5. Exzentrizität

5.3 Eigensinn oder Dummheit?


Jans Gedanken rasten. Das Leibnitz-Gebirge. Das bedeutete, dass Isabella mit ihrer Kapsel näher als elf Kilometer an die Mondoberfläche herankam, aber wie nah genau? War es nur ein Kilometer, dann hätte sie recht und man könnte ihr nicht mehr helfen. Aber wenn es zehn oder elf Kilometer waren, würde ein kleiner Stoß vielleicht ausreichen, die Kapsel auf eine andere, höhere, Umlaufbahn zu bringen. Doch womit sollte man diesen Stoß erzeugen? Der Treibstoff in der Kapsel war verbraucht. Plötzlich hatte er eine ganz verrückte Idee. Sie war gefährlich und konnte ihn durchaus das Leben kosten, aber wenn es gelang, würden sie beide vielleicht überleben können. Er fühlte sich, als wäre nicht er selbst es, sondern als wenn jemand ihn von außen beobachtete. Hatte er tatsächlich beschlossen, einen gefährlichen, fast aussichtslosen Kampf aufzunehmen? Verdammt, es ging um Isabella. Ohne ihn war sie verloren - vielleicht war sie es ohnehin, aber es war zumindest eine Chance - so klein sie auch sein mochte. Er rief nach Isabella und fluchte, als sie sich nicht meldete.
Jan schaltete sein Funkgerät auf eine der üblichen Akademiefrequenzen und rief die Zentrale.
»Wer ruft auf dieser Frequenz?«, drang es unfreundlich aus dem Empfänger. »Das ist eine Notfrequenz!«
»Jan Lückert hier und es handelt sich um einen Notfall. Ich muss sofort jemanden sprechen, der mit der Exkursion von Isabella Grimadiu zu tun hat! Sie ist in Schwierigkeiten und ich muss sie unbedingt sprechen.«
Es dauerte einen Augenblick, dann meldete sich Irina Onotova. »Jan? Von wo sprechen Sie? Sie sollten doch auf Inspektionstour sein.«
»Ich bin auch auf der Inspektionstour. Wir können später darüber sprechen, wieso ich ein leistungsstarkes Funkgerät dabei habe, aber ich muss unbedingt Isabella sprechen.«
Irina zögerte einen Moment. »Sie wissen genau, dass während der Exkursion nur Kontakt zur Basis gestattet ist. Ich gehe davon aus, dass Sie versucht haben, diese Regel zu umgehen, als Sie sich entschlossen, ein Funkgerät mitzunehmen.  Ihre Isabella hat derzeit andere Probleme, als sich mit Ihnen zu unterhalten.«
Jan platzte der Kragen. »Verdammt noch mal, ja! Ich habe die Regeln gebrochen, als ich vorhin mit Isabella gesprochen habe! Tun Sie jetzt nicht so, als wäre alles in Ordnung. Isabella hat mir gesagt, was los ist und jetzt verbinden Sie mich endlich mit ihr. Ich muss sie unbedingt sprechen!«
»Warum rufen Sie sie denn nicht selbst an? Sie haben doch alle Möglichkeiten.«
»Das ist es ja gerade – sie antwortet nicht auf meine Rufe! Es ist aber wichtig.«
»Wenn Sie wirklich wissen, was geschehen ist, dann wissen Sie auch, dass wir Ihrer Freundin nicht helfen können, Jan. Es tut mir leid, aber auch Sie können nichts tun. Vielleicht will sie Sie nicht mehr sprechen, weil es ihr zu schwer fallen würde. Haben Sie daran gedacht?«
»Tun Sie es einfach«, bettelte Jan. »Bitten Sie Isabella, meinen Ruf anzunehmen. Bitte!«
»Gut, ich werde es tun. Aber Sie machen es sich unnötig schwer, glauben Sie mir.
Einen Moment, der sich für Jan wie eine Ewigkeit anfühlte, hörte er nichts im Hörer, dann meldete sich Irina wieder. »Es war, wie vermutet. Sie wollte es Ihnen nicht unnötig schwer machen, aber sie hat sich einverstanden erklärt, Ihren Ruf anzunehmen.«
»Danke, Irina, danke!«, rief Jan und unterbrach die Verbindung, um über seinen Tera-Hz-Sender mit Isabella zu sprechen. Diesmal nahm sie seinen Ruf an.
