7. Buran

7.1 Überraschung für Jan - Teil 1/2


Jan Lückert und die anderen seines Jahrgangs waren inzwischen im sechsten Semester und gehörten damit bereits zu den so genannten ›alten Hasen‹ unter den Studenten der UNO-Raumakademie auf dem Mond. Gerade eben hatte er einen dreiwöchigen Urlaub auf der Erde hinter sich gebracht, den er in erster Linie dazu genutzt hatte, wieder einmal seine Eltern zu besuchen. Nachdem sie anfangs arge Bedenken gehabt hatten, waren sie nun über alle Maßen stolz auf ihren Sohn, den Raumfahrer. Es war ihm schon manchmal peinlich gewesen, wenn seine Mutter überall herum erzählte, ihr Sohn, der Raumfahrer, sei zu Besuch.
Andererseits konnte er es ihnen nicht verdenken, denn es war immer noch etwas ganz Besonderes, zu dieser Gilde zu gehören. Dazu kam noch, dass er nur selten die Gelegenheit bekam, seinen Fuß auf die gute alte Erde zu setzen. Die ersten Tage waren immer sehr hart, wenn er sich wieder an die hohe Schwerkraft des Planeten gewöhnen musste, doch danach ging es eigentlich ganz gut. Jedes Mal, wenn er nach Hause kam, stellte er fest, wie sehr er sich bereits aus seinen alten sozialen Strukturen gelöst hatte. Traf er einen früheren Mitschüler oder Freunde von früher, freute er sich, sie zu sehen, doch bereits nach wenigen Minuten stand man beieinander und die Gesprächsthemen gingen aus. Isabella fehlte ihm. Er wusste zwar, dass auch sie ihre Ferien auf der Erde verbrachte, doch sie war an der Ostküste der Vereinigten Staaten, wo man ihre Familie angesiedelt hatte. Die Schwierigkeiten mit dem rumänischen Geheimdienst, welche die Familie Isabellas belastet hatten, gehörten inzwischen der Vergangenheit an, nachdem man in Rumänien eingesehen hatte, dass sie hier keine Vorteile mehr erzielen konnten. Einmal am Tag telefonierte er mit Isabella, doch sehnte er die ganze Zeit über den Tag herbei, an dem sie sich wieder auf dem Mond treffen würden.
Nun saß er in einem Raumschiff und befand sich wieder auf dem Weg zur Akademie. Es war nicht so komfortabel wie beim letzten Mal, als er das Glück hatte, wieder mit der Moonshuttle-1 zu fliegen, mit der er auch seinen ersten Flug zum Mond gemacht hatte. Diesmal musste er mit einem der Frachter reisen, die frische Nahrungsmittel und andere Gebrauchsgüter zur Mondstation brachten. Diese Frachter waren oft bis unter das Dach mit Gerätschaften vollgestopft, denn Transfers zum Mond waren teuer und die teilweise privat finanzierten Frachter mussten ihre Kosten decken. Jan war froh, dass diese Passage bald vorbei war. Die Mannschaft war äußerst mürrisch und abweisend und er hatte keine Ahnung, warum sie sich so verhielten. Erst kurz vor Erreichen der Mondumlaufbahn gelang es ihm, die junge Funkerin in ein Gespräch zu verwickeln. Das Mädchen war ungefähr in seinem Alter und Jan hatte sich die ganze Zeit über gefragt, wieso er sie noch nie vorher gesehen hatte. Er war nun bereits seit guten drei Jahren auf der Akademie, und selbst wenn sie in einem der Jahrgänge vor ihm gewesen wäre, hätte er sie zumindest schon einmal gesehen haben müssen.
»Eigentlich bist du gar nicht so arrogant, wie man es von euch allgemein behauptet«, sagte sie.
