12. Rettung?

12.3 Flug nach Florida - Teil 1/2


Der Leihwagen stand noch immer am gegenüberliegenden Straßenrand und so starteten sie nur einen Tag nach ihrer Ankunft zusammen mit Jans Eltern zum Flughafen. Isabella war bereits ganz aufgeregt, ebenso wie Maria und Paul, jedoch aus ganz anderen Gründen. Sie hatten etwas Angst vor dem Flug mit dem fremden Flieger, vertrauten jedoch in Jans fliegerische Fähigkeiten. Isabella freute sich auf ein Wiedersehen mit ihrer Familie, die sie schon so lange nicht gesehen hatte. Und dann gab es ja noch die Neuigkeit, die sie ihnen mitteilen wollte.
Die Formalitäten am Flughafen gestalteten sich für Jans Eltern anders, als sie es von früheren Flugreisen her kannten. Nachdem Jan sich bei der Verwaltung ausgewiesen hatte, wurden sie sogleich ohne weitere Kontrollen von einem der Bediensteten zum Gleiter gefahren.
»Mein Gott, so groß hätte ich mir diese Maschine nicht vorgestellt«, meinte Paul, als sie sich dem Gleiter näherten. »Bei der Bezeichnung ›Gleiter‹ denkt man unwillkürlich an ein relativ kleines Flugzeug.«
»Es ist auch klein«, lachte Jan. »Aber man muss damit auch schwere Lasten bis in den Orbit schaffen können. Du müsstest einmal die GINA DACCELLI sehen, mit der wir vom Mond hierhergeflogen sind. Dagegen ist dieser Gleiter nur ein kleiner Floh. Aber Ihr werdet sehen, dass es drinnen recht komfortabel und geräumig ist. Allerdings werdet Ihr auf jeglichen Service bis zur Landung verzichten müssen. Bei so kurzen Flügen ist das auch nicht erforderlich.«
»Kurze Flüge? Wie lange werden wir denn in der Luft sein?«, fragte Maria.
»Ich denke, dass wir in zwei bis drei Stunden festen Boden unter den Füßen haben werden. Es hängt davon ab, ob wir einen klassischen Flugkurs nehmen müssen oder ob wir einen Parabelkurs wählen dürfen.«
Er sah seiner Mutter an, dass sie kein Wort verstanden hatte, verzichtete aber auf weitere Erklärungen, um sie nicht noch mehr zu ängstigen.
Sie kletterten über die Leiter an der Seite ins Innere des Gleiters, der wirklich sehr geräumig war. Die schweren Sessel für die Passagiere waren direkt hinter den Sitzen des Piloten und Kopiloten in drei Reihen montiert.
Maria und Paul sahen sich interessiert um. Das Cockpit war derart mit Instrumenten übersät, dass dem Betrachter sofort klar war, dass dieses Fluggerät mehr war, als ein normales Flugzeug.
»Ich hab ein verdammt komisches Gefühl«, sagte Paul, während er in einem der Sessel in der zweiten Reihe Platz nahm und sich mit dem komplizierten Gurtsystem beschäftigte. »Ich mach das auch nur mit, weil ich ja weiß, dass du diese Dinger schon hundert Mal geflogen hast und weißt, was du tust.«
Isabella konnte sich ein Lachen nicht verbeißen, worauf sie von Jan einen ärgerlichen Blick erntete.
