12. Rettung?

12.1 Erdurlaub - Teil 2/2


Nach diesen Worten ließ er sie einfach stehen und bewegte sich auf einen nahen Paternosterschacht zu.
Jan sah Isabella ratlos an. »Ich verstehe diese Leute hier nicht. Hab ich das richtig verstanden, dass der irgendwie sauer darüber ist, dass er uns einen Gleiter geben musste?«
»Sah fast so aus. Aber wenn das stimmt, dass UNO-Leute immer eine Extrawurst bekommen, kann ich ihn verstehen.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Jan und wedelte mit der Mappe.
»Was sollen wir schon machen? Wir wollen zuerst zu Deinen Eltern und dann zu meinen. Die sind aber nun mal alle unten auf der Oberfläche. Wir haben einen Gleiter und wir sind nicht dumm, oder? Also lass uns von hier verschwinden.«
Sie hielten einen der vorbei hastenden Menschen an und fragten ihn nach dem Gleiterhangar. Auf dieser Werftstation schien niemand jemals Zeit zu haben. Wortkarg gab der Gefragte Auskunft und die beiden machten sich auf den Weg. Nachdem sie sich einmal verlaufen hatten, begannen sie das Orientierungssystem dieser Station zu verstehen und fanden schließlich den Hangar, in dem ihr Gleiter stehen sollte. Schon von Weitem sahen sie das Emblem der UNO auf dem Leitwerk eines der weiter hinten parkenden Maschinen. Die Einstiegsluke stand offen und eine kleine Trittleiter lud förmlich zum Einsteigen ein. Sie sahen sich um, ob jemand sie vielleicht beobachtete, doch die große Halle schien völlig menschenleer zu sein. So zögerten sie nicht länger und stiegen in den Gleiter ein.
Jan hatte - im Gegensatz zu Isabella, die bisher keinen Sinn darin gesehen hatte, den Umgang mit einem Gleiter zu erlernen – einen Pilotenschein auf dem großen Simulator der Akademie gemacht. Trotzdem war es etwas anderes, sich auf den Pilotensitz einer echten Maschine zu setzen. Der Gleiter war ihm auf eine Art fremd, auf andere Art vage vertraut. Er ließ seinen Blick über die Instrumente wandern. Es war alles so, wie er es im Simulator gelernt hatte. Er konzentrierte sich und Isabella, die ebenfalls die Instrumente auf dem Platz des Co studierte, ließ ihn gewähren. Sie war sicher, dass Jan nach einiger Zeit die Abläufe wieder aus seinem Gedächtnis abgerufen haben würde und sie dann zur Erde fliegen würden.
Es dauerte lange, doch dann sah Jan zu Isabella hinüber und lächelte. »Ich bin so weit. Ich hatte erst befürchtet, alles vergessen zu haben, doch es ist noch da.«
Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn. »Die Anstellwinkel, Landeklappen, Bremsfallschirm, Hitzeschild, Segelflug. Ich krieg das hin, Isabella. Lass uns die Flugsicherung anrufen, damit wir die Kursdaten bekommen.«
»Warte, ich stell die Verbindung her. Ich war in der Zwischenzeit auch nicht faul. Ich denk, ich kann neben dem Funk noch das eine oder andere für dich als Co erledigen.«
»Landegleiter UNO-L-017K ruft Flugsicherung«, rief Jan ins Mikrofon.
»Hier Flugsicherung, was wünschen Sie, UNO-L-017K?«
»Erbitten Starterlaubnis für Landeanflug zur Erde und Kursdaten für Anflug auf Deutschland.«
»Landebahnen für Gleiter Ihres Typs finden Sie in Deutschland nur auf den Flughäfen von Berlin, Frankfurt, Oberpfaffenhofen und Düsseldorf. Welcher dieser Häfen soll das Ziel sein?«
»Düsseldorf wäre ideal.«
»Gut öffnen Sie einen Datenkanal für die Daten des Flugkorridors. Wir werden sie direkt in Ihren Computer einspielen. In Düsseldorf werden Sie von uns avisiert. Setzen Sie sich mit dem Tower dort in Verbindung, sobald Sie in seiner Reichweite sind. In Düsseldorf ist ein ILS-Anflug möglich. Die Codes erhalten Sie zu gegebener Zeit von dort. Start wenn bereit. Das Fenster für diesen Korridor steht noch für 120 Minuten zur Verfügung. Danach müssten Sie sich erneut bei uns melden. Orbiter 3 wünscht einen guten Flug.«
Jan bedankte sich und ließ Isabella die Verbindung beenden. Ein Blick auf die Anzeige des Navigationscomputers zeigte ihm, dass die Daten eingetroffen waren. Er begann mit einem umfangreichen Check aller Systeme. Dabei ging er gründlicher vor, als er es normalerweise bei den Landefähren auf dem Mond machte, aber der Landegleiter war Neuland, da wollte er keine Überraschungen erleben. Dann war es so weit. Jan drückte die Key-Card an den dafür bestimmten Kontakt und spürte, wie die Zelle des Gleiters zu vibrieren begann. Die Außenluke der Maschine schloss sich automatisch und wurde versiegelt. Die Klimatisierung der Kabine setzte ein und erfüllte den Raum mit einem leisen Rauschen.