Jan war verblüfft. »Wieso sollte ich arrogant sein?«
»Na, ihr Akademieleute haltet euch doch für was Besseres.«
»Was für ein Blödsinn!«, fuhr Jan auf. »Worauf sollten wir uns denn etwas einbilden? Irgendwann waren wir immerhin alle mal dort und haben studiert.«
»Wie kommst du auf diese Idee?«, fragte das Mädchen. »Wir sind die Besatzung eines kommerziellen Frachters. Unsere Betreiberfirma besitzt noch ein paar andere Schiffe. Die Besatzungen werden auf der Erde im Uchinoura-Space-Center in Japan ausgebildet. Diese Ausbildung ist aber nichts im Vergleich zu dem, was ihr in der UNO-Akademie lernt.«
»Hast du dich denn auch für einen Platz in der Akademie beworben?«
»Ich habe nicht einmal eine Antwort von dort bekommen«, sagte sie gereizt. »Aber ich wollte unbedingt ins All und da bot sich mir – wie allen anderen hier an Bord – nur die Chance als Frachterbesatzung bei Space-Freight India Corp. Die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sind nicht sonderlich gut.«
Sie lächelte ihn an. »Aber wenigstens fliege ich ins All.«
»Ich wusste überhaupt nicht, dass Raumfahrer noch woanders ausgebildet werden als auf dem Mond. Aber du bist Funkerin. Bewirb dich doch bei einem der staatlichen Unternehmen als Funker.«
»Ich will überhaupt nicht als Funker arbeiten!«, ereiferte sie sich. »Mein Traum ist es immer gewesen, Pilot oder Navigator zu werden. Ich weiß, dass ich das könnte, aber es heißt, wenn es genug von euch Akademieabgängern gäbe, würden wir sogar unsere bisherigen Jobs verlieren.«
Jan war betroffen. Noch nie hatte er diese Kehrseite der Medaille gesehen. Er war nie auf die Idee gekommen, dass Akademieabgänger irgendwann anderen ihre Arbeitsplätze wegnehmen würden.
»Vielleicht könntest du ja einmal für mich nachfühlen, ob es nicht wenigstens noch eine Chance gibt, als eine Art Seiteneinsteiger zur Akademie zu kommen.« Sie blickte ihn hoffnungsvoll an. »Ich würde alles tun, um dort studieren zu können.«
»Ich kann es ja mal versuchen«, sagte Jan ohne große Überzeugung. »Wie ist denn dein Name und wie kann ich dich erreichen? Fliegst du immer auf dieser Route?«
»Mein Name ist Selma Horec. Warte, ich schreib‘s dir auf. Es wäre wirklich sehr nett, wenn du das tun würdest. Erreichen kannst du mich entweder über meine Mailbox bei India Corp. oder direkt hier an Bord. In den kommenden Wochen sind wir allerdings weiter weg. Die INDIALOX 3 hat einen Frachtauftrag für die neue Orbitalstation der Venus erhalten. Wir reißen uns nicht um diesen Job, aber er hilft, unsere Rechnungen zu bezahlen. Wie ist denn dein Name?«
»Jan. Jan Lückert.«
»Jan Lückert, der damals seine Freundin in einem extrem waghalsigen Manöver gerettet hat?«, fragte sie. »Es ging überall durch die Presse.«
»Ja, der bin ich«, antwortete Jan und es begann, ihm peinlich zu werden. »Ich hoffe, du glaubst nicht, was sie alle geschrieben haben. Ich bin weiß Gott nicht der Held, als den sie mich dargestellt haben. Ich hatte gehofft, dass man es bereits wieder vergessen hat.«
»Aber doch nicht unter uns Raumfahrern.«
Inzwischen hatte der Frachter eine stabile Umlaufbahn erreicht und der Kommandant forderte ein Shuttle zum Entladen der Fracht an, da die IndiaLox3 nicht für eine Landung geeignet war.
Zwei Stunden später traf ein Shuttle an der Ladeschleuse des Frachters ein und dockte an. Eva Terbuer, die mittlerweile ihr Diplom erhalten hatte, steuerte es und war sehr erfreut, als sie sah, wen sie als Passagier mit auf den Mond hinunter mitnehmen sollte.
»Mensch Jan!«, rief sie. »Gut, dass du wieder da bist.«
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Isabella ist gestern auch schon eingetroffen. Sie wird Augen machen, wenn sie erfährt, dass du schon da bist.«
Kurze Zeit später stiegen sie in das Shuttle und machten sich auf den Weg hinunter zur Akademie.
»Wie sieht es eigentlich aus, Eva?«, fragte Jan. »Jetzt, wo du zur Stationsbesatzung gehörst, hat sich da Vieles in deinem Tagesablauf geändert?«
»Oh ja, das kann man wohl sagen! Ich hatte als Student immer das Gefühl, der Druck, der auf uns lastete, wäre groß. Ich kann dir versichern: Er nimmt noch zu.«
»Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Die Freizeit unter uns Studenten ist doch schon recht knapp bemessen. Willst du mir jetzt etwa sagen, dass noch weniger Zeit für uns selbst bleibt?«
Eva wiegte ihren Kopf. »So würde ich es nicht ausdrücken. Es ist die Verantwortung. Sie geben dir einen Auftrag und du bist in vollem Umfang für die Durchführung zuständig. Nimm beispielsweise diesen kurzen Trip vom Mond mit dem Shuttle zum Frachter. Als Student setzt du dich in das Shuttle, checkst die Systeme durch und machst dich auf den Weg. Ich musste mich jetzt wirklich um alles selbst kümmern: Treibstoff, Atemluft, Wartung, Technik, einfach um alles. Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran und wächst hinein, aber im Augenblick ist es eine ganze Menge.«
Jan machte sich daran, sich auf dem Kontursitz in der zweiten Reihe anzuschnallen.
