4. Jumper-Prüfung

 

4.4 Langer Marsch - Teil 2/2

Die Rettungszelle war ein großer, rechteckiger Kasten, an dem einige kleine Lichter in regelmäßigen Abständen aufblitzten. An einer der Seiten befand sich eine Tür mit einem roten Knopf daneben. Jan drückte fest auf diesen Knopf und bemerkte erleichtert, wie sich die schwere Tür öffnete. Im Innern sprang die Beleuchtung an. Sie blickten hinein und sahen, wie furchtbar eng es in der Schleuse war.
»Wir müssen nacheinander einschleusen«, sagte Jan.
»Das geht nicht«, erklärte Eva. »Diese Rettungszellen kann man nur einmal betreten. Danach wird der Raum mit Luft geflutet. Wenn man sie wieder öffnet, geht die wertvolle Luft verloren.«
Jan bemerkte ein Zittern in Evas Stimme. »Was ist mit dir?«
»Wenn ich ehrlich bin, ich bin fast erfroren. Deine Idee mit der Reduzierung der Heizleistung war nicht so gut. Ich kann mich fast nicht mehr bewegen. Aber da du nichts gesagt hast, wollte ich es nicht zugeben ...«
Jan lachte, bis ihm die Tränen kamen. Die ganze Anspannung der letzten Stunden löste sich mit einem Mal.
»Bist du jetzt total verrückt geworden?«, fragte Eva. »Was ist daran so lustig?«
»Ich bin genau so erfroren wie du, Eva. Ich wollte es auch nicht zugeben, weil du nichts gesagt hast.«
Jetzt platzte auch Eva los und minutenlang standen sie vor der offenen Tür der Rettungszelle und lachten wie irre. Als sie sich wieder beruhigt hatten, quetschten sie sich in die enge Kammer und zogen die Tür hinter sich zu. Sofort wurde der Zugang hermetisch abgeschlossen und sie hörten ein lautes Zischen. Nur kurze Zeit später ertönte ein Gong in ihren Helmlautsprechern und eine automatische Ansage verkündete, dass eine atembare Atmosphäre hergestellt sei.
Jan drückte die Knöpfe der Verriegelung seines Helms und setzte ihn ab. Heftig sog er die frische Luft ein und sah Eva an, die eben dabei war, ihren Helm ebenfalls abzunehmen. Zum ersten Mal seit dem Start zu diesem Testflug sahen sie sich direkt in die Augen. Jan sah, dass Eva unendlich erschöpft aussah. Er bezweifelte, dass er einen anderen Eindruck vermittelte.
»Ich muss raus aus diesem Anzug«, sagte Eva. »Wenn ich ihn noch länger trage, frieren mir die Zehen ab.«
Sie löste die Dichtungen ihrer Handschuhe und ließ sie auf den Boden fallen. Als sie die Verriegelung für das Anzugoberteil auslösen wollte, hielt sie plötzlich inne.
»Was ist?«, fragte Jan.
Sie sah ihn abwesend an. »Ist dir eigentlich klar, dass wir vollkommen nackt sind, wenn wir diese Dinger ausziehen? Die Unterbekleidung ist Bestandteil des Anzugs - wegen der Anschlüsse für die Entsorgung der Körperausscheidungen.«
»Verdammte Scheiße, das stimmt. Wir besitzen buchstäblich nur das, was wir auf der Haut tragen. Könnte hinten im Sicherheitsraum nicht noch ein paar einfache Overalls liegen?«
»Ich seh mal nach.« Sie drehte sich um und versuchte, sich durch die enge Öffnung in den Sicherheitsraum zu quetschen, doch der klobige Anzug ließ es nicht zu. »Es geht nicht. Ich muss aus diesem Ding raus, Jan. Die Kälte hier drin wird langsam unerträglich.«
»Aber ...«
Sie sah ihn flehend an. »Bitte, Jan. Zwing mich nicht, hier drin zu erfrieren. Ich weiß selbst, dass wir ein Problem haben. Ich hab dich vor Isabellas Augen angemacht ... wenigstens hatte ich das versucht. Können wir das nicht wenigstens hier drin vergessen, bis wir gerettet werden?«
Jan zögerte. »Du weißt, wie ich darüber denke. Wir würden hier, in dieser engen Behausung splitternackt auf engstem Raum hocken. Ich weiß nicht, ob ich das ...«
