4. Jumper-Prüfung

 

4.4 Langer Marsch - Teil 1/2

Als sich seine Gedanken wieder klärten, wurde ihm bewusst, dass er mit seinem Anzug komplett im Sand begraben war. Er wartete einen Moment, bis sich das Gefühl für oben und unten einstellte. Er versuchte, seine Arme oder Beine zu bewegen, was erstaunlicherweise relativ leicht ging. Der Staub war also locker. Es schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er vielleicht mit jeder Bewegung tiefer im Staub versinken würde. Schweiß begann sich auf seiner Stirn zu bilden. Die Kühlung seines Anzuges arbeitete auf Hochtouren. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Was hatten sie ihm über den Mondstaub erzählt? Er besaß eine ganz eigene Konsistenz und war so fein, dass er die Eigenschaften einer zähen Flüssigkeit hatte.  Da fiel ihm Eva ein.
»Eva!«, rief er. »Bist du in Ordnung?«
Es kam keine Antwort. Hatte man ihnen nicht gesagt, dass der Staub Funkwellen störte? Wie sollte er jemals Kontakt zu Eva oder der Basis aufnehmen können, wenn er in dem verdammten Staub feststeckte? Jan wunderte sich, dass er plötzlich seine Situation ganz nüchtern beurteilen konnte. Er musste einfach versuchen, aus diesem Gefängnis herauszukommen. Er erinnerte sich, dass er kurz vor ihrem Absturz überall kleine Felsen gesehen hatte. Es konnte also hier nicht so tief sein. Wenn er es schaffte, festen Boden unter die Füße zu bekommen, könnte er versuchen, einen Weg nach oben zu finden. Jan machte sich keine Illusionen darüber, was geschehen würde, wenn er es nicht schaffen würde, an die Oberfläche zu kommen. Die Luft in seinem Anzug reichte noch für etwas mehr als zehn Stunden, danach wäre es vorbei.
Jan begann, mit Armen und Beinen zu strampeln. Erst konnte er nicht feststellen, ob seine Bemühungen etwas bewirkten, doch schließlich spürte er Widerstand unter seinem linken Fuß. Er war am Grund angekommen. Nun wünschte er sich, er könnte etwas sehen, aber das ließ der dichte Staub nicht zu. Vorsichtig tastete er den Boden ab und entschied, dass es sich nach rechts so anfühlte, als wenn er dort leicht anstieg. Langsam setzte er sich in Bewegung, wobei der feine Staub um seinen Anzug herum floss, wie eine träge Flüssigkeit. Es war ungeheuer anstrengend, aber schon nach den ersten Schritten wurde klar, dass diese Richtung weiter nach oben führte. Die Hoffnung darauf, an die Oberfläche zu gelangen, trieb ihn zu Höchstleistungen an. Nach einer Viertelstunde war es so weit und er wurde vom grellen Licht auf der Mondoberfläche geblendet, bis der automatische Filter des Helmvisiers reagierte und abblendete. Jan kämpfte sich komplett aus dem Staub heraus und stand auf einem ausgedehnten Felsen. Er drehte sich einmal um seine eigene Achse und fand den Jumper, der zur Hälfte aus dem Boden ragte. Von Eva war keine Spur zu entdecken.
»Eva!«, rief Jan wieder. »Wenn du mich hören kannst, melde dich!«
Er erhielt keine Antwort. Der Jumper steckte mit seinem kompletten Heck im Boden und lehnte mit der Seite seiner Plattform gegen den Felsen, auf dem Jan stand. Er lief daher auf dem Felsen entlang zum Jumper. Auf den ersten Blick erkannte er, dass man mit diesem Fahrzeug nichts mehr anfangen konnte. Die scharfkantigen Felsen hatten die Treibstoffleitungen zerrissen und der Brennstoff war in den Boden gelaufen. Jan bückte sich, um unter die Plattform zu blicken, doch nirgends war etwas von Eva zu sehen.