»Wie kommen wir jetzt hier raus?«, fragte Isabella. »Die Hangarschleuse ist noch geschlossen und wir müssten auch näher an das Tor heran.«
»Das ist eine Sache, die ich im Simulator gelernt habe«, erklärte Jan. »Unser Gleiter steht auf einem Schlitten und der läuft in einer Schiene auf dem Boden. Ich werd jetzt die Taste für den Start von der Station betätigen. Pass auf, was geschieht.«
Er presste die Taste und im selben Augenblick wurde ihr Gleiter, wie von Geisterhand, bewegt und mit der Nase auf das Außenschott ausgerichtet. Auf dem Boden erschienen blinkende Lichter, die sich scheinbar auf das Schott zu bewegten. Die Schiene dazwischen war gut zu erkennen.
»Die Luft wird nun abgepumpt«, kommentierte Jan. »In wenigen Minuten wird sich das Schott öffnen und wir werden nach draußen katapultiert. Du hättest den Lehrgang damals mitmachen sollen. Mir hatte er eine Menge Spaß gemacht, und wie du siehst: Jetzt hat er sich sogar ausgezahlt.«
Isabella lachte. »Es ist immer dasselbe mit dir und deinen Spielzeugen. Deine Zurückhaltung hast du wirklich schnell abgelegt. Du kannst es ja gar nicht mehr erwarten, dass es endlich losgeht.«
Jan grinste sie an. »Ich glaub, da hast du recht. Es kribbelt förmlich in mir.«
Dann ertönte ein Signal in ihrer Kabine und das Schott fuhr zur Seite, wobei sie einen herrlichen Blick auf die blaue Kugel der Erde erhielten. Doch sie bekamen nicht die Muße, diesen Anblick lange zu genießen, denn der Gleiter setzte sich in Bewegung und wurde vom Katapult ins All geschleudert.
»Gute Reise UNO-L-017K!«, tönte es aus einem Lautsprecher. »Ab jetzt sind Sie bei der Flugsicherung Düsseldorf, Deutschland auf dem Wartemonitor.«
Der im Gegensatz zu den Landefähren stromlinienförmige Gleiter besaß im Cockpit zwei große Panoramafenster, durch die man gut sehen konnte, was sich in Flugrichtung befand. Zurzeit war es die Kugel der Erde und der Anblick war einfach atemberaubend. So aktivierten sie zunächst nicht den Antrieb des Gleiters, sondern genossen die wundervolle Aussicht auf die Erde. Erst ein Signal des Navigationscomputers erinnerte Jan daran, dass es darauf ankam, einen engen Korridor zu treffen und auch in ihm zu bleiben, bis sie auf dem Boden aufsetzten.
Jan betätigte die Zündung des Haupttriebwerks und steuerte die Maschine so, wie es die Flugdaten von ihm verlangten. Anfangs spürten sie noch nichts. Es war ein Flug wie viele, die sie bereits auf dem Mond absolviert hatten, doch dann spürten sie einen sanften Widerstand. Die ersten Ausläufer der oberen Lufthülle griffen nach dem Schiff. Jan kontrollierte den Kurs und korrigierte die Fluglage, damit die stärker gepanzerte und mit Hitzekacheln bestückte Unterseite zur Atmosphäre zeigte. Nach und nach ruckelte der Gleiter immer mehr und die Luft begann an den Kanten des Gleiters zu leuchten. Die Temperatur in der Kabine stieg immer weiter an.
»Sollte nicht eine Klimaautomatik solche Temperaturen verhindern?«, fragte Isabella und wischte sich den Schweiß mit dem Handrücken aus dem Gesicht.
Jan suchte nach den Einstellungen für die Kabinenklimatisierung und stellte fest, dass die Automatik nicht funktionierte. Er schaltete auf manuell um, drehte den Regler komplett auf kalt und wartete einen Moment. Allmählich wurde es kühler in der Kabine, aber dem lauten Laufgeräusch der Belüftung konnte man entnehmen, dass die Anlage bald an ihre Grenzen stoßen würde. Er machte sich trotzdem keine großen Gedanken. Schließlich handelte es sich um ein speziell für diesen Einsatz konstruiertes Fluggerät. Er vertraute darauf, dass sie die kritischen Luftschichten unbeschadet durchstoßen würden.