»Jan! Ich friere! Denkst du im Ernst, ich denke jetzt an Sex? Ich bin total erschöpft, stinke wahrscheinlich wie ein Puma und - wenn ich ehrlich bin - fühle ich mich grad nicht so taff, wie ich mich gern gebe. Willst du etwa im Anzug bleiben, bis sie uns holen? Ist dir nicht kalt? Es kann Stunden dauern, bis jemand kommt.«
»Du hast recht. Wir können wirklich nicht in den Anzügen bleiben. Ich helfe dir. Allein schaffst du es nicht.«
Dankbar ließ sie zu, wie Jan eine Verriegelung nach der anderen löste, bis sie sich schließlich allein aus ihrem Gefängnis befreien konnte. Vorher jedoch löste sie auch Jans Verriegelungen. Sie wandten sich voneinander ab und krochen aus ihren Kokons. Splitternackt standen sie neben einem Berg aus weißem Kunststoff. Keiner wagte, sich umzublicken. Es war eine völlig skurrile Situation.
»Ich gehe nach hinten in den Sicherheitsraum«, sagte Eva und verschwand in der Dunkelheit des zweiten Raums.
Jan drehte sich halb herum und blickte hinterher, konnte jedoch nichts erkennen. »Und? Ist dort Kleidung?«
»Warte, ich suche noch. Es ist verdammt dunkel hier. Ich muss mich nur durch das Licht der Kontrollleuchten orientieren. Ich glaube, hier ist was ... Nein, es ist nur eine Decke. Hier ist ein schmales Bett, eine Decke und sonst nichts. Es ist fast, als hätte sich niemand vorstellen können, dass mehr als eine Person in eine Notlage geraten kann. Hier ist ein Schalter.«
Im nächsten Moment flammte helles Deckenlicht an und Eva bedeckte ihre Augen mit der Hand. Jan sah sie nackt vor dem Bett stehen. Die Situation war ihm einfach nur peinlich und er wandte sich schnell ab. Das Licht ging wieder aus und er hörte, dass sie sich schnell ins Bett legte. Er fragte sich, was er jetzt tun sollte. Auch er war nackt und durchgefroren. Seine Zähne klapperten und er zitterte am ganzen Körper. Die Heizung der Zelle würde die Temperatur allmählich auf erträgliche Werte aufheizen, doch das würde dauern.
»Jan?«
»Ja?«
»Was machst du? Kannst du es dir dort bequem machen?«
»Wohl nicht. Die blöden Anzüge nehmen den ganzen Platz ein. Zum Drauflegen sind sie zu hart und darunterlegen kann ich mich auch nicht.«
»Dann komm her.«
»Wie meinst du das?«
»Lass es uns doch nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. Hier ist ein Bett und eine Decke. Komm schon. Ich beiße nicht und es wird ganz sicher nichts passieren, das du vor Isabella verantworten musst. Das ist es doch, oder?«
Jan blieb im Eingang des Sicherheitsraums stehen und nickte. »Ja, das ist es. Du hast es verstanden, oder?«
»Oh ja, das hast du mir ja unmissverständlich erklärt. Ich garantiere dir: Keine Spielchen, aber ich brauche deine Wärme und du brauchst meine. So sollten wir es sehen. Meinst du, das schaffst du?« Sie hob einen Zipfel ihrer Decke hoch. »Dann komm.«
Zögernd ließ Jan sich auf das Bett nieder und legte sich hin. Die Wärme, die von dem Mädchen ausging, tat ihm unendlich gut. Bald ließ das Zittern nach und die Zähne hörten auf, zu klappern.
»Meinst du, ich könnte mich etwas an dich ankuscheln?«, fragte Eva. »Ich könnte auch was von deiner Wärme gebrauchen.«
»Okay«, sagte Jan und hob einen Arm, damit sie ihren Kopf in seine Halsbeuge legen konnte. Vorsichtig legte er seinen Arm wieder um Evas Körper und überlegte, was er da eigentlich tat. Über diesen Gedanken übermannte ihn die Erschöpfung und er schlief tief und fest ein.

