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8. 2006UB
8.2 Alte Seilschaften
Die Wissenschaftler atmeten auf, als sie sich endlich von ihren Sitzen losmachen durften. Sie nutzten die Gelegenheit, ihre ersten Erfahrungen mit der Schwerelosigkeit zu machen. Die meisten von ihnen waren bisher noch nie im All und mussten sich erst daran gewöhnen, ein ständiges Gefühl des Fallens in ihrem Magen zu ignorieren.
Isabella blickte zur Seite, als sie eine Bewegung neben sich wahrnahm. Stancu war neben ihrer Konsole erschienen und hielt sich daran fest.
Isabella lächelte ihm zu. »Kann ich Ihnen helfen? Soll ich Ihnen etwas erklären?«
»Nein, Frau Grimadiu, Sie brauchen mir nichts zu erklären«, sagte Stancu leise, fast flüsternd. »Ich wollte Ihnen Grüße übermitteln, von einem Mann namens Gheorghe Papu. Sagt Ihnen der Name etwas?«
Isabellas Lächeln fror auf ihrem Gesicht ein. »Woher kennen Sie diesen Namen?«
»Ich bin Geologe bei der Geological Society of London. Mein vollständiger Name lautet Vlad Stancu. Ich stamme aus Rumänien. Meinen Abschluss habe ich an der geologischen Fakultät in Bukarest erworben. Kurz vor unserer Abreise suchte mich Papu in London auf und bat mich, Ihnen seine Grüße zu übermitteln und Sie an ihre Pflichten als Bürgerin der rumänischen Republik zu erinnern. Papu lässt Ihnen ausrichten, dass es seine Organisation nicht vergessen hat, dass Sie ihre Familie dem Zugriff der rumänischen Behörden entzogen haben. Man betrachtet das als Landesverrat. Papu will Ihnen jedoch noch eine Chance geben, ihr Fehlverhalten zu korrigieren, wenn Sie mit ihm kooperieren. Wenn Sie mir ihr Einverständnis geben, werde ich es ihm nach unserer Rückkehr mitteilen. Er wird Sie dann kontaktieren und Ihnen weitere Anweisungen erteilen.«
Isabella schüttelte leicht den Kopf. »Wie kommen Sie auf die verrückte Idee, dass ich mich auf dieses Spiel einlassen werde? Ich bin Mitglied der UNO und unterstehe in keiner Weise der rumänischen Legislative. Lassen Sie mich einfach in Ruhe und sagen Sie diesem Papu, er könne mich mal ...«
»Nicht so voreilig, junge Dame«, warf Stancu ein. »Papu teilte mir auch noch mit, dass man ihre Familie in Florida ausfindig gemacht hat. Sie wollen doch nicht, dass ihr etwas zustößt, oder?«
»Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich, Stancu? Überbringen Sie mir nur diese Nachrichten, oder stehen Sie auf den Lohnlisten des rumänischen Geheimdienstes?«
Stancu schwieg und zeigte lediglich ein dünnes Lächeln.
Jan hatte das leise geführte Gespräch zwischen den beiden bemerkt und war sich sicher, dass es in rumänischer Sprache geführt worden war. Da er sich in den nächsten Stunden nicht um den Kurs kümmern musste, ließ er sich zu den beiden hinübertreiben.
»Gibt es ein Problem?«
»Das kann man wohl sagen!«, entfuhr es Isabella. Ihre Wut war ihr deutlich anzusehen. »Dieser Mann hier – Vlad Stancu – ist zwar Geologe aus London, aber er ist auch Rumäne und überbringt mir Grüße von Gheorghe Papu. Er droht mir, dass meiner Familie in Florida etwas geschehen könnte, wenn ich mich nicht an meine Pflichten als rumänische Staatsbürgerin erinnern würde.«
Jan glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Wie können Sie es wagen, Isabella hier und jetzt mit diesem Mist zu behelligen und ihr zu drohen! Ich werde darüber Meldung machen müssen.«
Er drehte sich zu Eva um. »Könntest du das für mich übernehmen, Eva? Gib an Mission-Control der Akademie durch, dass es sich bei einem der Geologen um einen rumänischen Agenten handelt. Die werden dann schon wissen, was zu tun ist, wenn wir zurück sind.«
»Junger Freund ...«, begann Stancu.
»Ich bin alles andere als ihr Freund, Stancu!«, fuhr Jan dazwischen. »Ich bin der Kommandant dieser Mission. Wenn Sie sich jetzt zusammenreißen und uns in Ruhe unsere Arbeit machen lassen, gestatte ich Ihnen vielleicht, am Ziel ihre zu machen. Ich könnte Sie auch unter Arrest stellen.«
Erkan Kaya, Gina und Pelle hielten sich schon bereit, falls es noch weiter eskalieren würde.