»Hallo Jan«, kam es müde aus dem Hörer. »Ich wollte eigentlich nicht mehr mit dir sprechen. Wir können es nicht ändern.«
»Halt!«, rief Jan dazwischen. »Es ist jetzt keine Zeit für Selbstmitleid. Ich brauch sofort alle Daten, die du ermittelt hast. Vor allem brauch ich die exakten Daten für die Ermittlung des Bahnmaximums vor deinem Aufschlag.«
»Was soll das jetzt noch? Ich hab mich nicht verrechnet.«
»Natürlich nicht! Aber schick mir die Daten. Ich will versuchen, dir zu helfen.«
»Du bist verrückt, Jan! Du kannst mir nicht helfen. Niemand kann das! Irina hat es mir genau erklärt. Sie ist selbst vollkommen fertig, aber tun kann sie nichts.«
»Isa!«, drängte Jan. »Bitte gib mir die Daten! Ich werde sie auf meinem Rekorder aufzeichnen. Bitte mach endlich!«
Jan konnte das hilflose Achselzucken Isabellas förmlich spüren, doch einen Moment später registrierte sein Rekorder eingehende Datensätze.
»Wie nah wirst du der Mondoberfläche kommen, wenn die Kapsel das Leibnitz-Gebirge erreicht?«, fragte er.
»Das ist ja das Tragische. Das Gebirge ist etwas über elf Kilometer hoch und ich hab genau dort meine größte Mondannäherung mit ziemlich genau elf Kilometern. Die Kapsel wird direkt oben in den Gipfel einschlagen.«
»Dann haben wir vielleicht eine Chance«, sagte Jan voller Hoffnung. »Wie viel Zeit bleibt uns bis zum Bahnmaximum vor dem Aufschlag?«
»Das sind jetzt knapp vier Stunden. Was, um Himmels willen, hast du vor? Bring dich nicht auch noch in Gefahr! Ich würd es nicht ertragen, wenn dir auch etwas geschieht!«
»Ich muss jetzt ein paar Gespräche führen, Isabella! Ich melde mich, sobald ich dir was Genaueres sagen kann.«
Noch bevor sie etwas sagen konnte, unterbrach Jan die Verbindung, um sich sofort wieder bei Irina Onotova zu melden. Er verzichtete auf alle Förmlichkeiten und redete sofort los: »Irina, ich übermittle gleich eine ganze Menge Daten, die ich soeben von Isabella erhalten habe. Ist jemand in der Zentrale, der mir detaillierte Auswertungen machen kann?«
»Was brauchst du?«, kam die knappe Frage. Jan registrierte, dass sie vom Sie zum Du übergegangen war.
»Ich brauche sämtliche Daten zum Bahnmaximum vor dem zu erwartenden Aufschlag. Ich muss die exakte Höhe, die exakte Position und den Zeitpunkt wissen.«
»Das klingt, als wenn du dir einen Rendezvous-Punkt errechnen lassen wolltest«, sagte Irina. »das kannst du vergessen. Der Frachter ist noch viel zu weit entfernt. Selbst, wenn er die Triebwerksleistung erhöhen würde, hätten wir keine Chance.«
»Es ist richtig: Ich will einen Rendezvous-Punkt. Aber ich will ihn nicht für einen Frachter. Ich will ihn mit dem Jumper erreichen.«
»Das ist verrückt! Ein Jumper ist ein Bodenfahrzeug und kein Raumschiff.«
»Wo ist der Unterschied? Der Jumper fliegt auch nur, weil er mit Triebwerksdüsen ausgestattet ist. Wenn er hundert Meter hoch fliegen kann, kann er auch mehrere Kilometer schaffen. Was ich wissen muss: Reicht die Leistung und Reichweite des Jumpers aus, um Isabellas Bahnmaximum zu erreichen?«
»Überspiel uns die Daten! Ich spreche sofort mit unseren Technikern. Es wäre sensationell, wenn du recht hättest.«
Jan drückte ein paar Tasten und fast gleichzeitig waren Isabellas Daten in der Akademie, wo sich sofort jemand darauf stürzte, um die geforderten Berechnungen anzustellen. Für Jan dehnten sich die Augenblicke zu Ewigkeiten, bis sich Irina meldete. »Die Idee war gut, aber sie wird nicht funktionieren. Bis zum Bahnmaximum sind es noch genau drei Stunden und zwanzig Minuten. Die Höhe über Grund wird siebentausendzweihundert Kilometer betragen. Dein Jumper hätte genügend Treibstoff, um diese Höhe zu erreichen, aber leider auch nicht mehr. Es bringt uns nicht weiter, wenn zusätzlich zu Isabella auch du mit dem Jumper abstürzt. Komm einfach zurück, Jan. Vergiss die Inspektionstour.«
»Ich kann die Kapsel erreichen? Du hast gesagt, dass ich sie erreichen kann? Wie viel Treibstoff wird der Jumper noch haben, wenn ich oben bin?«
»Was soll das, Jan? Du musst dich mit den Tatsachen abfinden. Wir können nichts mehr tun.«
»Wie viel Treibstoff?«, bohrte Jan. »Wie viel?«
»Verdammt noch mal, es reicht dann für etwa zwei Minuten, bis die Tanks endgültig leer sind.«
Jans Gedanken rasten. Es musste eine Möglichkeit geben. Isabella hatte einen funktionsfähigen Raumanzug an Bord. Sie konnte die Kapsel also verlassen. Aber was sollte sie draußen? Der Jumper würde ebenso abstürzen wie die Kapsel. Das brachte nichts. Dabei fehlten doch nur wenige Hundert Meter Bodenhöhe am Leibnitz-Gebirge.
