5. Exzentrizität

5.2 Strafarbeit


Jan hatte an diesem Tag ebenfalls ein volles Programm. Er hatte sich erwischen lassen, als er mit einem Funker der letzten Frachtercrew einen Handel über die Lieferung von einer Kiste Wodka abgeschlossen hatte. Harter Alkohol war den Studenten in der Station absolut verboten und da verstanden sowohl Dr. Kupharhti als auch Irina Onotova keinen Spaß. Es ärgerte ihn, dass ihm das passiert war, hinderte ihn jedoch nicht daran, mit Pelle zusammen weitere Geschäfte solcher Art zu organisieren. Er würde es beim nächsten Mal halt etwas geschickter anstellen. Jetzt allerdings musste er seinen Strafdienst antreten und in einem kompletten Sektor alle Rettungszellen überprüfen – eine langweilige, zeitraubende Arbeit. Er zog sich an und machte sich auf den Weg zur Fahrzeugschleuse. Im letzten Moment fiel ihm noch ein, den kleinen Sender einzustecken. Sorgfältig verstaute er ihn in einer der Beintaschen seiner Kombination.
Gelangweilt ließ er sich beim Anlegen seines schweren Raumanzuges helfen. Die Aussicht, in den nächsten zwölf Stunden darin ausharren zu müssen, hob nicht eben seine Laune. Der Techniker überprüfte, ob alle Verschlüsse ordnungsgemäß geschlossen waren, dann machte er das OK-Zeichen mit hochgerecktem Daumen.
»Bitte geben Sie mir noch das Gerät aus der Beintasche meiner Kombination«, bat Jan über den im Helm eingebauten Außenlautsprecher. Der Mann schaute ihn fragend an, sah aber bei seinen Sachen nach und gab ihm das mit einem skeptischen Blick Gerät.
»Was wollen Sie denn auf Ihrer Tour mit einem solchen Sender?«
»Es ist nicht verboten, so etwas mitzuführen, oder?«
»Nein, das nicht ... aber ...«
Jan verstaute es in einer seiner Außentaschen und lief dann in Richtung der Personenschleuse davon.
In der Fahrzeugschleuse stand Rick O'Hara im Raumanzug neben einem der größeren Jumper. Jan fragte sich, ob Rick eigentlich rund um die Uhr Dienst tat. Jedes Mal, wenn er hier erschien, war auch Rick anwesend.
»Da kommt ja unser Freiwilliger«, empfing ihn Rick. »ich bin ja so froh, dass ich diese Runde heute nicht machen muss.«
»Dein Zynismus ist nicht angebracht«, schnappte Jan schlecht gelaunt zurück. »du weißt ganz genau, warum ich hier bin. Immerhin bist du auch nie abgeneigt, wenn ich was bekommen habe.«
Rick schlug ihm mit der Hand auf den Rücken und lachte. »Klar, weiß ich, dass du das nicht freiwillig machst. Sei beim nächsten Mal etwas vorsichtiger, mit wem du solche Geschäfte machst, Jan. Ich könnte dir da ein paar Tipps geben.«
Dann gab er Jan einen Plan mit den Standorten der zu überprüfenden Rettungszellen.
»Hier, deine Aufgaben. Ich hab mir erlaubt, dir einen Jumper aus dem Sonderfond bereitzustellen.«
»Sonderfond?«
»Ja, er hat ein Vielfaches der üblichen Reichweite und kann auch schwere Lasten heben. Sollte eine der Zellen defekt sein, kannst du sie mit dem Kran gleich aufladen und zurückbringen.«
Rick grinste. »Ich wollte dir wenigstes was Gutes tun. Der Flieger hat sogar Autopilot. Du bekommst also keinen Krampf im rechten Arm.«
Jan überprüfte den Ladezustand der Batterien und den Füllstand des Treibstoffs, dann ließ er die Triebwerke an und ließ den Jumper sofort abheben. Er hatte diese Dinger in den letzten Monaten so oft geflogen, dass er sie inzwischen ebenso handhaben konnte, wie ein Auto auf der Erde.