»Was gibt's zu lachen?«, wollte Maria wissen. »Ihr seid doch erfahrene Piloten, oder etwa nicht?«
»Ja, das sind wir«, bestätigte Isabella und unterdrückte mühsam ein Kichern. »Schnallen Sie sich bitte an und lösen den Gurt bis zur Landung nicht mehr. Der Flug wird etwas anders werden, als Sie es von Urlaubsreisen gewohnt sind.«
Jan hatte in der Zwischenzeit die Instrumente überprüft und nahm Kontakt mit dem Tower auf: »UNO-L-017K erbittet Daten für Flug von DUS nach CC-Space-Port Florida.«
»Wünschen Sie einen Korridor für traditionellen Flug?«
»Negativ. Wir erbitten Daten für Orbitalsteigflug und Direktanflug auf CC-Space-Port.«
»Das kann ein paar Minuten dauern. Wir müssen das erst bei der ESA anmelden, die das für solche Flüge ab Europa regelt. Nachdem wir das mit unseren Flugplänen abgeglichen haben, bekommen Sie die Daten online. Das Zeitfenster kann unter Umständen äußerst klein sein. Wir empfehlen daher, die Turbinen schon mal warmlaufen zu lassen. Ist das so weit klar?«
»Sicher«, bestätigte Jan. »Wir erwarten Ihre Daten und bedanken uns für Ihre Zuvorkommenheit.«
»Keine Ursache. Es freut uns immer, wenn wir einen UNO-Flieger zu Gast haben. DUS Tower wünscht UNO-L-017K eine gute Reise.«
Jan startete die großen Turbinen und ließ sie im Leerlauf aufwärmen. Er drehte sich halb in seinem Sitz herum. »Wenn es euch zu laut wird, greift zu den Kopfhörern über Euren Sitzen. Sie dämpfen den Krach der Turbinen enorm.«
»Ist das immer so laut?«, brüllte Maria.
»Nein, wenn wir das Haupttriebwerk starten, ist es noch lauter!«, brüllte Jan zurück. »Der Gleiter ist eben kein Passagierschiff!«
Einige Minuten später trafen die Flugdaten ein und zeigten ein Startfenster von nur fünf Minuten. Glücklicherweise hatte man den Gleiter bereits so platziert, dass er ohne fremde Hilfe auf das Startfeld rollen konnte. Jan löste die Bremsen und drückte den Gashebel vorsichtig nach vorn. Langsam setzte sich der Gleiter in Bewegung und rollte auf die Startbahn zu, die quer vor ihnen lag. Er musste mit dem Gleiter bis ans Ende der Bahn, bevor er die Nase der Maschine in Startrichtung drehen konnte. Noch etwas über eine Minute blieb ihm für das Startfenster. Jan sah auf seine Anzeigen. Wenn er nicht bald grünes Licht bekam, müssten sie die Bahn räumen und warten, bis man ihnen ein neues Fenster errechnete. Sie hatten Glück. Im letzten Moment sprang die  Anzeige auf seinem Computer um und er drückte den Gashebel nach vorn.
Maria und Paul waren in ihrem Leben schon häufiger mit dem Flugzeug gereist, doch so, wie bei diesem Start, waren sie noch nie in die Polster gedrückt worden. Der Gleiter hatte eine ungeheure Beschleunigung. Nach wenigen Sekunden hatte er gut zwei Drittel der Bahn hinter sich gebracht und hob vom Beton der Startbahn ab. Jan zog das Steuer heran und ließ die Maschine steil in den Himmel steigen. Trotz der hohen Leistung der Turbinen würden diese nicht ausreichen, den Gleiter auf die erforderliche Geschwindigkeit für einen niedrigen Orbit zu bringen, wie Jan es beabsichtigt hatte. Als der Wirkungsgrad der Staustrahltriebwerke nachließ und die Luft dünner wurde, zündete Jan das Haupttriebwerk und der Gleiter stieg auf einer Feuersäule immer höher in den Himmel. Für Jans Eltern war diese Phase des Fluges eine Tortur. Obwohl ein Verlassen der Erde selbst nicht vorgesehen war, und daher die Fluchtgeschwindigkeit der Erde nicht erreicht werden musste, hatten die beiden kurzfristig das Vierfache ihres Gewichts zu ertragen. Isabella hoffte, dass sie ihren untrainierten Passagieren nicht zu viel zumuteten.
Endlich war es so weit und Jan schaltete das Triebwerk ab. Von einem Moment zum Nächsten wurden sie schwerelos. Der Himmel um sie herum war längst nicht mehr blau, sondern präsentierte sich ihnen tiefschwarz mit endlos vielen Sternen. Dieser überwältigende Anblick lenkte Jans Eltern davon ab, dass jegliches Fehlen von Gewicht für Desorientierung und Schwindel sorgte. Manchen Menschen machte das so zu schaffen, dass sie fortwährend erbrachen. Sowohl Jan als auch Isabella blickten wiederholt nach hinten, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.