Stancu hielt Jan seinen ausgestreckten Zeigefinger unter die Nase. »Sie machen einen gewaltigen Fehler, wenn Sie mir Schwierigkeiten machen. Ich deutete bereits an, dass man die Grimadius in Florida ausfindig gemacht hat. Sie stehen natürlich unter unserem Schutz, aber Sie wissen ja selbst, wie gefährlich es in den USA sein kann.«
Jan verspürte Lust, Stancu seine Faust ins Gesicht zu schlagen. Sein Gesicht bekam einen drohenden Ausdruck und er griff nach Stancus Hand.
»Lass Jan, wir sollten nichts überstürzen, bevor wir wissen, was hier gespielt wird.«
»Soll ich denn jetzt die Meldung absetzen?«, wollte Eva wissen.
Jan überlegte, dann traf er eine Entscheidung. »Eva, bitte mach sofort die Meldung, Pelle, Gina, ihr helft mir, diesen Kerl in die Ladebucht 3 zu bringen. Ich will dieses Gesicht vor Erreichen unseres Ziels nicht mehr sehen. Aber durchsucht ihn noch gründlich auf irgendwelche Kommunikationsgeräte oder Waffen.«
»Sie halten sich wohl für ungemein klug, Sie unreifer ...«
»Halten Sie ihre verdammte Klappe!«, brüllte Jan. »Schafft ihn mir aus den Augen!«
Nachdem Pelle und Gina den Geologen mitgenommen hatten, nahm Jan Isabella in den Arm. »Du hast sicher nichts zu befürchten.«
»Es geht ja nicht um mich«, antwortete Isabella matt. »Sie benutzen meine Familie als Druckmittel.« Sie blickte ihm ins Gesicht. »Wird das denn niemals aufhören?«
»Ich werd gleich mal eine Transmission zur Erde beantragen«, sagte Jan. »Wir sollten direkt mit Homer Sherman sprechen. Er hat sich damals darum gekümmert, dass deine Familie quasi in der UNO eingebürgert wurde. Er hat bestimmt eine Idee, was wir unternehmen können.«
»Wer weiß, ob das eine gute Idee wäre«, meinte Eva. »Sie könnten auf dem Mond den Entschluss fassen, die Mission abzubrechen – wegen psychischer Belastung der Crew. Ich finde, es sollte zunächst unter uns bleiben. Er kann ja auch keinen Schaden mehr anrichten.«
»Wer weiß, ob es sich überhaupt um eine Aktion Rumäniens handelt, oder ob dieser Papu lediglich glaubt, seinen Fehler wieder ausbügeln zu müssen«, vermutete Isabella.
»Gut, dann warten wir erst noch ab«, entschied Jan. »Deine Familie müsste ja fürs Erste sicher sein, da Papu ja überhaupt nicht erwarten kann, während der Mission eine Nachricht von Stancu zu erhalten.«
Während sich die Buran allmählich immer weiter vom Mond entfernte, führten Jan und Isabella einige Gespräche mit Homer Sherman auf Cape Canaveral. Homer war ehrlich entsetzt, als er von diesem Übergriff hörte, beruhigte sie aber gleich und versicherte, dass es der Familie Grimadiu gut ginge. Trotzdem regte er an, zu überdenken, ob man nicht über eine Änderung der Identität und einen Wohnsitzwechsel nachdenken sollte – etwa in der Art der Zeugenschutzprogramme der Vereinigten Staaten. Er bot an, sich in den nächsten Tagen mit Ileana und Roman, Isabellas Eltern, zu unterhalten.
Isabella war fürs Erste beruhigt und wusste ihre Eltern auf der Erde in guten Händen. Diese Ruhe brauchte sie auch dringend, denn bald würden sie auf der Buran alle Hände voll zu tun bekommen und dann musste sie ihren Kopf freihaben.
Jan ließ sie eine Weile in Ruhe mit ihren Gedanken und stürzte sich mit Feuereifer auf die Instrumente, die er immer wieder überprüfte. Er spielte ein Szenario nach dem anderen durch und ordnete eine Übung nach der anderen für die Crew an.
»Meine Güte, Jan«, sagte Pelle. »Du könntest uns auch mal eine Pause gönnen. Die Buran fliegt zurzeit noch antriebslos zum Wendepunkt 1. Bis wir dort sind, geschieht absolut nichts. Wir sollten uns ausruhen.«
»Wenn es so weit ist, will ich diesen Vogel perfekt beherrschen können«, sagte Jan. »Und ich leg Wert darauf, dass ich mich auf meinen Techniker blind verlassen kann.«
»Ich hab es ja verstanden, du Sklaventreiber«, sagte Pelle resignierend.