»Was machst du da?«, fragte Eva. »Komm gefälligst nach vorn und setz dich auf den Platz des Co, oder fühlst du dich etwa als Passagier? Das kannst du getrost vergessen.«
Jan überlegte. Eva hatte recht. Schließlich hatte er selbst schon ein solches Shuttle geflogen und es fast eigenständig gelandet. Er war im sechsten Semester und in wenigen Jahren würde er auch eigenverantwortlich solche Maschinen fliegen.
»Tut mir leid, ich habe nicht nachgedacht«, sagte er entschuldigend, während er sich auf dem Co-Pilotensitz anschnallte.
»Ich fliege, du lieferst mir die ILS-Daten, in Ordnung?«
»Ey ey, Captain!«
Eva sah ihn grinsend von der Seite an.
Sie drückte ein paar Tasten und griff nach dem Steuerknüppel. Mit einem leichten Ruck setzte sich das Shuttle in Bewegung und richtete die Nase auf die Mondoberfläche.
»Habt ihr euch eigentlich auf der Erde gesehen?«
»Wer?«
»Mein Gott, dich und Isabella meine ich. Habt ihr euch auf der Erde getroffen?«
»Nein, ich war bei meinen Eltern in Deutschland. Isabellas Familie lebt in Florida. Wir haben aber täglich telefoniert.«
Eva schmunzelte. »Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ihr immer noch zusammen seid. Ihr seid beide im Grunde Menschen mit einer Sonderbegabung für die Lenkung von Schiffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ihr zwei später auf demselben Schiff landet, ist gering. Wie stellt ihr euch das eigentlich vor?«
»Das weiß ich doch heute noch nicht! Ich liebe Isabella. Meinst du nicht, dass das reichen könnte?«
»Ich weiß es nicht«, gab Eva zu. »Ich bin jedenfalls froh, dass mein Freund Techniker ist. Da haben wir eine Chance, eine Anstellung auf demselben Schiff zu bekommen.«
Eine Alarmmeldung auf dem Armaturenbrett unterbrach ihre Unterhaltung.
»Okay. Da ist das Signal. Ab jetzt will ich ständig die ILS-Daten. Ich trau diesem Landecomputer nicht so ganz.«
»Ich werd dir die Basisdaten direkt auf dein Display senden. Um die Trimmung brauchst du dich nicht zu kümmern, die übernehme ich.«
Eva nickte. So gefiel es ihr. Es machte Spaß, mit jemandem zu fliegen, der verstand, worauf es ankam und sich verantwortlich fühlte.
»So hab ich‘s gern«, sagte sie. »Da wird die Steuerung eines Shuttles zum Kinderspiel.«
Schnell näherten sie sich dem Landefeld der Akademie und Eva flog eine kleine Schleife, bei der sie die Anfluggeschwindigkeit so weit verringerte, dass sie den Flieger sanft aufsetzen konnte.
Als die Triebwerke abgeschaltet waren, drehte sich Eva zu ihm herum. »Hast du eigentlich schon mal was von 2006UB gehört?«
Jan schüttelte den Kopf. »Was soll das denn sein?«
»2006UB ist ein Asteroid, der im Jahre 2006 entdeckt wurde. Früher hat man diesen Dingern klingende Namen oder die Namen der Entdecker gegeben, aber seit man mithilfe moderner Teleskope aus dem Erdorbit suchen kann und ständig neue Asteroiden entdeckt, nummeriert man sie nur noch durch.«
»Was ist denn nun mit diesem Asteroiden?«
»Er wird in acht Wochen in einer Entfernung von etwa 2 Millionen Kilometern am Erde-Mond-System vorbeifliegen.«
»So dicht?«, fragte Jan. »Das gibt sicher Probleme mit irgendwelchen abergläubischen Menschen unten auf der Erde, oder?«
Eva winkte ab. »Dazu kann ich nichts sagen. Wichtiger ist, dass ich dort hinfliegen werde.«
»Du wirst was? Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass du an einem solchen Forschungsflug teilnehmen wirst?«
»Genau. Und das ist noch nicht alles. Ich habe Kupharhti davon überzeugen können, dass es eine gute Idee wäre, es zu einer Exkursion für die Akademie zu machen.«
Jan glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Die Akademie will ihn untersuchen? Steht die Teilnehmerliste bereits fest?«
Eva grinste ihn offen an. »Jetzt hat er Blut geleckt. Nein, wir haben noch nicht alle zusammen, die ich gern dabei hätte.«
»Wird Isabella mitfliegen?«
Eva lachte. »Das war ja klar, dass du diese Frage stellst. Aber nein, Isabella hat bereits einen anderen Auftrag bekommen. Sie wird nicht an Bord sein. Ich brauch aber noch einen Piloten mit guten Instinkten. Ich weiß, du bist erst im sechsten Semester, und es gibt Studenten in den höheren Klassen, die eigentlich eher dabei sein sollten, doch ich will dich im Boot haben. Du bist zurzeit einer der beiden besten Piloten, die wir in der Akademie haben.«
Jan fühlte sich geschmeichelt, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen.