»Wie geht es dir?«, fragte er Isabella. »Ist die Temperatur jetzt erträglich?«
»Sicher«, antwortete sie nickend und blickte interessiert voraus. »Es ist unglaublich, was ich schon in dieser Höhe auf dem Radarschirm habe.«
»Schatz, das ist die Erde. Es hat schon seine Gründe, warum ich hier unbedingt in meinem zugeteilten Korridor bleiben muss.«
Der Gleiter drang allmählich in dichtere Luftschichten und wurde stärker gebremst. Für eine kurze Zeit stieg die Wärme in der Kabine noch einmal unangenehm an, doch dann begann die Maschine, auf der tragenden Luft zu gleiten. Jan erinnerte sich daran, dass die Gleiter beim Atmosphärenflug durch den Fahrtwind gekühlt und über die Turbine des Staustrahltriebwerks beheizt werden konnten. Er schaltete den Gleiter auf Atmosphärenflug um und von diesem Moment an wurde er zum normalen Flugzeug. Jan spielte mit den bisher unwirksamen Kontrollen herum, um ein Gefühl für die Reaktionen der Maschine auf Ruderbewegungen zu bekommen.
»Was soll das Gewackel?«, fragte Isabella. »Pass auf, dass wir innerhalb des Korridors bleiben.«
Jan lachte. »Ich pass schon auf, aber ich muss auch ein Gefühl für diesen Flieger bekommen. Ich soll ihn ja schließlich nachher sauber auf der Landebahn aufsetzen. Gib mir lieber ein paar Wetterdaten. So wie's aussieht, kommen wir über dem Atlantik rein. Nicht mehr lange und wir nähern uns der Flughöhe, in der mit zivilem Luftverkehr gerechnet werden muss.«
Isabella studierte die Anzeigen ihres Computers. »Mit Wettereinflüssen ist nicht zu rechnen. Im betroffenen Bereich herrscht ein stabiles Hochdruckgebiet. Wir haben also schönes Wetter ohne trügerische Windböen.«
»Super, dann schlag ich vor, du genießt den Flug und meldest uns in Düsseldorf an, sobald wir über Frankreich sind.«
Der Flug verlief ereignislos. Nur einmal sahen sie eine Passagiermaschine, die ihren Weg kreuzte, jedoch so weit entfernt, dass ein Eingreifen nicht erforderlich war. Sie hatten von Orbiter 3 sehr gute Daten bekommen. Jan hatte für diese Phase des Fluges den Autopiloten aktiviert, um seine verkrampften Glieder zu entspannen. Die einsetzende Schwerkraft machte beiden zu schaffen, nachdem sie so lange nicht mehr auf der Erde gewesen waren. So waren sie fast froh, als erst die britischen Inseln und dann die Küste Frankreichs in Sicht kam. Denn nun gab es etwas zu tun und lenkte sie von den Strapazen der Anpassung an die normale Erdschwere ab.
»Düsseldorf Tower, hier ist UNO-L-017K«, rief Isabella ins Mikrofon. »Wir sind auf dem Weg von Orbiter 3 nach Düsseldorf und erbitten Landeerlaubnis, sowie Übermittlung der gängigen Prozedur.«
»DUS Tower an UNO-L-017K«, kam sofort die Antwort. »Sie wurden bereits avisiert. Wir haben nicht oft Landegleiter auf unserem Flughafen. Wir übermitteln Ihnen gleich die Anflugdaten für ILS-Anflug auf Landebahn 1. Ändern Sie Ihren Kurs auf Korridor 2 und geben sie den Code 0x15AF62 für ILS in ihren Computer.«
Sekunden später lagen die Daten bereits vor.
»UNO-L-017K dankt«, sagte Isabella und schaltete ab. »Korridor 2? Was soll das bedeuten?«
»Leg mir die Daten doch bitte auf meinen Schirm, sobald das System sie importiert hat.«
Eine, auf den ersten Blick, verwirrende Darstellung irritierte ihn für einen Moment, bis er erkannte, dass man mehrere Korridore für den Anflug auf Düsseldorf eingezeichnet hatte, die mit Nummern versehen waren. Jan griff in die Steuerung ein und zog die Maschine auf den neuen Kurs. Es machte ihm richtig Spaß, wie schnell sie auf jeden Druck reagierte. Er hätte es gern gesehen, wenn er mehr Freiheiten gehabt hätte, um diese Maschine auf Herz und Nieren zu überprüfen. Er sah jedoch ein, dass es bei dem dichten Flugverkehr im europäischen Luftraum notwendig war, die Routen streng zu reglementieren.
