
Anschließend rief sie die Namen aller Anwärter auf, bis sie alle mit den Plaketten versorgt hatte.
»Meine Güte, die sieht wirklich heiß aus«, flüsterte Pelle Jan ins Ohr. »Ob das hier die übliche Dienstkleidung für die Mädels ist?«
»Du hast recht, sie hat eine Klassefigur«, flüsterte Jan ebenfalls, doch Isabella hatte es bereits mitbekommen und stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite.
»Aua!«
»Das hast du dir verdient!« Isabella grinste ihn frech an.
»Schauen wird doch wohl noch erlaubt sein ...«
Pelle lachte laut. »Das fängt ja schon früh an mit euch beiden.«
Lindsey hatte sich abgewandt und schritt auf das große Tor zu, das einen Spalt weit offenstand. Jan legte seinen Kopf in den Nacken und konnte es kaum fassen. Allein das Tor musste eine Höhe von über hundert Metern haben. Sie folgten ihrer Führerin und betraten schließlich das Gebäude.
Im Innern war es nicht so dunkel, wie es von außen ausgesehen hatte. Helle Bogenlampen, die in verschiedenen Höhen angebracht waren, setzten äußerst imposant ein gewaltiges Raketengebilde in Szene, das auf einer nicht minder gewaltigen Lafette ruhte, die von zahlreichen Gleisketten getragen wurde. Die Spitze dieses Gebildes war von ihrem Standort aus nicht zu sehen. Jan zweifelte jedoch nicht daran, dass es die Höhe des Tores fast erreichte.
»Mein Gott!« Pelle starrte andächtig auf das Raumfahrzeug. »Weißt du, was das ist?«
»Ich denke, es ist eines der neuen Moonshuttles«, vermutete Isabella. »Ich habe Fotos davon gesehen, aber wir sind zu nah dran, um es genau sagen zu können.«
»Meinst du wirklich?« Jan sah sie fragend an.
»Was soll es denn sonst sein?«
Lindsey war stehen geblieben und wandte sich ihnen lächelnd zu. Jan entdeckte Belustigung in ihrer Miene. Vermutlich bekam sie häufiger Reaktionen wie ihre zu sehen.
»Was Sie hier sehen, ist die Gegenwart und Zukunft des gemeinsamen Raumfahrtprogramms der UNO: die Moonshuttle-1. Sie hat eine Höhe von 132 Metern und ist in der Lage, den Flug zum Mond, sowie eine Landung auf unserem Trabanten vorzunehmen. Sie haben sicherlich vor vier Monaten den Jungfernflug dieses Raumschiffs in den Medien verfolgt. Inzwischen ist das Schiff komplett überprüft und für den nächsten Einsatz vorbereitet. In Kürze wird die Moonshuttle-1 zum Startplatz transportiert. Ich denke, ich verrate nicht zu viel, wenn ich Ihnen sage, dass sieben Mitglieder Ihrer Gruppe beim nächsten Start der Monnshuttle 1 an Bord sein werden.«
Jan wusste nicht, was die anderen fühlten, aber er empfand eine gewisse Ehrfurcht angesichts dieses Raumschiffs. Den Kopf im Nacken versuchte er, Einzelheiten an der Spitze dieses Fliegers auszumachen, doch der Blickwinkel ließ es nicht zu. Als er den Blick wieder senkte, sah er direkt in Isabellas Augen.
»Unvorstellbar, nicht wahr?«
Jan nickte versonnen. »Ob es uns vergönnt sein wird, dieses Ding näher kennenzulernen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe aufgehört, darüber nachzudenken. Es macht mich nur verrückt.«
Vom großen Tor näherte sich ihnen eine weitere Gruppe, die ebenfalls von einer hübschen jungen Frau angeführt wurde und die Lindsey erstaunlich ähnlich sah. Jan sah, dass die beiden Frauen sich sehr herzlich begrüßten.
