5. Exzentrizität

5.4 Exzentrizität


Die Masse der Kapsel war ungleich größer, als die des Jumpers, und er hoffte, dass die Leistung der Triebwerke ausreichen würde. Nach knapp zwei Minuten war der Treibstoff erschöpft und die Düsen verstummten wie abgeschnitten. Jan kletterte zu Isabella und hakte sich ebenfalls dort ein.
»Ich hoffe, wir haben es geschafft«, sagte er.
»Können sie uns unten nichts dazu sagen?«
Jan griff an seine Seite, doch sein Funkgerät war verschwunden. Die Außentasche war eingerissen und das Anschlusskabel abgerissen. »Verdammt, das Funkgerät ist weg! Mit dem Helmfunk haben wir nicht die notwendige Reichweite. Wir werden uns überraschen lassen müssen. Eines können wir allerdings noch tun.«
»Und das wäre?«
»Wir stoßen uns mit aller Kraft vom Jumper ab. Das bringt etwas Raum zwischen uns und diesen Klotz hier.«
Jan konnte sich vorstellen, dass Isabella nun skeptisch zu ihm hinüberschaute, aber wegen des spiegelnden Visiers war ihr Gesicht nicht zu erkennen.
»Du hältst das wirklich für notwendig?«
»Allerdings. Je eher wir es tun, um so größer wird die Wirkung an der kritischen Stelle sein. Komm hak dich los und ich zähle bis drei, dann fassen wir uns an den Händen und stoßen uns mit aller Kraft ab.«
Isabella zögerte. »Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist.«
»Wir sind jetzt an einem Punkt, wo wir das durchziehen oder aufgeben. Alles, was uns jetzt hilft, unsere Bahn um den Mond auch nur um ein paar Meter anzuheben, kann über Leben oder Tod entscheiden.«
»Das kannst du so nüchtern sagen?«, fragte sie mit zittriger Stimme.
»Isa, ich bin alles andere als cool. Im Grunde hab ich eine Scheißangst, dass es schiefgeht. Aber ich hab in einem kleinen Winkel meines Schädels das Gefühl, es könnte klappen. Ich habe nicht vor, in diesem verdammten Gebirge draufzugehen und vor allem will ich nicht, dass dir etwas geschieht. Können wir jetzt abspringen?«
»Jan?«
»Ja?«
»Liebst du mich?«
»Ja.« Jans Stimme klang heiser und war fast nicht zu verstehen.
»Ich dich auch. Ich will, dass du das weißt, und wollte es hören - für den Fall, dass wir es nicht schaffen. Und nun los!«
Sie fassten sich nicht an den Händen, sondern banden sich mit einem Stück Seil aneinander, dann sprangen sie mit aller Kraft ab.
Ganz langsam rotierten sie dabei um ihre Längsachse und bekamen daher immer nur für einen kurzen Augenblick Sicht auf die Kapsel, die sich mit jeder Umdrehung weiter von ihnen entfernte.
Die extreme Exzentrizität der Flugbahn, die dadurch wie ein extrem platt gedrückter Kreis wirkte, führte dazu, dass sie im weiteren Verlauf ihres Fluges das Gefühl bekamen, direkt auf den Mond zu stürzen. Es war durchaus ein Unterschied, zu wissen, dass es nur zu einer extremen Annäherung kommen würde, und dem optischen Eindruck, der einem ein anderes Bild vermittelte. Je näher sie dem Boden kamen, umso nervöser wurden sie. Nach jeder Rotation ihrer Körper sahen sie sich dem Mond ein gutes Stück näher. Jan, den bisher Planung und Rettung Isabellas abgelenkt hatten, spürte plötzlich eine reale Angst. Er klammerte sich an Isabella, die seinen Druck erwiderte. Es ging ihr nicht anders als ihm. Mittlerweile konnten sie bereits alle Details des Bodens erkennen. Sie bewegten sich mit hoher Geschwindigkeit fast parallel zur Mondoberfläche. In weiter Ferne kamen die Spitzen des Leibnitz-Gebirges in Sicht. Jan stellte fest, dass sich seine Atmung beschleunigte und er seinen Puls bis in den Hals spüren konnte. Er fragte sich, ob man es spüren würde, wenn man mit dieser Geschwindigkeit in die Spitzen des Gebirges einschlagen würde, oder ob es einfach nur vorbei wäre. Er wollte noch etwas sagen, doch fand er einfach keine Worte.