»Eva! Wo steckst du?«
Hinter den hoch vor ihm aufragenden Sitzen des Jumpers sah er Staubschuhe stecken. Es handelte sich dabei um eine Weiterentwicklung der auf der Erde gebräuchlichen Schneeschuhe. Sie hatten ein Verbindungssystem, das unter den Schuhen des Raumanzuges einrasten konnte. Mithilfe dieser Schuhe war es möglich, unbeschadet über den Staub zu laufen. Er kletterte auf das Wrack des Jumpers und versuchte, die Staubschuhe zu angeln. Der schwere und ungefüge Raumanzug machte ihm diese Arbeit nicht leicht. Nach einigen Versuchen gelang es endlich und sie lösten sich, wobei sie auf ihn herabfielen.
Er fluchte und achtete darauf, nicht an seinem empfindlichen Helmvisier getroffen zu werden. Als er wieder nach oben schaute, bemerkte er den kleinen Kasten, im Fußraum des Sitzes, auf dem Eva gesessen hatte. Es war der Notsender, doch er wirkte etwas eigenartig. Er schirmte mit der Hand das grelle Sonnenlicht ab und versuchte, zu erkennen, was ihn am Notsender gestört hatte. Als seine Augen sich an die Dunkelheit vor dem Sitz gewöhnt hatten, sah er es: Der kleine Kasten war aufgerissen und einige Kabel ragten heraus. Dieses Funkgerät würde sicherlich keine Signale mehr senden können.
Seufzend nahm Jan sich zwei der Schuhe und klickte sich mit seinen Anzugschuhen darauf fest. Testweise machte er ein paar Schritte und stellte beruhigt fest, dass er nicht mehr als ein paar Zentimeter in den Staub einsank. Jetzt war er wenigstens beweglich und konnte sich auf die Suche nach Eva machen. Sie musste hier irgendwo sein. Sie hatten nebeneinandergesessen und ihre Gurte waren im selben Augenblick gerissen. Sie konnte einfach nicht wesentlich weiter geschleudert worden sein als er.
Jan regelte die Empfangsempfindlichkeit seines Helmfunks auf die höchste Stufe und begann, auf einem spiralförmigen Kurs vom Jumper weg zu laufen, in der Hoffnung, dabei auf Eva zu stoßen. Ständig rief er nach ihr. Es war ihm absolut klar, dass sie – ebenso wie er – unter dem Staub begraben sein konnte. Er hoffte jedoch, etwas hören zu können, wenn er direkt über ihr war.
Jan stapfte bereits seit einer Stunde in immer größer werdenden Kreisen um den Jumper herum und seine Hoffnung, Eva zu finden, schwand immer mehr dahin, als er etwas entdeckte. Ein kleiner weißer Fleck schimmerte in der grauen Fläche des Mondbodens. Er lief, so schnell es seine Staubschuhe zuließen, darauf zu und griff danach. Es war ein Handschuh, wie auch er sie an seinem Raumanzug hatte. Jan zog daran, und eine wilde Freude erfasste ihn, als er den Arm eines Raumanzuges aus dem Staub zog. Immer wieder rief er Evas Namen und versuchte, den Anzug aus dem Staub zu befreien. Er hatte sie gefunden, doch bewegte sie sich nicht. Offenbar war sie zumindest ohne Bewusstsein. Er hoffte, dass es nicht Schlimmeres war. Es dauerte eine Weile, bis er Evas ganzen Körper aus dem Staub befreit hatte. Jan wünschte sich, einen Blick hinter das spiegelverglaste Visier von Evas Anzug werfen zu können, dann hätte er ihren Zustand besser beurteilen können.
Jan überlegte. Was hatten sie ihnen bei den Tests auf der Erde gesagt? Die Anzüge verfügten über einen externen Datenport, über den man Vitaldaten des Trägers erhalten konnte. Er tastete am Gürtel seines Anzuges herum, denn dort musste ein Fach existieren, in dem das Anschlusskabel für den Datenport lag. Er verfluchte die ungefügen Handschuhe, die seine Aufgabe nicht eben einfach machten. Schließlich zog er ein Kabel aus dem Fach und steckte den Stecker am anderen Ende in die externe Buchse am Helm von Evas Anzug. Sowie die Verbindung stand, erschienen verschiedene Anzeigen auf der Innenseite seines eigenen Helms. Jan war zum Teil beruhigt, als er Evas Pulsschlag erkennen konnte. Sie lebte und war scheinbar nur bewusstlos. Doch wie sollte es nun weitergehen? Sie würden nicht ewig hier warten können. Hatten sie überhaupt eine Chance, rechtzeitig gefunden zu werden? Sie waren noch lange nicht in Reichweite der Akademie. Eine Bewegung lenkte Jan von seinen Überlegungen ab. Eva hatte sich bewegt. Im Helmfunk hörte er ein leises Stöhnen.