»Junge, Junge, das war vielleicht ein Höllenritt«, sagte Paul Lückert. »Sag mal Jan, geht das immer so zu, wenn Ihr solche Flüge macht?«
»Würde es Dich beunruhigen, wenn ich dir sage, dass dies einer der angenehmeren Starts war?«, fragte Jan lachend zurück.
»Das war doch jetzt sicher ein Scherz, oder?«, fragte Maria. »Ich hab jetzt noch das Gefühl, ich hätte unter einer Walze gelegen. Isabella, bitte sagen Sie mir, dass Jan Scherze macht.«
»Frau Lückert, es war kein Scherz. Wir müssen meist viel mehr aushalten, als das eben, aber das ist unser Job. Man kann sich daran gewöhnen.«
Isabella deutete auf die Fenster. »Vielleicht sollten Sie beide einen Blick auf die Erde werfen. Man hat in dieser Höhe eine fantastische Aussicht auf den Planeten.«
Staunend betrachteten Jans Eltern dieses Panorama, das sie sonst nur aus dem Fernsehen kannten. Jan lächelte Isabella zu. Er war froh, dass seine Eltern beschäftigt waren und keine Zeit fanden, Angst vor dem weiteren Flug zu entwickeln.
»Hallo  UNO-L-017K, hier spricht Australian Orbiter 1, wir haben Sie auf unserem Radar«, tönte es aus dem Funkgerät. »Sie wurden uns bereits vom Flughafen DUS/Germany angekündigt. Sie erhalten Freigabe für Landeanflug auf Cape Canaveral. Wir empfehlen Ihnen eine Kurskorrektur um 1,40 Grad nach Steuerbord. Australian Orbiter 1 wünscht noch einen guten Flug.«
»UNO-L-017K bedankt sich für Ihre freundliche Unterstützung«, antwortete Isabella.
»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte Paul. »Sie sprachen von einer Korrektur.«
»Vater, es gibt immer etwas zu korrigieren. Es war nur ein freundlicher Hinweis. Wir beginnen gleich mit dem Landeanflug. Sobald wir in die obere Stratosphäre eintreten, wird der Gleiter wieder manövrierfähig. Dann werden wir die Korrektur während des Gleitfluges durchführen. Ich werd für 1,40 Grad unsere Triebwerke nicht zünden.«
»Ich hab Datenkontakt mit Florida«, warf Isabella ein. »Sie geben uns bereits die Anflugdaten für die Anflugschneise.«
»Schneise? Bekommen wir keinen direkten Anflugkurs?«
»Über Miami soll es zurzeit dicht sein. Sie möchten, dass wir über den Atlantik ausweichen und eine Schleife fliegen.«
»Scheiße, dann müssen wir von Süden anfliegen«, lamentierte Jan.
»Gibt es jetzt Probleme?«, fragte Maria Lückert ängstlich.
»Nein Mutter«, sagte Jan lachend. »Du musst meine Flucherei nicht gleich als heraufziehende Katastrophe sehen. Ich hatte lediglich gehofft, gradlinig anfliegen zu können. Das wäre für euch ruhiger gewesen. Nun sind wir jedoch gezwungen, eine weite Schleife zu fliegen, um den Flugverkehr über Miami zu umgehen. Das bedeutet, dass ich spätestens bei 20.000 Fuß die Staustrahltriebwerke einschalten und wie ein normales Flugzeug landen muss. Es dauert länger und es wird etwas unruhig werden, das ist alles.«
Bald wurde der Himmel wieder blau und die Maschine begann mit ihrem langen Sinkflug. Allmählich stieg die Temperatur im Cockpit an und man konnte sehen, wie von den Flügelspitzen und von der Nase des Gleiters kleine Flammen aufstiegen.
»Wir brennen!«, rief Maria aus und Paul drückte ihr beruhigend die Hand.
»Das hat nichts zu bedeuten!«, rief Jan nach hinten. »Es handelt sich um, durch Reibung erhitzte, ionisierte Gase. Das ist normal beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Gleiter sind für solche Belastungen konstruiert. Allerdings wird es bis zum Erreichen der tieferen Luftschichten etwas warm. Es ist aber auszuhalten.«
Der Anflug auf das Landefeld des Raumfahrtzentrums verlief absolut reibungslos. Das Wetter über Florida war klar und ruhig, wodurch auch der letzte Teil des Anfluges überraschend ruhig verlief. Jans Eltern atmeten unwillkürlich auf, als der Gleiter auf dem Beton des Landefeldes aufsetzte und sie endlich festen Boden unter den Füßen hatten. Jan ließ die Maschine direkt bis vor die Service-Halle rollen und schaltete die Systeme ab.