Plötzlich wusste er, was er tun konnte. Nur durfte er es nicht der Basis mitteilen, da sie es ihm mit Sicherheit verbieten würden. Fieberhaft rechnete er aus, wann er von der Mondoberfläche starten musste, um den Rendezvous-Punkt zu erreichen. Die exakte Leistung seiner Jumper-Triebwerke entnahm er dem Handbuch. Er musste sich halt darauf verlassen, dass die Angaben stimmten. Sein Vorteil war, dass sich das Bahnmaximum ziemlich exakt über seinem derzeitigen Standort befand, sonst hätte er keine Chance gehabt. Nur dort, am Wendepunkt der äußerst exzentrischen Bahn von Isabellas Kapsel, war sie langsam genug, eine Annäherung zu wagen. Er blickte auf seine Uhr. In genau einer Stunde würde er die Triebwerke hochfahren und mit seinem Jumper in eine Höhe fliegen, in der noch nie ein Jumper geflogen war.
Die Stunde zog sich endlos hin. Er hatte darauf verzichtet, ein weiteres Mal Kontakt zu Irina aufzunehmen. Er hatte sich entschieden und wollte nicht riskieren, aufgehalten zu werden.
Zum vorgesehenen Zeitpunkt zündete der die Haupttriebwerke und der Jumper stieg steil in den schwarzen Himmel. Er rief Isabella auf der vereinbarten Frequenz und teilte ihr mit, dass er auf dem Weg zu ihr war.
»Leg bitte den Raumanzug an, Isabella. Wenn ich bei dir angekommen bin, musst du die Kapsel verlassen und zu mir herüberkommen.«
»Womit bist du auf dem Weg zu mir?«, wollte sie wissen.
»Mit meinem Jumper. Du musst zu mir auf den Jumper kommen. Bitte leg den Anzug an. Es muss dann alles sehr schnell gehen.«
»Bist du vollkommen verrückt geworden? Du kannst doch nicht mit so einem Ding in einen Orbit fliegen!«
»Warum nicht? Nur, weil es bisher noch niemand versucht hat? Ich hab es mir genau ausgerechnet und es müsste klappen.«
»Was tust du da?«, mischte sich Irinas Stimme über den normalen Funkkanal ein. »Wir sehen dich auf dem Radar. Bist du total verrückt geworden? Brech sofort diese Aktion ab!«
»Ich hab den Umkehrpunkt bereits überschritten, Irina«, sagte Jan. »Jetzt geht es nur noch vorwärts. Ihr könnt mir den Kopf später abreißen, wenn ich erfolgreich war. Wenn nicht ... nun ja. Ich hätte mich sowieso nicht aufhalten lassen. Ihr könntet mich aber unterstützen und den Jumper laufend triangulieren. Ich könnte diese Unterstützung gebrauchen, um den Kurs zu halten.«
»Du liegst gut auf Kurs«, sagte Irina knapp. »Junge, ich wünsch dir viel Glück bei dem, was du vorhast.  Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
»Danke. Ich kann es brauchen. Du wirst verstehen, was ich will, wenn es klappt. Wenn es nicht klappt, dann sollst du wissen, dass ich es nicht bereue, es zumindest versucht zu haben.«
Jan schaltete ab und blickte auf den Bildschirm seiner kleinen Konsole. Irina hatte seinem Wunsch sofort entsprochen, denn er sah ein paar dünne Hilfslinien, die ihm zeigten, ob er noch exakt auf dem beabsichtigten Kurs war. Irina war zu sehr Profi, um nicht genau zu verstehen, was er jetzt benötigte. Sie ließ seinen Flieger permanent von zwei verschiedenen Stellen anpeilen und übermittelte ihm das Ergebnis auf seinen Monitor. Er lächelte, als er darüber nachdachte. Es war ihm absolut klar, dass seine Aktion ein Nachspiel haben würde, doch das war ihm gleich. Wenn es erst ein Nachspiel haben würde, hätte er Erfolg gehabt und das war es Wert. Der Treibstoff war nun bereits fast aufgebraucht und er sah den Mond aus einer beunruhigenden Höhe. Er blickte sich zu allen Seiten um und versuchte, in der Schwärze des Alls einen kleinen, bewegten Körper auszumachen, der sich ihm näherte. Das war nicht einfach bei einer Kapsel, die ohne Antrieb unterwegs war. Er hoffte, dass sie im Sonnenlicht leicht glänzte und dadurch zu entdecken war. Vorsichtshalber band er sich mit einer Halteleine am Jumper fest. Nun konnte er sich aus seinem Sitz entfernen, ohne den Kontakt zu seinem Fahrzeug zu verlieren.