»Eva!«, rief Jan. »Komm zu dir! Wir haben Schwierigkeiten.«
»Mein Gott, schrei doch nicht so«, kam es aus dem Hörer.
Jan fühlte sich vollkommen euphorisch. »Eva, du bist wieder da! Wie geht es dir? Bist du in Ordnung?«
»Was ist denn los?«, fragte Eva. »Ach ja, wir sind mit dem Jumper abgestürzt. Ich erinnere mich. War ich lange bewusstlos?«
»Das kann man wohl sagen. Ich hatte schon befürchtet, du wärst tot.«
Eva richtete sich in ihrem Anzug auf und sah sich um. Als sie den Jumper sah, seufzte sie. »Scheiße! Damit kommen wir nirgendwo mehr hin. Das senkt unsere Chancen, gefunden zu werden.«
»Aber sie müssen doch wissen, in welche Richtungen wir geflogen sind und uns irgendwann suchen«, sagte Jan hoffnungsvoll.
»Sie werden erst eine Weile warten, da sie davon ausgehen, dass wir die Markierungsbojen nicht so schnell finden werden. Erst wenn wir ungewöhnlich lange ausbleiben, wird man anfangen, uns zu suchen. Unser Problem ist das dort.«
Sie deutete mit dem Arm ein eine Richtung. Jan blickte in die Richtung, konnte aber nichts erkennen, weil es dort so dunkel war. »Ich kann nichts erkennen.«
»Genau. Das ist der Terminator – die Tag-Nacht-Grenze. Die Mondnacht beginnt bald. Wenn es erst dunkel ist, sehe ich auch für uns schwarz.«
»Verdammt! Daran hab ich überhaupt nicht mehr gedacht. Was machen wir denn jetzt?«
Eva lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kante des Jumpers. »Zunächst einmal: Es sieht schlecht aus. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir unter Umständen draufgehen können. Wir haben nur eine einzige Chance – die Rettungszellen.«
»Was für Rettungszellen?«
»Überall im Umfeld der Akademie gibt es kleine Zellen mit eigener Luftversorgung, die man im Notfall aufsuchen soll. Unter den Sitzen des Jumpers sollte eigentlich ein Plan mit den Standorten der Rettungszellen stecken.«
Jan legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sitzen hinauf. »Wie sollen wir da rankommen? Die Plattform ist viel zu glatt, um dort hinaufzuklettern.«
»Was hältst du von Räuberleiter? Ich wiege nicht so viel, wie du, und du bist noch an die Schwerkraft der Erde gewöhnt. Du solltest mich ohne Probleme hochheben können.«
Sie versuchten es. Jan verschränkte die Finger seiner Handschuhe ineinander und Eva kletterte mit einem Fuß hinein. Jan hob sie an und war überrascht, wie leicht das Mädchen war. Sie hielt sich oben an einem der Sitze fest und Jan hob sie hoch über seinen Kopf hinaus.
»Ich hab es«, sagte Eva. »lass mich runter.«
Eva entfaltete eine weiße Folie, die eine Karte der Umgebung des Mare Nubium enthielt. Wenigstens zwei Dutzend Rettungszellen waren dort eingezeichnet.
»Wir brauchen eine genaue Standortbestimmung«, erklärte Eva. »Glücklicherweise bin ich sehr begabt in Navigation.«
Sie blickte an den Himmel und drehte sich langsam dabei um.
Nach einiger Zeit meinte sie, dass nun zumindest recht genau wüsste, wo sie sich befanden.