Als sie die Maschine verließen, wartete bereits eine Limousine auf sie. Jan blinzelte gegen die grelle Sonne und sah, dass ein Mann aus dem Wagen stieg und ihnen entgegenlief. Es war Homer Sherman, ihr alter Ausbilder.
Homer schüttelte ihnen die Hände und umarmte dann Jan und Isabella.
»Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen, Kinder. Als ich erfuhr, dass ihr auf dem Weg hierher seid, musste ich einfach kommen, um euch zu begrüßen. Was treibt euch hierher? Ist es auf dem Mond langweilig geworden?«
»Unter Langeweile leiden wir dort oben nun wirklich nicht«, meinte Isabella. »Wir machen Urlaub auf der Erde.«
»Urlaub? Und da habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier im Raumfahrtzentrum zu landen?«, spottete Homer Sherman.
»Meine Eltern wohnen noch immer in der Nähe«, erklärte Isabella.
Homer sah von einem zum anderen.
»Ihr zwei habt Jans Eltern dabei und seid auf dem Weg zu den Grimadius? Hab ich etwas nicht mitbekommen? Na kommt schon, welche Neuigkeiten habt ihr mitgebracht?«
Isabella konnte sich ein Grinsen nicht verbeißen. Jan nickte ihr zu.
»Mr. Sherman, wir werden heiraten. Das ist der Grund, warum wir alle hier sind.«
Ein breites Lächeln erschien auf Homers Gesicht. »Das finde ich toll! Meine Kinder werden heiraten.«
Nach einem Blick in die Gesichter von Jans Eltern erklärte er: »Sie müssen entschuldigen, aber ich hatte diese beiden schon ins Herz geschlossen, als sie noch hier auf der Erde um ihre Zulassung zur Akademie bangen mussten. Ich fand damals schon, dass sie zusammenpassten, aber unser Job ist für dauerhafte Beziehungen normalerweise tödlich und deshalb freut es mich umso mehr, dass sie jetzt heiraten wollen.«
Er wandte sich wieder Jan und Isabella zu. »Wann soll es denn geschehen? Wollt Ihr während Eures Urlaubs heiraten? Ich könnte da etwas auf die Beine stellen.«
Jan schüttelte den Kopf und Isabella antwortete: »Nein, das wird nicht gehen. Meine Eltern wissen bisher noch nichts davon und wir haben auch nicht so viel Zeit, bevor wir wieder zum Mond müssen. Es wird zunächst nur eine kleine Zeremonie auf dem Mond stattfinden. Wir hoffen, das hier auf der Erde später nachzuholen. Dann werden wir Sie sicher dazu einladen.«
»Isabella, wir sind nicht mehr Schüler und Lehrer«, sagte Homer. »Wir stehen uns jetzt auf Augenhöhe gegenüber. Nennt mich einfach Homer und vergesst das 'Sie'.«
»Homer, es tut uns leid, aber wir sollten nun zu Isabellas Eltern fahren«, sagte Jan. »Vielleicht finden wir vor unserer Abreise noch etwas Zeit, um uns zu unterhalten.«
»Ich verstehe euch, Kinder. Aber ich bin hier, da kann ich euch auch fahren. Ich bring euch zu den Grimadius. Sie werden sich sicher freuen. Ich hab in der letzten Zeit häufig mit ihnen zu tun, weil Roman inzwischen bei uns in der Verwaltung arbeitet und Alexandra Grimadiu im Begriff ist, sich für die Akademie zu bewerben.«
»Alexandra, will zur Akademie?«, fragte Isabella entgeistert. »Sie ist doch noch ein Kind!«
Homer lachte. »Da täuschst du dich. Aus Kindern werden Leute. Deine Schwester ist eine selbstbewusste junge Frau geworden und ich hab es so im Gefühl, dass sie in deine Fußstapfen treten wird.«