Der angekündigte Autopilot war eine tolle Erleichterung. Er musste nicht die ganze Zeit über die Gashebel in der Hand halten, sondern konnte, nachdem der Kurs eingestellt war, dem Automaten die Arbeit überlassen. Jan blickte auf seine helminterne Uhr und sah, dass es bereits fast elf Uhr war – der Zeitpunkt, an dem Isabella zu ihrer Exkursion antrat. Er drehte sich in seinem Sitz um und blickte zur Station zurück. Jeden Moment müsste der Flammenkegel der startenden Kapsel zu sehen sein. Es dauerte nicht lange und er konnte die winzige Kapsel ausmachen, mit der auch er selbst schon in einen exzentrischen Orbit geschossen worden war. Während er noch der Kapsel nachschaute, bemerkte er plötzlich, wie sich eine zweite Flammenspur bildete, die zur Seite zeigte. Er fragte sich, was das wohl gewesen war, als der Antrieb der Kapsel zu stottern anfing. Jan wusste genau, dass das nicht normal war. Das ganze Unternehmen machte nur einen Sinn, wenn der Antrieb bis zum Brennschluss homogen funktionierte. Es musste etwas Unvorhergesehenes geschehen sein. Inzwischen hatte der Antrieb der Kapsel ausgesetzt und er konnte sie nicht mehr erkennen.

* * *

In der Zentrale der Akademie herrschte für kurze Zeit eisiges Schweigen. Irina, die Isabellas Start beobachtet hatte, brach schließlich das Schweigen. »Kann mir jemand erklären, was dort eben geschehen ist?«
Sie blickte in die Runde, doch niemand sagte etwas.
»Ich will sofort eine Erklärung dafür, was das eben bei diesem Kapselstart war!«
»Es ... Es ... muss eine Unregelmäßigkeit am Triebwerk gewesen sein«, sagte der Techniker an den Kontrollen ratlos. »Ich habe keine Erklärung, warum sie aufgetreten ist. Die Instrumente zeigen nichts an.«
»Dann versuchen Sie, herauszufinden, was los war und ob es Auswirkungen auf den Flug der Kapsel hat«, sagte Irina. »Ich erwarte Ihren Bericht.«
»Das kann ich Ihnen bereits jetzt bestätigen«, mischte sich der zuständige Leiter der Mission ein. »Die Kapsel hat nicht die volle Schubenergie erhalten, die sie eigentlich erhalten sollte.«
»Was bedeutet das genau? Nun lassen Sie sich nicht alles einzeln aus der Nase ziehen!«
Der Leiter schluckte hörbar. »Die Kapsel wird nicht die erforderliche Umlaufbahn erreichen. Sie wird sich nach einigen Umläufen der Mondoberfläche stärker nähern, als beabsichtigt.«
»Wie nah genau? Verdammt noch mal, dort steckt eine von meinen Schülerinnen drin. Wir müssen sofort eine komplette Hochrechnung ihrer Bahn veranlassen. Ich will in wenigen Minuten wissen, ob Gefahr besteht.«
Die Männer in der Zentrale begannen hektisch zu arbeiten und gaben sämtliche verfügbaren Daten in den Computer ein. Kurz darauf stand es fest: Die Kapsel, in der Isabella steckte, würde sich nicht nur der Mondoberfläche nähern, sondern sie würde in das Gebirge des Leibnizgebirges einschlagen, wenn man sie nicht vorher bergen konnte.
»Okay«, sagte Irina. »Nun will ich ein Szenario für eine vorzeitige Bergung - und zwar gestern!«
»Das wird schwierig«, meinte der Leiter vorsichtig.
»Was soll das heißen? Es muss doch einen Weg geben, diese verdammte Kapsel zu bergen, bevor sie abstürzt!«
Irina war außer sich. »Ich will einen Überblick über alle Schiffe, die sich im Anflug auf den Mond befinden! Ich brauch Angaben über alle drei unserer Shuttles!«
»Die Shuttles werden die Kapsel nicht bergen können«, wandte einer der Techniker ein.«
»Ich scheiß auf die Kapsel, aber ich will Isabella Grimadiu dort herausholen!«, brüllte Irina den Mann an. Sie wusste, dass er nichts dafürkonnte, doch hatte sie seit Bestehen der Akademie noch nie einen Schüler durch einen Unfall verloren. Sie war nicht bereit, Isabella so schnell aufzugeben.
»Was ist nun mit den Schiffen, die auf dem Weg zum Mond sind?«
»Wir arbeiten daran.«
»Das muss schneller gehen!«, wandte Irina ein. »Wir haben einen Notfall und jetzt müssen Sie alle zeigen, was Sie können. Ich akzeptiere nur eine Antwort, und die lautet: Ja, wir holen das Mädchen da raus!«
Mit betretenen Gesichtern machten sie sich an die Arbeit. Bereits wenige Minuten später stand fest, dass keines der Schiffe, die auf dem Mond erwartet wurden, rechtzeitig eine Umlaufbahn erreichen konnte, um ein Rendezvous mit der Kapsel einleiten zu können.
