5. Exzentrizität

5.1 Der Rendezvous-Punkt-Test


Sie waren nun bereits einige Zeit auf dem Mond und mittlerweile im fünften Semester. Die anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten waren überwunden und man hatte sich in den normalen Ablauf innerhalb der Akademie eingefügt.
Selten genug hatte Jan etwas Zeit, um sich einmal mit seinen Eltern in Verbindung zu setzen. Die meiste Zeit musste er für sein Studium lernen oder befand sich auf einer der zahlreichen Exkursionen. Seine knappe Freizeit verbrachte er lieber mit Isabella, die häufig genug keine Zeit für ihn hatte, da sie sich auf Exkursionen vorbereiten musste. Trotzdem waren sie noch immer zusammen, auch wenn die Wetten der übrigen Studenten dies zweifelhaft erscheinen ließen. Inzwischen wohnte Isabella quasi bei Jan, was zwar nicht erlaubt war, doch stillschweigend geduldet wurde, wenn der Dienstbetrieb darunter nicht litt. Die Akademie ließ ihre Studenten gern allein auf Exkursionen gehen, damit sie sich daran gewöhnten, dass sie in ihrem zukünftigen Beruf viel allein waren. Es gefiel weder Jan, noch Isabella, aber sie hatten sich diesen Beruf schließlich ausgesucht und so mussten sie mit den wenigen Stunden zufrieden sein, die ihnen gemeinsam blieben.
Gina, die häufig zu ihnen in die Wohneinheit kam, weil sie seit einiger Zeit mit Pelle liiert war, hatte sich schon öfter geäußert, dass es sie wunderte, wie belastbar Jans Beziehung zu Isabella im Grunde war. Andererseits war es bei ihr und Pelle ja nicht anders. Nachdem die Zwei sich ausgesprochen hatten, klebten sie in ihrer Freizeit oft wie die Kletten aneinander.
Jan blickte auf seinen Wecker. Bald würde es Zeit sein, sich wieder von Isabella zu verabschieden. Er wandte sich wieder dem Mädchen zu, das mit zerzausten Haaren in seinem Arm lag und gleichmäßig atmete. Seine Bewegung schien sie geweckt zu haben, denn sie begann, sich leicht zu bewegen und wandte ihm ihr Gesicht zu. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie entdeckte, dass er sie ansah.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagte Jan und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Mit einem wohligen Seufzer schmiegte sie sich noch fester in seinen Arm.
»Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, aber es wird wohl immer so sein, dass wir uns das bisschen Zeit stehlen müssen, wenn wir zusammen sein wollen.«
»Wann musst du los?«, wollte Jan wissen.
»Der Start der Kapsel erfolgt um elf, aber ich muss schon um neun dort sein, wegen der Vorbesprechung. Ich muss gestehen, dass mir nicht wohl dabei ist.«
Jan strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. »Das ist normal. Es macht uns so hilflos, wenn wir keine Möglichkeiten haben, eine Flugbahn zu beeinflussen. Trotzdem ist es nicht wirklich schlimm. Du hast eine Menge damit zu tun, deine Flugbahn zu berechnen und einen Rendezvous-Punkt zu bestimmen. Du glaubst nicht, wie schnell diese sechs Stunden vergehen werden, bis der Frachter andockt.«
»Du hast gut reden, Jan. Du hast diesen Flug bereits hinter dir. Außerdem hast du einen siebten Sinn für diese Dinge. Menschen wie ich müssen uns das hart erarbeiten.«
»Pass auf Isa, wir nehmen einfach Kontakt auf, während du dort oben bist.
»Du weißt genau, dass das nicht erlaubt ist! Wie sollte das auch funktionieren? Sie hören doch den Funk mit.«
Jan grinste. »Ich kenne einen der Kommunikationsoffiziere recht gut. Er sagte mir, dass sie lediglich die üblichen UKW-Kanäle überwachen. Unsere Geräte können aber durchaus bis hinauf in den Tera-Hz-Bereich senden und empfangen. Aktivier einfach den Ersatzsender der Kapsel und schalte ihn auf 983 THz. Auf der Frequenz werden sie unsere Gespräche nicht mithören.«
»Womit willst du denn meinen Funk empfangen?«
Jan griff unter das Bett und zog ein kleines Gerät hervor. »Das ist ein Tera-Hz-Funkgerät mit einer Reichweite von fast zehntausend Kilometern. Damit bleiben wir in Kontakt.«
Isabella sprang auf und setzte sich auf Jan. »Du bist ein echter Schatz! So wird mir die Zeit dort nicht so lang vorkommen. Aber jetzt muss ich dich leider verlassen.«
Sie stand auf und griff nach ihren Sachen. Jan blieb liegen und sah zu, wie Isabella ihren Körper in die enge Akademiekombination zwängte. Am liebsten hätte er sie sofort wieder daraus befreit.
Als sie seinen Blick bemerkte, hielt sie einen Moment inne. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
Jan schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung. Ich seh dich halt gern an und ... na ja, ich könnte mir etwas anderes vorstellen, als dich jetzt gehen zu lassen.«
Isabella lächelte und zog den Reißverschluss ihrer Kombination hoch. »Ich weiß, aber du weißt auch, dass es nicht geht. Mach es mir nicht noch schwerer, okay?«
Jan nickte. »Du hast ja recht. Entschuldige.«
Er begleitete sie noch bis zur Tür und gab ihr einen langen Abschiedkuss.
Es machte Jan nervös, Isabella auf dieser besonderen Exkursion zu wissen. Er hatte sie bereits hinter sich gebracht, sogar mit gutem Ergebnis, aber gefallen hatte sie ihm nicht.
Man wurde in eine relativ kleine Kapsel gesetzt, die mit allerlei Gerätschaften zur Fluglage- und Kursbestimmung angefüllt war. Diese Kapsel verfügte über ein Triebwerk und eine exakt vorherbestimmte Menge Treibstoff. Nach dem Start brannte der Treibstoff komplett aus und die Kapsel flog dann antriebslos auf einer extrem exzentrischen Bahn weiter. Zunächst entfernte sie sich vom Mond, fiel dann zurück und stürzte knapp daran vorbei, bevor sie sich wieder weit von ihm entfernte. Die Bahn bildete eine sehr flache Ellipse. Die Aufgabe für den Prüfling bestand darin, die eigene Flugbahn möglichst genau zu bestimmen und anhand der eigenen Berechnungen einen Rendezvous-Punkt zu bestimmen, an dem ein von der Erde kommender Frachter andocken konnte. Sobald das geschehen war, war die Prüfung beendet. Der Prüfling musste dann nur warten, bis der Frachter an der vorher berechneten Position erschien und die Kapsel aufnahm. Anschließend konnte man mit dem Frachter zusammen auf dem Mond landen oder per Shuttle abgeholt werden. Man unternahm diese Flüge deshalb stets, wenn man ein Schiff von der Erde erwartete, dem man die entsprechenden Daten übermitteln konnte. Die Kommandanten der Raumschiffe machten bei diesen Tests gern mit. Zum einen machte es ihre eigene Fahrt interessanter, zum anderen schauten sie sich gern an, was die Studenten der Akademie bereits konnten.