»Wer ist der andere Pilot, der infrage käme?«, fragte er vorsichtig.
»Isabella. Aber die steht nicht zur Verfügung.«
»Mit welchem Schiff soll denn diese Erkundung durchgeführt werden?«
»Das ist der Haken an der Sache: Man gibt uns nur den Prototyp einer umgebauten Buran-Fähre.«
Jan überlegte. Den Namen Buran hatte er schon einmal gehört. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. »Das kann doch nicht sein! Die Buran ist doch eine Raumfähre der Russen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nie zum Einsatz gekommen ist. Sie sollte damals ursprünglich zur Versorgung der abgestürzten Raumstation Mir eingesetzt werden. Die hatte nicht einmal ein richtiges Triebwerk. Moment! Jetzt weiß ich es wieder. Die Buran hat nur Steuerdüsen. Sie sollte mit einer speziellen Trägerrakete in den Orbit geschossen werden. Wie kommt ein solches Ding auf den Mond?«
»Die ukrainische NSAU hat an der alten Fähre ordentlich herumgeschraubt und einen Teil des Nutzraumes mit einem Antrieb versehen, der für ausreichend Schub sorgt, um den Vogel bis hierher zu bringen. Jetzt kreist er hier im Mondorbit und ist uns im Weg. Die NSAU hat nicht mehr die Mittel, die Buran wieder nach Hause zu holen. Ihnen ist das Geld ausgegangen. Jetzt haben sie uns die Fähre geschenkt und wir haben sie am Hals.«
»Und du meinst, man kann sie tatsächlich nutzen, um diesen Asteroiden anzufliegen?«
»Ich werd dir die Unterlagen zeigen, Jan. Die Russen hatten da einen Flieger gebaut, der in puncto Manövrierfähigkeit selbst unseren großen Shuttles noch etwas vormachen kann. Nur er hatte kein Haupttriebwerk, das ihn in den Orbit befördern konnte. Nun hat er eins. Es ist zwar nicht gerade dasselbe wie in unseren Shuttles, aber es funktioniert. Ich werd mir morgen die Buran ansehen. Kommst du mit?«
»Ich muss mich erst mal bei der Akademie zurückmelden. Ich weiß nicht, was die mit mir vorhaben. Der Unterricht beginnt erst in drei Wochen, aber man weiß nie, was Kupharhti sich einfallen lässt.«
»Ich werd mit ihm sprechen. Sprich du mit Isabella, damit sie sich nicht übergangen fühlt.«
Inzwischen hatte man das Shuttle mithilfe einiger Schlepper bis in die große Schleusenhalle gezogen und das Außenschott geschlossen. Ein Signal machte darauf aufmerksam, dass sie nun den Flieger über die Schleuse ohne Raumanzug verlassen konnten. Sie stiegen die Leiter hinunter und betraten die Schleusenkammer.
»Ich muss noch zur Verwaltung und meinen Flugbericht abgeben«, sagte Eva. »Wir sehen uns später noch.«
Sie beugte sich kurz vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange, dann wandte sie sich ab und lief zum Verwaltungsbüro.
Jan sah in der Ferne eine junge Frau stehen, die zu ihm hinübersah. Er beschattete seine Augen mit der Hand, um bei dem grellen Licht der Quarzlampen besser sehen zu können und erkannte Isabella, die ihn offenbar bereits erwartet hatte. Er winkte ihr zu und lief zu ihr hinüber.
»Isa, woher wusstest du, dass ich heute ankomme? Eigentlich wollte ich dich überraschen.«
»War das etwa Eva?«, fragte Isabella statt einer Begrüßung. Sie wirkte verstimmt.
»Ja, sie flog das Shuttle, das mich vom Frachter abgeholt hat. Frag jetzt bloß nicht, ob da was zwischen uns läuft. Du weißt genau, dass ich nur dich will, Isabella.«
Sie war versöhnt und ließ sich von Jan in die Arme nehmen.