»Dann eben die Shuttles«, sagte Irina. »Was ist mit denen?«
»Shuttle 1 ist zur Wartung in der Akademie-Werft«, erklärte der Leiter der Missions-Kontrolle. »Es ist zurzeit zerlegt und fällt daher aus. Shuttle 2 hat ein Problem mit der Steuerung. Sie haben den Fehler bisher nicht finden können. Es wird nicht gelingen, es rechtzeitig wieder einsatzbereit zu machen und in die Umlaufbahn zu lenken, bevor die Kapsel aufschlägt.«
»Wir haben aber drei Shuttles«, gab Irina zu bedenken. »Mir reicht ein einziges Shuttle. Was ist mit Shuttle 3?«
»Shuttle 3 hat ein Problem mit dem Triebwerk. Die Techniker arbeiten mit Hochdruck daran. Trotzdem wäre es ein Wunder, wenn sie es in den nächsten Stunden startklar bekommen würden.«
Irina spürte, wie eine eisige Kälte von ihr Besitz ergriff. »Sie wollen mir also sagen, dass wir, obwohl es noch Stunden dauert, bis es geschieht, keine Möglichkeiten haben, dieses Mädchen aus seiner Notlage zu befreien?«, fragte sie flüsternd.
»Ob es uns gefällt oder nicht, aber so sieht es aus«, sagte der Leiter. »Diese Katastrophe ist in dem beschissensten Moment aufgetreten, den man sich vorstellen kann. Vielleicht gelingt es ja noch, Shuttle 3 rechtzeitig flott zu bekommen.«
»Wie hoch schätzen Sie die Chancen?«
An den Gesichtern der Männer konnte sie erkennen, wie ernst die Lage war.
»Kein Wort zu Isabella Grimadiu!«, entschied Irina. »Sie wird sicherlich selbst herausfinden, was los ist, aber im Moment wird sie noch mit den Berechnungen beschäftigt sein. Es ist besser, wenn sie es noch nicht erfährt. Außerdem will ich, dass sämtliche Techniker sofort mit Hochdruck an Shuttle 3 arbeiten. Ich will die Maschine im Raum haben! Und jetzt an die Arbeit!«
Irina stürzte aus der Zentrale in ihr Büro. Schwer atmend ließ sie sich in ihren Sessel fallen. Es war nicht ihre Art, Alkohol im Dienst zu trinken, aber jetzt holte sie eine Flasche Wodka hervor und schüttete sich ein Glas ein. Auch der scharfe Schnaps sorgte nicht dafür, dass sie sich besser fühlte. Sie kam sich so hilflos vor. Was, wenn es nicht gelang, das rettende Shuttle rechtzeitig zu reparieren? Sie holte Isabellas Akte aus ihrer Schublade und schlug sie auf. Das lächelnde Gesicht des Mädchens blickte ihr vom Passfoto entgegen. Es durfte einfach nicht geschehen! Es musste einfach einen Weg geben, sie zu retten.
Irina stützte ihren Kopf schwer in ihre Hände und wartete angespannt auf den erlösenden Anruf der Zentrale.

* * *

Mit zitternden Fingern zog Jan sein kleines Funkgerät aus der Tasche und verband es mithilfe eines Kabels mit dem Kommunikationsanschluss seines Anzuges. Schnell schaltete er es ein und drückte auf die Ruftaste.
»Isabella bist du da?«, fragte er besorgt. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
Es dauerte eine Weile, dann kam die Antwort: »Ich kann dich hören, Jan. Ich glaub, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur etwas durchgeschüttelt worden, bevor der Treibstoff aufgebraucht war. Es ist schön, dich zu hören. Kannst du auf Empfang bleiben, oder lässt das deine Batterie nicht zu?«
»Du glaubst doch wohl, dass ich eine starke Batterie eingebaut habe. Ich werd bei dir bleiben.«
»Trotzdem werd ich jetzt erst mal abschalten, um meine ersten Messungen und Berechnungen zu machen. Außerdem warten sie unten auf eine Meldung von mir. Ich melde mich wieder, Schatz. Drück mir die Daumen, dass ich es gut hinbekomme.«
»Das tu ich immer«, sagte Jan und war froh, dass es Isabella gut ging. Trotzdem fragte er sich, was er da gesehen hatte. Es hatte den Eindruck vermittelt, als wenn Teile des Antriebs abgesprungen waren und danach Unregelmäßigkeiten ausgelöst hatten. Er hoffte, dass sich Isabella bald wieder meldete.