»Das ist meine Zwillingsschwester Kimberley«, meinte Lindsey. »Sie bringt uns den Rest Ihrer Gruppe. Es wird nun nicht mehr lange dauern, bis Homer Sherman mit den Ergebnissen erscheinen wird.«
Gina, die der zweiten Gruppe zugeteilt worden war, winkte heftig, als sie Pelle, Jan und Isabella entdeckt hatte. Jan winkte zurück, während Pelle so tat, als habe er nichts bemerkt.
»Hey, dort ist Gina!« Jan deutete mit der Hand in Ginas Richtung. Sie kam bereits auf sie zu.
»Schön, Euch wiederzusehen. Wie geht es dir, Pelle?«
»Gut.« Seine Stimme klang kälter als notwendig und Jan stutzte. Fragend blickte er seinen Freund an.
»Pelle, darf ich vorstellen? Gina Daccelli, ein bildhübsches Mädchen, das mit uns zusammen in einer Bar war. Was ist denn in dich gefahren?«
»Nichts.«
Gina zog ein genervtes Gesicht und winkte ab. »Der Herr schmollt. Er wollte mich am Telefon dazu überreden, mit ihm zu gehen. Ich habe eingewendet, dass wir darüber noch einmal reden sollten, wenn wir die Ergebnisse kennen.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Herr Larsson!«, fuhr ihn Isabella an. »Gina hat dir doch keinen Korb gegeben. Ich finde, wir sind in einer besonderen Situation, die etwas Zurückhaltung durchaus verständlich macht.«
»Sagt wer?« Pelle stemmte seine Fäuste in die Seiten. »Ich kann bei Euch beiden nun wirklich keine Zurückhaltung bemerken! Aber das ist es auch gar nicht.« Er sah auffordernd zu Gina hinüber. »Du solltest ihnen auch von Francesco erzählen, wenn du schon alles hinausposaunst.«
Gina rollte mit den Augen. »Ich fasse es nicht! Du hörst auch nur das, was du hören willst. Ja, es gab einen Francesco in meinem Leben und ich habe dir von ihm erzählt.  Aber doch nur, um dir zu erklären, dass wir unsere Beziehung beendet haben, als ich ihm sagte, dass ich nach Amerika gehen werde. Was hast du erwartet? Dass ein italienisches Mädchen in meinem Alter noch Jungfrau ist und auf ihren Prinzen wartet? Dann solltest du dir deine Freundin nach deinen Vorstellungen selbst backen!«
»Gina, bitte ...!
»Ist doch auch wahr ...!«
Isabella sah zwischen den beiden hin und her. »Kurze Frage: Mögt Ihr Euch?«
»Isabella, das ist jetzt nicht ...«, begann Pelle, wurde jedoch von Isabella unterbrochen.
»Mögt Ihr Euch? Ja oder nein?«
»Ja«, meinten beide im Chor und klangen sehr zerknirscht.
»Dann klärt das, verdammt noch mal!«
Jan hatte Isabella noch nie so energisch gesehen. Pelle und Gina standen wie gescholtene Kinder nebeneinander und blickten starr geradeaus, um ja nicht den Blick des anderen zu erhaschen.
Ihre Meinungsverschiedenheit war vergessen, als Homer Sherman mit einigen Begleitern in einem Elektrowagen angefahren kam. Lächelnd stieg er aus und hielt einige Unterlagen in der Hand.
Die Gespräche der Anwesenden verstummten. Zweiundzwanzig Personen waren es noch, die gespannt auf das warteten, was Homer ihnen nun sagen würde. Jeder versuchte, die Nervosität auf seine Weise zu bewältigen. Manche kauten an ihren Nägeln, andere liefen ständig hin und her, einige standen still und blickten mit gespannter Miene auf Homer Sherman, der lächelnd in die Runde sah. Jan und Isabella hatten sich absichtlich nicht nebeneinandergestellt, da sie nicht wussten, wie es von ihren Prüfern aufgenommen würde, wenn sie sich als Paar präsentierten. Jan entdeckte Nelson Dwhite etwas abseits, an eine Säule gelehnt. Nachdem er offenbar am Vortag bei ihm ins Schwarze getroffen hatte, schien Nelson sehr um seine Lässigkeit bemüht. Aus diesem Grunde mied er ihn, worüber Jan ihm in gewisser Weise sogar dankbar war.