»Bisher hast du wirklich noch nicht viel an den Anlagen der Buran gearbeitet«, sagte Gina vorwurfsvoll. »Ich finde, dass Jan recht hat.«
»Jetzt fang du nicht auch noch damit an!«, entgegnete Pelle gereizt. »Solltest du nicht eigentlich eher zu mir halten?«
Im nächsten Moment ertönte ein Alarm.
Isabella sah erschreckt von ihren Instrumenten auf. »Was ist das?«
»Eine Ortung auf meinem Meteoritenradar!«, rief Gina. »Das Objekt schneidet unsere Flugbahn in einer Entfernung von knapp zehn Kilometern. Es besteht keine unmittelbare Gefahr.«
»Ist es ein einzelnes Objekt, oder eine Gruppe?«, fragte Jan. »Wie groß ist der Brocken?«
»Es ist ein einzelner Meteorit. Geschwindigkeit etwas über einen Kilometer pro Sekunde. Die Massenschätzung liegt bei etwa hundertachtzig Kilogramm. Es ist schon gut, dass er uns nicht getroffen hat.«
»Meteoriten sind nicht sehr häufig«, meinte Jan. »Wie groß ist der Ortungsradius unserer Radarortung?«
»Sie steht zurzeit auf hundert Kilometer. Viel mehr ist auch nicht möglich.«
»Na, wir wollen hoffen, dass es ein Einzelgänger war. Eva, bitte gib diesen Vorfall an die Akademie weiter. Sie sollen uns auf dem Laufenden halten, wenn Sie dort etwas über vermehrte Meteoritenaktivität erfahren.«
»Geht klar, Captain!«, rief sie zurück und grinste ihn an. »Du hast schnell vergessen, dass ich hier eigentlich nur als Beobachterin an Bord bin, oder?«
»Oh nein, Eva, das hab ich ganz und gar nicht vergessen. Aber wenn ich Kommandant der Buran bin, hab ich auch das Recht, die vorhandene Besatzung so einzusetzen, wie ich es für richtig halte.«
Evas Grinsen wurde eine Spur breiter. »Eins zu null für dich. Du hast natürlich recht. Im Übrigen steht dir diese Selbstsicherheit ganz gut.«
Isabella blitzte Eva mit ihren Augen an. Sie hatte noch immer ein Problem damit, wie Eva und Jan miteinander umgingen. So ganz hatte sie die Begebenheit mit dem Jumper-Unfall nicht vergessen.
Eva bemerkte Isabellas Blick. »Isabella, ich meinte das ehrlich und ohne Hintergedanken. Du musst nicht hinter jedem Satz von mir eine Anmache vermuten. Ich hab gewiss nicht vor, euch beide auseinander zu bringen.«
»Jetzt kratzt euch bitte meinetwegen nicht die Augen aus!« warf Jan ein. »Eva hat Recht, Isabella. Du hast überhaupt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Wie sieht es denn aus? Ich hab einen unglaublichen Hunger und müsste dringend etwas essen. Was gibt unsere Bordküche denn her?«
»Bordküche?«, lachte Pelle. »Wovon träumst du denn? Wir haben Berge von Konzentraten, Tuben mit Fertignahrung, Wasser und Säfte. Welches Leckerchen möchtest du denn?«
»Ich hab es befürchtet. Das war das Einzige, das ich vor dem Start nicht kontrolliert hatte.«
Sie schwebten in den kleinen Aufenthaltsraum im Ladebereich der Buran und trafen dort auf die Wissenschaftler, die ihre Messinstrumente für den Einsatz auf 2006UB überprüften.
»Hab ich da eben was von Essen gehört?«, wollte der deutsche Geologe Sebastian Loma wissen.
»Ja, wir wollen uns etwas stärken«, meinte Gina. »Vielleicht könnten Sie uns einen der Behälter anreichen, die hinter Ihnen befestigt sind. Er enthält unsere Konzentrate für die nächsten Tage.«
Der niederländische Biologe Curt vanBuren zog seine Augenbrauen hoch. »Konzentrate? Wie überaus lecker! Haben Sie was mit Filetsteak und Knoblauchbutter?«
Gina öffnete den Behälter und starrte hinein.
»Und?«, fragten die anderen.
Gina holte ein paar Riegel heraus und reichte sie den anderen.
»Bratkartoffeln, steht hier«, sagte vanBuren und biss herzhaft hinein. Sein Gesicht verriet, dass die Beschreibung wohl eher ein Wunschgedanke war.
»Schmecken tut es - aber wie gezuckerte Holzwolle«, meinte er, biss aber tapfer weiter von dem Riegel ab.