Dann war es so weit und der Rendezvous-Punkt war erreicht. Jan hatte bereits vorher das Triebwerk abgeschaltet und die restliche Geschwindigkeit des Jumpers ausgenutzt, den berechneten Treffpunkt zu erreichen. Die Anziehungskraft des Mondes bremste seinen Flug immer weiter ab, und wenn er alles richtig gemacht hatte, würde sein Stillstand exakt mit Isabellas Bahnmaximum übereinstimmen.
»Ich kann dich sehen!«, ertönte es aus seinem Helmkopfhörer. »Soll ich jetzt aussteigen?«
Jan drehte seinen Kopf in alle Richtungen, dann entdeckte er die Kapsel ebenfalls. Sie kam scheinbar ganz gemächlich auf ihn zu. Kurz beurteilte er die Flugbahn und sah, dass sie in weniger als zwanzig Metern aneinander vorbeifliegen würden. Das schien wie ein Geschenk des Himmels. Er packte aus einer Kiste einige Magnetanker aus, an denen Seile befestigt waren. Dann nahm er im Pilotensitz Platz und zündete die kleinen Navigationsdüsen, womit er den Jumper nach Gefühl näher an die Kapsel heransteuerte. Als ihm der Abstand ausreichend erschien, warf er der Reihe nach die Magnetanker zur Kapsel hinüber. Sie mussten in der Kapsel beim Aufschlag einen höllischen Lärm verursachen, aber wegen der fehlenden Atmosphäre spielte es sich für Jan in absoluter Stille ab.
»Jetzt steig aus, Isabella! Achte auf die Seile an den Magnetankern. Daran kannst du dich zu mir hinüberhangeln.
Er sah, wie sich eine Luke an der Kapsel öffnete und Isabella in ihrem schneeweißen Raumanzug herauskletterte. Sie winkte kurz und griff dann nach dem ihr am nächsten hängenden Seil. Wenig später war sie bei ihm und er umarmte sie trotz des ungefügen Anzuges.
»Wie soll es weitergehen?«, fragte sie. »Du ahnst gar nicht, wie froh ich bin, dass du da bist.«
»Es wird jetzt ein richtiger Eiertanz«, gab Jan zu. »Der Jumper hat nur noch Treibstoff für etwa zwei Minuten. Diese zwei Minuten müssen wir richtig einsetzen. Welches ist die Flugrichtung der Kapsel? Man kann es jetzt im Augenblick nicht gut erkennen.«
»Wir sind jetzt im Moment genau auf der Rückseite. Warum ist das wichtig?«
»Weil ich diese Kapsel etwas anschubsen will. Mein Plan basiert darauf, dass ein Körper, der schneller wird, sich auf einer höheren Bahn stabilisieren wird. Es fehlen am Leibnitz-Gebirge nur wenige Hundert Meter. Wenn wir die Bahn bereits hier korrigieren können, sollte es unten für uns reichen.«
»Das ist dein Plan?«, fragte Isabella entgeistert. »Vielleicht schlagen wir aber auch nur noch schneller dort unten ein. Dann sind wir beide tot. Hätte es nicht gereicht, dass es mich allein trifft?«
»Ein bisschen Zuversicht würde uns beiden im Moment gut zu Gesicht stehen«, sagte Jan gereizt. »kletter bitte auf die Unterseite und halte dich zwischen den Triebwerken fest. Am besten hakst du dich dort fest. Ich komm gleich nach.«
Isabella zögerte einen Augenblick und Jan winkte mit den Armen. »Mach endlich! Für lange Erklärungen fehlt jetzt die Zeit.«
Er wartete, bis sie verschwunden war, dann nahm er ein paar Schaltungen vor und zündete die Triebwerke. Erschreckend schnell stürzte der Jumper auf die Kapsel zu. Er schaffte es soeben noch, hinter dem Sitz in Deckung zu gehen, als der Aufschlag erfolgte. Er wurde gut durchgeschüttelt, hatte aber keine Zeit, sich davon beeindrucken zu lassen. Rasch griff er nach den an den Magnetankern angebrachten Leinen und spannte sie, damit sich der Jumper nicht mehr von der Kapsel lösen konnte. Dann kletterte er um die Plattform herum und atmete auf, als er Isabella unbeschadet zwischen den Haupttriebwerken hängen sah.