* * *

Sie merkten nichts davon, dass durch ihr Betreten der Rettungszelle ein Funksignal ausgelöst worden war, welches in der fernen Akademie empfangen wurde. Ein Team mit einem Lastenjumper machte sich auf den Weg, nach dem Rechten zu sehen. Als sie eintrafen, stellten sie fest, dass die Rettungszelle besetzt war. Sie versuchten, über den Helmfunk Verbindung aufzunehmen, aber die Versuche schlugen fehl. Deshalb luden sie die gesamte Rettungszelle auf die Plattform des Jumpers und flogen damit zurück zur Station. Dort angekommen wurde die große Schleuse geschlossen und eine atembare Atmosphäre hergestellt. Von außen wurde die Zelle geöffnet.
Irina Onotova war sofort gekommen, als man ihr berichtet hatte, dass eine der Rettungszellen angesprochen hatte. Die Gruppe Lückert-Terbuer wurde seit Stunden vermisst. Sie hoffte, dass es sich um diese beiden handelte. Irina war anwesend, als die Zelle geöffnet wurde. Das Erste, was ihr auffiel, waren die beiden Raumanzüge, welche die Namen der beiden Vermissten trugen. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Es war nie angenehm, wenn es zu Unfällen kam und jemand dabei zu Schaden kam. Aber sie hätte niemals erwartet, dass es zu einem solchen Unfall im Zusammenhang mit einen Jumper kommen würde. Diese Flieger galten als überaus zuverlässig und sicher.
Irina kletterte in die enge Schleuse und turnte über die Anzüge hinweg. Der Raum dahinter war dunkel. Sie ließ sich von einem der Techniker eine Taschenlampe reichen und leuchtete hinein. Im ersten Moment war sie geschockt. Jan Lückert und Eva Terbuer lagen eng umschlungen und splitternackt auf der Liege. Die Decke war offenbar inzwischen heruntergerutscht. Sie hätte alles erwartet, nur nicht, sie in dieser Position vorzufinden. Sie schliefen friedlich und wurden selbst jetzt nicht wach.
Sie löschte das Licht wieder und bat die Techniker, für die beiden frische Kleidung in die Schleuse zu legen. Dann verließ sie die Rettungszelle.