Als das Gebirge nach ihrer nächsten Umdrehung wieder in Sicht kam, war es schon gefährlich nah. Jan war sich nicht sicher, ob es wirklich reichen würde. Die filigranen Spitzen der Gipfel reichten bis in ihre Flughöhe. In diesem Moment blitzte es vor ihnen grell auf und die Automatik der Helme schaltete die Filter ein. Schlagartig wurde es wieder dunkel.
»Was war das?«, fragte Isabella, die es ebenso gesehen hatte.
»Ich habe keine Ahnung. Es sah fast so aus, als wenn es eine Sprengung war, doch wer sollte genau hier etwas sprengen?«
Die nächste Umdrehung war vollendet und sie konnten wieder auf die Mondoberfläche blicken. Sie begriffen erst nicht, was sie sahen. Das Leibnitz-Gebirge lag hinter ihnen und in der Phalanx der filigranen Spitzen klaffte ein breiter Spalt.
»Ich weiß, was das war!«, rief Isabella plötzlich. »Das war keine Sprengung! Wir haben uns doch von der Kapsel abgestoßen. Sie war dadurch ein kleines Bisschen schneller als wir, aber immer noch in unserer Flugbahn.«
»Du meinst ...«
»Genau! Die Kapsel hat uns gerettet. Sie schlug genau vor uns ein und die kinetische Energie reichte aus, für uns den Weg freizumachen. Wir sind genau durch den frisch entstandenen Spalt geflogen.«
»Dann haben wir es geschafft?«, fragte Jan, der es noch immer nicht glauben konnte.
»Schau doch, wir steigen bereits wieder und die Leibnitz-Berge sind die höchsten auf dem Mond. Du hast es geschafft, Jan.«
»Wir haben es geschafft, Isabella«, betonte Jan. »Ich hätte es nicht ertragen können, dich zu verlieren und es nicht wenigstens versucht zu haben, dich zu retten.«
Isabella lachte befreit. »So, wie es aussieht, haben wir doch noch eine gemeinsame Zukunft.«
»Ich würde dich jetzt gern küssen.«
»Vergiss deinen Vorsatz nicht«, sagte Isabella. »In einer Stunde etwa wird der Frachter von der Erde in der Position sein, uns einzusammeln. Sobald ich aus diesem Anzug raus bin, komm ich auf dein Angebot zurück.
Sich immer weiter drehend, folgten sie ihrer Bahn zum nächsten Bahnmaximum. Als sie es fast erreicht hatten, meldete sich eine Stimme in ihren Helmkopfhörern:
»Hier spricht Kommandant Li vom Frachtraumschiff ›Tokio‹. Wir haben Sie auf unserem Meteoritenradar und bereiten Ihre Übernahme vor.«
»Sie glauben nicht, wie sehr ich mich darauf freue«, antwortete Jan. »Wir können es kaum erwarten, von Ihnen an Bord geholt zu werden.«
Die Mannschaft des Frachters verstand etwas von ihrem Geschäft. Sie hatten ihre Position so exakt auf die Daten der beiden Menschen abgestimmt, dass es letztlich ausreichte, ihnen einen Leine hinüberzuschießen. Bereits beim dritten Versuch gelang es den beiden, sie zu fangen und sich in die Schleuse des Frachters ziehen zu lassen.
Nachdem sie sich wieder in einer atembaren Atmosphäre befanden, nahmen sie sich sofort die Helme ab und atmeten kräftig durch, danach fielen sie sich in die Arme und sie küssten einander leidenschaftlich. Die Mannschaftsmitglieder applaudierten, worauf sie sich fragend umblickten.
»Diesen Applaus haben Sie sich verdient«, sagte Kommandant Li. »wir haben Ihre Aktion über weite Strecken über unser Ortungsradar beobachten können. Das war ein echtes Husarenstück, das Ihnen so leicht keiner nachmacht.«
»Wenn ich ehrlich bin, würde ich es mir lieber selbst nicht nachmachen«, antwortete Jan lachend. »Sie glauben nicht, wie glücklich ich darüber bin, dass es funktioniert hat.«
Li wandte sich an Isabella. »Ich würde Ihnen raten, diesen Kerl zu behalten. Nicht jeder würde so etwas wagen, um Sie zu retten.«
»Das weiß ich.« Lächelnd lehnte sie sich gegen Jan, der ihr einen Arm um die Hüften legte.
Später, nachdem der Frachter auf dem Landeplatz bei der Akademie gelandet war und sie die Station betraten, wurden sie von einer großen Menge Schüler und Lehrer erwartet, die ihnen ebenfalls heftig applaudierten.