Bald darauf traf er mit seinem Jumper an seiner ersten Zelle ein. Jan landete und stieg ab. Das Gerät machte einen absolut intakten Eindruck. Die Positionslichter blinkten, wie sie es sollten und auch das Peilsignal war klar zu empfangen. Er stellte sich vor die Eingangstür und drückte auf die rote Taste daneben, worauf sich die Schleuse langsam öffnete. Der Anblick weckte Erinnerungen in ihm. Als er zum letzten Mal in eine solche Schleuse geblickt hatte, war er ungeheuer glücklich gewesen, lebend dort angekommen zu sein. Heute sah es anders aus. Er drückte der Reihe nach einige Knöpfe in der Schleusenwand, wodurch der Download der Systemdaten auf seinen Datenrekorder ausgelöst wurde. Jan beobachtet die Anzeigen an dem Gerät und stellte fest, dass der Selbsttest der Anlage keinerlei Defekte ergeben hatte. Er drückte daher wieder von außen auf die rote Taste und schloss den Eingang.
»Das war der Erste«, murmelte er und blickte auf seine Liste. Noch fünfzehn weitere Zellen waren zu überprüfen. Er seufzte und stieg wieder auf seinen Jumper. Augenblicke später war er wieder unterwegs. Er hatte auf einmal Lust, die Leistung des Jumpers etwas auszureizen und begann mit wilden Flugmanövern. Anerkennend musste er feststellen, dass diese neue Generation erheblich leistungsfähiger war, als dieses alte Ding, mit dem er zusammen mit Eva Terbuer abgestürzt war.
Es knackte in seinem Hörer und er erwartete schon, dass Isabella ihm von ihren ersten Berechnungen erzählen würde, doch es kam nichts weiter.
»Isabella?«, fragte er.
Zögernd meldete sich seine Freundin. »Ja, ich bin hier.«
»Was ist denn los, Isabella?« Jan hatte kein gutes Gefühl. Wenn sie so zurückhaltend und niedergeschlagen wirkte, hatte das einen Grund.
»Ich habe es immer und immer wieder nachgemessen, aber das Ergebnis ist stets dasselbe«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll ... Dieser Flug ist nicht so wie die anderen, Jan.«
»Nun sag schon, was los ist!«
Isabella schluchzte.
»Wir müssen unsere Pläne vielleicht begraben«, flüsterte sie. »Wie es aussieht, werde ich nicht bis zum Rendezvous-Punkt kommen.«
»Was?« Jan fühlte, wie sich eine Kälte in ihm breitmachte. »Was meinst du damit?«
»Ich bin nicht dumm. Ich weiß, wie man seine Geschwindigkeit ermittelt, wie man den Kurs feststellt und den Orbit berechnet. In der Theorie bin ich gut – du weißt das. Ich habe es jetzt vier Mal überprüft. Ich befinde mich auf einem instabilen, elliptischen Kurs. Zurzeit fällt die Kapsel wieder auf den Mond zu. Dieser Durchgang ist auch nicht der Entscheidende. Wenn die Kapsel wieder an seinem diesseitigen Maximum angekommen ist, wird sich der Kurs so weit der Mondoberfläche nähern, dass die Kapsel in die Gipfel des Leibnizgebirges einschlagen wird. So, jetzt ist es raus.«
Jan war wie vor den Kopf geschlagen. »Ja, aber man muss doch etwas tun. Der Frachter muss dich eben an einem anderen Maximum treffen.«
»Ich habe alles genau berechnet. Der Frachter kann erst mein sechstes Maximum erreichen. Er ist noch zu weit entfernt. Ich habe keine Chance, Jan. Versprich mir, dass du mich nicht vergessen wirst.«
»Jetzt hör auf! Du redest, als wenn du schon tot wärst! Die Akademie wird sich etwas einfallen lassen.«
»Kupharhti hat mich vorhin angerufen und mir mitgeteilt, dass sie keine Möglichkeiten haben, mich vor dem Aufschlag im Gebirge hier herauszuholen. Er drückte sein Bedauern aus und ich glaub sogar, er meinte es ernst. Sie hatten so einen Fall noch nie erlebt und normalerweise spielt es ja auch keine Rolle, wie lange wir um den Mond kreisen, bis ein Frachter erscheint.«
Jan spürte einen dicken Kloß in seinem Hals. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er war einfach nicht bereit, zu akzeptieren, dass er Isabella auf so grausame Weise verlieren sollte. Während er noch überlegte, knackte es in seinem Hörer. Isabella hatte abgeschaltet. Jan versuchte immer wieder, Kontakt zu bekommen, doch sie antwortete ihm nicht.