* * *

Als sie erwachten und erkannten, dass sie eng umschlungen auf dem schmalen Bett lagen, fuhren sie erschreckt auseinander. Jan stürzte zu Boden und stieß seinen Kopf an einem kleinen Vorsprung. Irritiert blickte er sich um.
»Es ist nicht ganz dunkel«, stellte er fest. »Als wir uns hingelegt haben, war es dunkel.«
»Ob sie uns schon abgeholt und gerettet haben?«, fragte Eva.
»Müssten wir das nicht bemerkt haben?«
»So kaputt, wie wir waren, wahrscheinlich nicht.«
Jan erhob sich uns ging zur Schleuse, wo er auf dem Berg der Raumanzüge zwei sauber zusammengefaltete Overalls entdeckte. »Es war jemand hier.«
»Was?«
Er griff nach dem oberen Overall und warf ihn Eva zu. »Wo, glaubst du, kommt das her?«
Schnell schlüpfte er in den zweiten Overall und fühlte sich gleich wohler. Als er in die Sicherheitskammer zurückkehrte, war Eva auch bereits angezogen. Die Kleidungsstücke passten zwar nicht wirklich, aber sie hatte sich die Beine und Ärmel mehrfach aufgekrempelt.
»Dir ist klar, dass sie uns hier zusammen gesehen haben, oder?«, fragte Eva.
Jan nickte. »Das haben sie wohl. Und ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll.«
»Sie waren so diskret, uns nur Kleidung in die Schleuse zu legen. Vielleicht bringen sie es nicht zur Sprache. Wenn doch, werden wir halt erklären, wie es sich verhalten hat. Wir haben doch nicht wirklich etwas zu verbergen.«
»Jemand könnte anderer Ansicht sein.«
»Isabella.«
Jan nickte. »Ja, Isabella. Ich hab etwas Angst davor, sie zu sehen.«
Sie trat zu ihm und gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. »Ich danke dir für die Wärme, die du mir gespendet hast. Du musst keine Angst haben, Jan. Notfalls sage ich vor allen Leuten, was du für mich getan hast - und was du eben nicht getan hast.
Sie standen in der engen Schleusenkammer und blickten durch ein winziges Fenster nach draußen. Sie erkannten, dass ihre Rettungszelle mitten in der großen Hangarschleuse der Akademie stand. Die Außendruckanzeige zeigte, dass sie ihre Zelle ohne Raumanzug verlassen konnten.
»Dann wollen wir mal.« Gemeinsam drückten sie die schwere Sicherheitstür auf und kletterten nach draußen. Der Weg zur inneren Schleuse erschien ihnen endlos lang.
Sie betraten den inneren Schleusenraum, wo bereits die übrigen Erstsemester, samt Paten warteten. Alle schienen sehr erleichtert, sie wohlbehalten wiederzusehen.
Irina trat auf sie zu und nahm erst Eva und dann auch Jan in den Arm. »Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, dass ihr gesund und munter wieder in der Akademie seid. Was ist geschehen?«
Jan deutete auf Eva. »Erzähl du.«
»Bis zur Auffindung der Boje lief alles nach Plan. Das Ziel wurde deaktiviert und anschließend aufgeladen. Student Lückert hat ...«
»Du musst jetzt nicht so förmlich sein«, sagte Irina. »Dies ist keine offizielle Befragung.«
»Also gut: Jan hat seine Sache bis zu diesem Zeitpunkt absolut souverän erledigt. Wir machten uns auf den Rückweg, als es Triebwerksprobleme gab. Erst stotterten die Triebwerke, dann legte sich der Jumper schief und zuletzt fiel der komplette Antrieb in einer Höhe von über hundert Metern aus. Wir stürzten ab, wobei wir vom Jumper geschleudert wurden.«
»Wart ihr nicht angeschnallt?«
»Oh doch, aber die Gurte rissen. Im Übrigen war das unser Glück, denn der Flieger hätte uns sicherlich erschlagen. Viel mehr kann ich nicht sagen, denn ich war bewusstlos.«
Irina blickte Jan an. »Und du?«
»Ich war bei Bewusstsein, aber steckte tief im Staub. Ich konnte mich allerdings selbst daraus befreien. Anschließend suchte ich Eva, die auch im Staub steckte. Zum Glück nicht so tief wie ich. So fand ich ihren Handschuh und konnte auch sie befreien.«
»Was war mit dem Notsender?«, fragte Irina. »Der hätte doch automatisch senden müssen, als der Jumper abstürzte.«
»Der Notsender war nur noch Schrott. Wir hatten nur eine Chance ... die Rettungszelle. Zum Glück kennt sich Eva so gut mit der Navigation nach Sternen aus. Wir fanden die Zelle rechtzeitig und ... nun, den Rest kennt ihr alle.«
»Gut«, sagte Irina. »Wir sollten einfach glücklich sein, dass es gut ausgegangen ist. Wir werden es ins Protokoll als bedauerlichen Unfall eintragen. Morgen lass ich das Wrack bergen und dann erfahren wir genau, wodurch er ausgelöst worden ist. Aber ihr solltet jetzt erst mal ein heißes Bad nehmen und euch in der Kantine ein fürstliches Mahl gönnen. Danach geht es euch sicher besser.«
Auf dem Weg in die Station hinein kamen sie an Isabella vorbei. Jan konnte ihr ansehen, dass sie zwiegespalten war. Einerseits war sie eifersüchtig auf Eva, mit der Jan nun ein großes Abenteuer verband, andererseits drängte es sie zu ihm hin. Schweigend standen sie voreinander.
Schließlich war es Eva, die dieser peinlichen Pause ein Ende setzte. »Isabella, ich möchte mich in aller Form dafür entschuldigen, dass ich deinen Freund angebaggert habe. Jan hat sich wirklich nichts vorzuwerfen. Auch wenn wir uns in der Rettungszelle nackt aneinandergekuschelt haben – es war ein notwendiger Wärmeaustausch, den wir beide nötig hatten. Ich kann dir versichern, dass zwischen uns nichts geschehen ist. Ich bin sicher, er hat nur dich im Kopf und er hat es verdient, seine Entscheidungen selbst zu treffen. Wenn du mich nun hasst, ist das dein gutes Recht, aber trage es Jan nicht nach. Er hat es nicht verdient.«
Isabella war nun nicht mehr zu halten und warf sich in Jans Arme. »Isa, Eva ist sicherlich eine tolle Frau und es war eine Erfahrung für mich, mit ihr zusammenzuarbeiten, aber ich liebe nun mal dich.«
Sie küssten sich und verließen eng umschlungen den Besprechungsraum.
Irina stellte sich neben Eva und sah sie von der Seite an.
»Ist was?«, fragte Eva.
»Er hat dich schwer beeindruckt, nicht wahr?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, ich kenn dich schon seit ein paar Semestern, Eva. Ich habe noch nie erlebt, dass du freiwillig einem anderen Mädchen das Feld überlassen hast, wenn du es auf einen Jungen abgesehen hattest.«
Eva tat beleidigt. »Wollen Sie andeuten, ich würde anderen ständig ihre Freunde ausspannen?«
Irina lachte. »Das würde ich niemals behaupten. Es ist nur auffällig, dass ausgerechnet du die Verhältnisse geklärt hast.«
Eva sah Irina direkt an. »Ich bin glücklich, einen Menschen wie Jan Lückert kennengelernt zu haben. Er ist sicherlich etwas ganz Besonderes und ich glaube sogar, dass er mich mag. Aber ich bin nicht die, die er will. Das ist Isabella. Ich käme mir schäbig vor, wenn ich mich da hineindrängen würde.«
Irina sah Eva prüfend an. »Eva Terbuer werden Sie etwa erwachsen?«
Eva zog ihre Stirn kraus und sah Irina fragend an.
»Es würde mich jedenfalls sehr freuen«, sagte Irina. »Und jetzt lassen Sie uns in die Kantine gehen. Baden oder Duschen können sie später noch. Ich spendiere uns einen Drink.«