Irina löste sich aus der Menge und kam auf Jan und Isabella zu. Sie nahm erst Isabella und dann auch Jan in den Arm. Leise sagte sie zu ihm: »Es ist dir doch klar, dass es ganz einfach Glück war, nicht wahr? Und es ist dir auch klar, dass es ein Verstoß gegen die Disziplin war?«
»Das ist mir mehr als klar und ich bin auch bereit, alle Konsequenzen zu tragen«, erwiderte er ebenso leise. »aber ihr hättet mich nicht daran hindern können, es zumindest zu versuchen. Mein Plan war gut und fundiert. Es war die einzige Chance, die wir hatten.«
Irina nickte. »Du ahnst nicht, wie sehr wir euch die Daumen gedrückt haben. Deine Aktion hat die Bahn der Kapsel und auch von euch selbst um ganze sechshundert Meter angehoben. Es fehlte lediglich ein ganz kleiner Zipfel, der euch fast zum Verhängnis geworden wäre, aber da ihr genau auf der Bahn der Kapsel wart, hat sie euch das Hindernis aus dem Weg geräumt. Es war traumhaft.«
Sie beugte sich noch einmal zu ihm vor und flüsterte ihm ins Ohr: »... und die Konsequenzen vergessen wir ganz schnell wieder. Ist alles schon mit Dr. Kupharhti abgesprochen. Er wird euch morgen noch zu sich bitten.«
Isabella nickte. »Morgen gern, aber wenn es euch nichts ausmacht, würden wir uns gern zurückziehen. Ich weiß nicht, wie Jan darüber denkt, aber ich für meinen Teil hatte heute genug Aufregung.«
»Das seh ich genauso«, bestätigte Jan. »Wir brauchen jetzt nur noch eine heiße Dusche und dann ein Bett.«
»Das kann ich verstehen.« Irina blinzelte ihnen zu. »Verschwindet schon. Wir reden morgen weiter.«
Sie winkten den anderen noch zu und beeilten sich dann, die Menge hinter sich zu lassen. Auf dem Gang hielt Jan Isabella kurz fest und sah ihr in die Augen.
»Zu dir oder zu mir?«
»Zu dir!«, antwortete Isabella lachend und griff nach seiner Hand. So schnell sie konnten liefen sie durch die Gänge bis zur Wohneinheit, in der Jan wohnte. Dort wurden sie bereits von Pelle und Gina erwartet, die sie heftig umarmten.
»Das war grandios!«, schwärmte Pelle. »Ich glaube nicht, dass ich auf eine so bescheuerte Idee gekommen wäre.«
»Bescheuert?«, entrüstete sich Jan. »Die Idee war ...«
»Einfach Klasse!«, grinste Pelle. »Ich bin so froh, euch beide zu sehen!«
»Hättest du denn auch versucht, mich zu retten?«, fragte Gina spitzbübisch.
»Auf jeden Fall!«, versicherte Pelle.
Gina wandte sich Jan. »Es ist schon eigenartig, aber ist dir eigentlich schon mal aufgefallen, dass dir immer wieder die verrücktesten Dinge passieren?«
»Du hast schon recht. »Aber ich würde mir selbst auch wünschen, nicht immer mit so nem Scheiß konfrontiert zu werden. Etwas mehr Normalität täte mir ganz gut.«
Isabella hatte keine Lust mehr, noch länger Small Talk zu machen und zog Jan in sein Zimmer.
»Ihr müsst uns entschuldigen«, sagte sie mit einem Augenzwinkern. »Aber wir müssen noch unsere Wiedergeburt feiern.«
Sie verschwanden im Zimmer und schlossen die Tür. Gina und Pelle standen davor, sahen sich an und lachten los.
»Wiedergeburt nennt man das jetzt also«, sagte Gina gibbelnd und hakte sich bei Pelle ein. »Was hältst du davon, wenn wir auch noch ein wenig feiern gehen?«
Pelle küsste sie zärtlich. »Einverstanden. Aber warum feiern gehen? Lass uns doch gleich hier bleiben. Ludger und Giovanni sind unterwegs. Es würde nicht stören, wenn du bleibst.«
Gina zögerte einen Augenblick. »Pelle, ich weiß nicht ...«
»Bitte.«
Sie sah ihn an und bemerkte seinen Dackelblick. Das war zu viel für sie. Lachend warf sie sich in seine Arme. »Ach, scheiß drauf. Ich bleibe bei dir.«
Sanft zog er sie mit in sein Zimmer und löschte das Licht im Wohnraum. Es würde an diesem Abend sicher nicht mehr gebraucht werden.