»Ich hab einige der wichtigsten Landmarken im Kopf und einige Winkel mit meinen, in den Anzug eingebauten, Hilfsmitteln gemessen.«
Sie deutete auf einen Punkt in der Karte. »Hier sind wir.«
»Aber dann ist ja ganz in der Nähe eine von diesen Rettungszellen«, sagte Jan erfreut. »lass uns sofort aufbrechen.«
»Aufbrechen müssen wir auf jeden Fall«, sagte Eva. »Aber du musst dir den Maßstab der Karte vor Augen führen. Es dauert Stunden, um diese Rettungszelle zu erreichen und wir laufen fast die ganze Zeit über in absoluter Dunkelheit.«
»Ändern können wir daran ja wohl nichts, oder? Dann laufen wir eben im Dunkeln. Ich werde jedenfalls nicht hier warten, bis unsere Atemluft verbraucht ist. Noch sind wir fit und ich bin wild entschlossen, das auszunutzen.«
»Stell es dir nur nicht so leicht vor, in der Mondnacht zu marschieren. Das einzige Licht, das wir bekommen werden, stammt von den Sternen. Ich garantiere dir: Das ist nicht viel. Außerdem wird es lausig kalt werden.«
Jan sah sie prüfend an. Er wünschte sich, ihr Gesicht sehen zu können. »Du klingst wir jemand, der schon aufgegeben hat. Wir werden diese verdammte Rettungszelle erreichen, hast du verstanden?«
»Sicher hab ich verstanden. Ich will ja auch dorthin. Ich bin aber schon länger auf dem Mond als du. Ich weiß, wie schlecht unsere Chancen stehen. Entschuldige, wenn ich diese Sache etwas realistischer sehe als du.«
»Du siehst es nicht realistischer, sondern pessimistischer. Schnapp dir ein paar Staubschuhe und dann sollten wir losmarschieren. Oder bist du dir mit der Richtung nicht so sicher, wie du tust?«
»Da bin ich mir sicher! Navigation und Richtungsbestimmung hab ich immer gekonnt.«
»Na dann los!«
Eva nahm sich ebenfalls ein Paar der Staubschuhe und sie liefen los. Anfangs legten sie noch ein recht gutes Tempo vor, aber je länger sie unterwegs waren, umso müder wurden ihre Beine. Das Laufen mit den breiten Schuhen strengte enorm an. Immer häufiger mussten sie Pausen einlegen, um auszuruhen oder ihren Luftverbrauch nicht zu sehr in die Höhe zu treiben. Die Sonne war inzwischen untergegangen und sie liefen durch die Mondnacht. Statt der erwarteten totalen Dunkelheit wurde ihr Weg schwach vom Licht der zahllosen Sterne beleuchtet, sodass sie wenigstens grobe Umrisse erkennen konnten. Trotzdem brauchten sie ihre Helmscheinwerfer, um nicht über Felsen zu stolpern, oder um nicht in einen Spalt zu stürzen. Eva korrigierte ihren Kurs regelmäßig, damit sie nicht die Rettungszelle verfehlten.
»Vielleicht sollten wir die Heizleistung unserer Anzüge drosseln«, schlug Jan vor.
»Die Heizung? Wir laufen durch die Mondnacht. Draußen sind wenigstens minus 120 Grad Celsius. Wie stellst du dir das vor?«
»Ich denk an unsere Scheinwerfer. Was sollen wir tun, wenn die aus Strommangel ausfallen? Dann sehen wir nicht mehr genug. Wenn wir die Heizung drosseln, erhalten wir etwas mehr Spielraum für die Helmlampen. Außerdem sind wir sowieso in Bewegung und bleiben dadurch warm. Was meinst du?«
»Möglicherweise hast du recht. Ich weiß es nicht, aber machen wir‘s einfach. Vielleicht schwitzen wir dann nicht mehr so stark beim Laufen.«
Jan war sich nicht sicher, ob Eva das ernst meinte, aber er reduzierte die Heizleistung seines Anzuges und lief weiter. Bereits nach einer weiteren Stunde musste er sich eingestehen, dass es keine so gute Idee gewesen war, auf die Heizung zu verzichten, denn er begann zu frieren. Eva sagte jedoch nichts und daher wollte er auch vor ihr nicht zugeben, dass er fror.
Sie hatten nur noch Luft für eine gute Stunde, als sie endlich ein schwaches Blinken in der Ferne sahen.
»Dort ist die Zelle«, sagte Eva. »Gott sei Dank. Ich hatte solche Angst, dass wir sie verfehlen könnten.«
»Ich dachte, du wüsstest genau, wohin wir laufen müssen.«
Eva winkte ab. »Ich war mir reichlich sicher, aber was, wenn mir ein Fehler unterlaufen wäre? Jetzt ist es egal, gleich sind wir da.«