Homer machte es spannend und wartete, bis absolute Ruhe eingetreten war. »Meine Damen und Herren, heute ist es so weit. Die Tests und Prüfungen sind abgeschlossen. Ich hatte bereits vor der letzten Prüfung im Tank gesagt, dass ihr bei den Punkten dicht beieinanderliegt. So hat tatsächlich erst die letzte Prüfung die Spreu vom Weizen getrennt, obwohl es etwas unfair ist, es so auszudrücken. Jeder Einzelne von euch hat sich tapfer durch alle Tests und Prüfungen gekämpft. Ihr alle hättet es verdient, an der Akademie zu studieren. Leider können wir nur sieben von euch ein solches Angebot machen. Ihr werdet feststellen, dass viele Kandidaten bereits nicht mehr hier sind. Sie hatten bei der letzten Prüfung versagt oder verfielen in Panik, sodass wir sie herausholen und teilweise ärztlich versorgen mussten. Das war bei euch allen – die ihr noch hier seid – nicht der Fall. Trotzdem gab es gravierende Unterschiede, wie jeder Einzelne mit dem Stress, der Einsamkeit und der Dunkelheit umgegangen ist. Ich werde am unteren Ende anfangen. Die ersten Personen, die ich nennen werde, haben es somit nicht geschafft, in die Raumfahrt-Akademie auf dem Mond aufgenommen zu werden. Allerdings werden wir auch ihnen ein Angebot für die Bodenstationen hier auf der Erde unterbreiten. Ihr müsst dann selbst entscheiden, ob ihr davon Gebrauch machen wollt.«
Homer nahm den ersten Bogen in die Hand.
»Ludger Walken hat es zwei Stunden im Tank ausgehalten. Er hat es leider nicht geschafft. Bei Thomas Geitner war es fast genau so. Er war nur wenig länger als zwei Stunden im Tank. Nicht geschafft. Lena Ribault, zweieinhalb Stunden, leichte Panik-Attacken zwischendurch. Nicht geschafft.«
So ging es weiter. Die Betroffenen machten enttäuschte Gesichter. Bei jedem weiteren Namen zuckte Jan zusammen. Er suchte Isabellas Blick und fand ihn auch. Sie hatte Angst, das konnte er ganz deutlich sehen.
»Arina Tchustnic, vier Stunden im Tank, dann allerdings Probleme bei der Abschaltung der Luftversorgung. Es war knapp, hat aber nicht gereicht – es tut mir leid.«
Nun nahm Homer ein anderes Blatt in die Hand. Erst jetzt wurde es Jan klar, dass bisher weder er noch Isabella und Pelle genannt worden waren. Sein Herz begann zu schlagen, dass er glaubte, jeder müsse es bemerken.