Jan zwang den Gleiter in einen stetigen Sinkflug, um bei Ankunft in Düsseldorf wie ein ganz normales Flugzeug landen zu können.
»Hier UNO-L-017K«, meldete sich Isabella erneute beim Tower. »Wir befinden uns im Landeanflug auf Düsseldorf über Korridor 2. Erbitte Go für Landung auf Landebahn 1. Ende.«
»Hier DUS Tower. UNO-L-017K, Sie erhalten Go für Landung auf Landebahn 1. Willkommen in Düsseldorf.«
»UNO-L-017K dankt für die zügige Abfertigung«, sagte Isabella und erhielt eine informelle Antwort ihres Gesprächspartners im Tower: »Wir fertigen Landegleiter grundsätzlich bevorzugt ab, da sie immer mit hoher Geschwindigkeit hereinkommen. Es macht wenig Sinn, Sie warten zu lassen.«
Jan hatte den Bordcomputer auf ILS-Landeanflug geschaltet und beobachtete auf den Anzeigen, wie seine Maschine wie von selbst in eine lang gezogene Kurve flog und dann ihren Sinkflug in einem Winkel von fast 45 Grad fortsetzte.
»Dort, die Landebahn!«, rief Isabella aus. »Gleich sind wir unten.«
Sie war nervöser, als sie sich gab. Sie hatte zwar im All bereits unzählige Rendezvous-Manöver geflogen, doch eine klassische Landung in einem Flugzeug oder Gleiter auf der Erde war etwas vollkommen Anderes.
Die Landebahn kam immer näher. Wie es aussah, lagen sie gut auf Kurs. Es gab kaum Seitenwind, der jetzt noch ein massives Eingreifen erforderlich machen könnte. Kurz vor dem Aufsetzen übernahm Jan die Steuerung und schaltete das Instrumentenlandesystem ab. Er änderte den Winkel des Sinkfluges ein wenig und hob die Nase des Gleiters leicht an. Isabella ließ das Fahrgestell ausfahren. »Okay, Jan. Das Fahrgestell ist draußen. Bring uns runter.«
Jan nickte ihr zu. »Auf mein Zeichen lös den Bremsfallschirm aus.«
Der Rest war Routine, die Jan im Simulator immer wieder geübt hatte, bevor er den Pilotenschein für dieses Modell erhalten hatte. Sicher setzte der Gleiter erst hinten und dann vorn auf dem Betonbelag der Landebahn auf. Isabella löste den Bremsfallschirm aus und der Gleiter wurde heftig abgebremst. Jan hatte Mühe, die Maschine grade zu halten, doch schließlich rollte der Gleiter nur noch gemächlich auf das Flughafengebäude zu. Ein Einweiser gab ihnen Zeichen, wo ihre endgültige Parkposition sein sollte. Jan steuerte den Platz an und schaltete den Antrieb ab. Sie waren gelandet.
Nachdem sie den Gleiter verlassen hatten, erklärte ihnen der Einweiser, wo sie sich melden mussten.
Jan deutete auf ihren Gleiter. »Kann die Maschine hier für ein paar Tage stehen bleiben? Wird sie von Ihnen betankt, wenn ich sie wieder brauche?«
»Um Gottes Willen nein!«, sagte der Mann und machte eine abwehrende Handbewegung. »Sicher kann sie hier stehen bleiben. Von uns geht da niemand ran. In Kürze wird ein Team aus Oberpfaffenhofen hier eintreffen und sich darum kümmern. Sie arbeiten mit der UNO-Raumfahrtbehörde zusammen und werden auch Treibstoff auffüllen, damit sie wieder einsatzbereit ist.«
Jan dankte und ging mit Isabella zur Verwaltung des Flughafengebäudes hinüber.
»Das ist also Deutschland«, sagte Isabella und blickte sich um. »Weißt du, dass ich zum ersten Mal in Deutschland bin?«
»Ich weiß«, antwortete Jan. »Und ich find es richtig schade, dass wir nicht genügend Zeit haben, und ich dir kaum etwas von meiner Heimat zeigen kann. Es gibt hier richtig schöne Ecken. Irgendwann holen wir das aber nach. Jetzt fahren wir erst mal nach Herne zu meinen Eltern und ich stell ihnen ihre Schwiegertochter vor.«
Isabella lächelte. »Wie das klingt. Ich bin gespannt, was sie sagen werden.«
»Ich auch. Vor allem interessiert mich, was deine Eltern dazu sagen werden.«