Gina reichte ihm ein Trinkpäckchen mit Orangensaft, der jedoch vollkommen normal schmeckte.
Überraschend schnell fühlten sich alle gesättigt und mussten zugeben, dass diese eigenartigen Riegel ganz passabel schmeckten, wenn man sich daran gewöhnt hatte.
»Wie geht es denn nun weiter?«, fragte Erkan Kaya »Müssten wir nicht schon bald eine Kurskorrektur vornehmen?«
»Das ist richtig«, sagte Jan. »innerhalb der nächsten Stunde werden wir unsere erste Korrektur vornehmen. Ich will nur erst einen ersten Blick auf unser Ziel werfen. Wir werden nämlich in wenigen Minuten zum ersten Mal den Asteroiden in Ortungsreichweite bekommen.«
»Wir können 2006UB sehen?«, fragte Loma interessiert.
»Erwarten Sie nicht zu viel«, mahnte Gina. »Die Buran verfügt über ein Zielradar von extremer Reichweite. Damit werden wir den Asteroiden erfassen können, aber mehr als einen Ortungsreflex werden wir noch nicht zu sehen bekommen. Eine optische Beobachtung verbietet sich von allein, da das Ziel kein Licht abstrahlt. Wir werden jedoch den Kurs kontrollieren können und fehlerhafte Anpassungen unseres Kurses ausschließen.«
»Ich würde trotzdem gern zusehen, wenn Sie ihr Radar ausrichten«, meinte Loma.
»Sie können gern zuschauen«, sagte Gina. »Na ja, fast alle – ich hab nicht vor, Stancu aus seiner Zelle zu holen.«
Sie begaben sich zurück ins Cockpit.
Gina richtete den Reflektor des Zielradars auf den mutmaßlichen Sektor, aus dem der Asteroid kommen sollte. Ihre Geduld wurde auf die Probe gestellt, da Gina wiederholt die Einstellungen korrigieren musste. Dazu kam, dass die Entfernung des Asteroiden noch sehr groß war und nur ein geringer Teil der Radarstrahlung reflektiert wurde. Die Auswertung war dem zur Folge recht ungenau. Trotzdem konnte man auf dem Kontrollmonitor einen Punkt erkennen, der sich langsam bewegte.
»Ist er das?«, fragte Loma.
»Das ist unser Ziel«, bestätigte Gina. »Ich werd das Radar eine Weile laufen lassen, bis wir einen zuverlässigen Kurs haben. Anschließend sind dann Jan und Isabella wieder an der Reihe, ihre Kurskorrektur an meine Daten anzupassen und die Buran neu auszurichten.«
»Es klingt so einfach, wie Sie es erklären«, meinte Kaya.
»Es ist Mathematik«, sagte Jan. »Fast alles, was wir hier tun, ist die Anwendung von Mathematik. Insofern ist es auch einfach. Trotzdem – man muss es natürlich beherrschen. Es wird nicht anders sein, als in ihren Fachgebieten. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, wie Sie aus Gesteinsproben eines Asteroiden etwas über die Entstehung unseres Sonnensystems erfahren wollen.«
Kaya lächelte. »Das werde ich Ihnen zeigen, wenn es so weit ist.«
»Gemessener Kurs ist in der Toleranz«, meldete Gina. »2006UB nähert sich uns planmäßig. Von mir aus können wir unseren Kurs jetzt anpassen.«
Jan und Isabella glitten zu ihren Sitzen und schnallten sich an. Isabella tippte auf ihrem Computer herum und holte Ginas Auswertung ins Navigationssystem. Sie konnte die kyrillischen Zeichen absolut flüssig lesen.
»Okay, Jan, ich geb dir den Countdown für die Korrektur.« Sie drückte eine Taste.
»Bitte schnallen Sie sich nun wieder an«, forderte Jan den Rest der Crew auf. Er hoffte, dass auch Stancu in seiner Zelle dieser Aufforderung nachkam. Er hatte keine Lust, sich um diesen Kerl kümmern zu müssen, weil er sich verletzt hatte.
Kurz danach war es so weit und die Triebwerke erwachten für kurze Zeit zum Leben. Jan spielte zum ersten Mal mit allen Möglichkeiten der russischen Fähre. Die große Zahl der kleinen Korrekturtriebwerke machte jede Kursänderung zum Kinderspiel. Bald schwiegen die Triebwerke und Jan gab die Anschnallgurte frei.
»Solche Kleinkorrekturen werden wir in den kommenden Stunden immer wieder vornehmen müssen«, erklärte er. »Wir sind jedoch bisher exakt auf dem vorgesehenen Weg, und ich kann Ihnen versichern, dass wir uns keine Gedanken machen müssen, unser Ziel zu verfehlen.«