»Kommen wir nun zu den Kandidaten, die es tatsächlich geschafft haben. Wir haben es uns dabei wirklich nicht leicht gemacht. Wir mussten bei der Beurteilung sowohl die persönliche Leistung der Prüflinge, die Einsamkeit zu ertragen, als auch die Reaktion auf den Stresstest bewerten. Auch wenn es manchem vielleicht so schien, als wäre er völlig alleingelassen worden, war es definitiv nicht so. Wir haben den Zustand jedes Enzelnen zu jedem Zeitpunkt überprüft und haben sogar das Gesicht über eine Mikrokamera im Helminnern überwacht. So konnten wir den Beginn des Stresstests sehr individuell wählen. In der Regel haben wir damit begonnen, wenn wir den Eindruck gewannen, dass die Grenzen der normalen Belastbarkeit nahezu erreicht waren. Nelson Dwhite hat es sieben Stunden im Tank ausgehalten und nach leichten Problemen die Notversorgung einschalten können. Das ist Platz Sieben. Robert Meindorf war eine halbe Stunde länger im Becken. Platz Sechs. Pelle Larsson, neun Stunden und ebenfalls ganz passabel reagiert, als die Luft abgestellt wurde. Platz Fünf. Isabella Grimadiu, neuneinhalb Stunden, souveräner Umgang mit dem Notsystem. Platz Vier. Yves Dolbèrt. Zehn Stunden im Tank. Keine Probleme mit der Notversorgung. Platz Drei. Nun kommen wir zu unseren Ausnahmekandidaten. Ich muss es einfach gesondert erwähnen: Die beiden, die ich jetzt nennen werde, zeigten sich im Test derart belastbar, dass wir die Stressprüfung sogar noch verschärft haben und sie bis zum Ende der Atemluft im Notsystem ausgedehnt haben.«
Ein Raunen ging durch die Menge der Kandidaten. Der Eindruck der Prüfung war ihnen noch frisch im Gedächtnis, sodass sie wussten, was diese beiden geleistet hatten.
»Gina Daccelli war neunzehn Stunden im Wasser, das bedeutet Platz Zwei und bei Jan Lückert waren es, sage und schreibe fünfundzwanzig Stunden. Die Luft war zu Ende und wir holten ihn raus. Was dann kam, war kein gebrochener junger Mann, sondern ein wütender und er machte dem auch lautstark Luft. Jan, du hast einen neuen Rekord im Tank aufgestellt. Herzlichen Glückwunsch – das ist der erste Platz.«
Jan begriff erst nicht, was er da gehört hatte. Er sah zu Isabella hinüber, die ihn bereits ansah. Plötzlich verzogen sich ihre Gesichter zu einem triumphierenden Lachen, als sie begriffen, dass sie gemeinsam auf den Mond fliegen würden. Fast gleichzeitig sprangen sie in die Luft und stießen einen markerschütternden Schrei aus. Homer, der eben erst Gina die Hand geschüttelt hatte, blieb vor Jan stehen und grinste ihn an.
»Auch dir noch einmal alle Glückwünsche der Akademie, Jan.«
Er warf einen Seitenblick in Isabellas Richtung. »Und jetzt hört mit Euren Spielchen auf. Ich weiß genau, was in meinen Prüfgruppen los ist. Lauf endlich zu deiner Freundin und freue dich gemeinsam mit ihr.«
Das ließ Jan sich nicht zwei Mal sagen, ließ Homer einfach stehen und stürmte unvermittelt los. Er griff Isabella und schleuderte sie einmal im Kreis, dann setzte er sie ab und küsste sie heftig. Die umstehenden Kandidaten spendeten ihnen Applaus, worauf sie auseinanderfuhren.
»Was soll das?«, fragte Isabella.
Pelle, der sich zu ihnen gesellt hatte, meinte: »Das soll bedeuten, dass jeder hier im Raum schon länger wusste, dass ihr eigentlich ein Paar seid – nur ihr beiden zunächst nicht. Jetzt freuen sich alle, dass es mit euch geklappt hat.«
Nelson Dwhite kam auf Jan zu und reichte ihm die Hand. Nach kurzem Zögern ergriff er sie.
»Ich gratuliere dir, Jan. Könnten wir nicht noch einmal von vorn anfangen? Ich glaube, ich war reichlich unausstehlich zu dir.«
»An mir soll es nicht liegen, Nelson«, antwortete Jan. »Ich gratuliere dir auch zur bestandenen Prüfung.«
Nach und nach kamen auch die Übrigen hinzu: Robert Meindorf, der zweite Bewerber aus Deutschland, Yves Dolbèrt aus Frankreich und Gina Daccelli aus Italien. Allen stand die Freude über den Einzug in die Akademie ins Gesicht geschrieben.
Homer gesellte sich zur Gruppe der sieben neuen Studenten. »Einige Dinge müssen euch klar sein. Wir werden in den kommenden Tagen eine offizielle Aufnahmefeier veranstalten, zu der ihr auch eure Familien einladen dürft. Für den Hin- und Rückflug kommt selbstverständlich die Akademie auf. Teilt Euren Angehörigen am besten schon mit, dass heute in einer Woche – am nächsten Samstag – die Feier stattfinden wird. Wer früher anreisen möchte, kann hier auf dem Gelände wohnen. Im Rahmen der Aufnahmezeremonie wird noch etwas anderes geschehen, das euch vielleicht bisher nicht bewusst war: Eure bisherige Staatsangehörigkeit wird mit Überreichung der Urkunden eingefroren. Von diesem Zeitpunkt an untersteht ihr einzig und allein der UNO, die für die Führung der Raumfahrt-Akademie zuständig ist. Für euch besteht für die Dauer der Mitgliedschaft in der Akademie und eventuell später auch darüber hinaus in der UNO-Reisefreiheit in allen Staaten, die der Organisation angeschlossen sind. Aus welchen Ländern ihr auch immer stammt, ab jetzt seid ihr Weltbürger. Sollte jemand Probleme damit haben, sollte er es jetzt sagen.«

Homer Sherman blickte in die Runde, doch niemand äußerte Bedenken. Er musste unwillkürlich lächeln, als er die schweigenden, ernsten Gesichter sah. Er hatte auch nicht wirklich mit Widerspruch gerechnet.
An diesem Tag wurde noch ausgelassen gefeiert. Selbst die Bewerber, denen kein Platz in der Akademie zugeteilt werden konnte, feierten mit. Homer Sherman drückte beide Augen zu und erlaubte sogar, dass Alkohol ausgeschenkt wurde. Er gönnte es den jungen Leuten, sich noch einmal richtig auszutoben, denn er wusste: Wenn sie erst einmal auf dem Mond wären, dann würden sie lange Zeit keine Gelegenheit mehr haben, sich einfach gehen zu lassen. Er ließ seinen Blick durch die Menge schweifen. Es waren gute Leute – die Besten der Besten – selbst die Bewerber, die keine Fahrkarte zum Mond erhalten hatten. Er würde sich dafür einsetzen, dass auch ihnen ein gutes Angebot gemacht werden würde.
Er sah Jan und Isabella zusammen tanzen. Die beiden waren ihm schon seit einer Weile aufgefallen und er war sich sicher gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit sein konnte, bis aus ihnen ein Paar würde. Er lächelte. Sie passten gut zusammen. Sollten sie die Unbeschwertheit einer jungen Beziehung genießen. Bald würde es auf den Mond gehen. Dort würde es für sie noch kompliziert werden, eine solche Beziehung aufrechtzuerhalten. Früh genug würden sie erfahren, dass das Leben im All seinen Tribut fordern würde. Dann umwölkte sich sein Blick und er wurde ernst. Isabella war ein Problem. Sie stammte aus Rumänien und ihr Heimatland hatte einen Geheimdienstagenten auf sie angesetzt. Zwar hatte er Gheorghe Papu in seine Schranken verwiesen, doch man hatte ihm berichtet, dass er sich noch immer in der Nähe aufhielt. Zur Feier würden die Familien der neuen Studenten anreisen. Würde Rumänien Isabellas Familie anreisen lassen? Würde sie unter starker Bewachung stehen? Könnte er überhaupt etwas für Isabella tun? Er wusste es nicht. Es wäre nicht schlecht, diese Sache einmal zu überdenken und alte Seilschaften wiederzubeleben. Auch er hatte eine Vergangenheit und nicht immer war er besonders stolz darauf.
Langsam ging er zur Tür und schloss sie leise hinter sich.