13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.3 FREELANCER

Die FREELANCER war ein wahrhaft gigantisches Schiff und Jan Lückert war stolz darauf, dass ihm die Führung dieses Schiffes übertragen worden war. Es störte ihn im Grunde, dass es sich um ein militärisches Schiff handelte, zumal er sich nicht als Mitglied der EU-Streitkräfte betrachtete. Noch als er seine Ausbildung auf dem Mond begonnen hatte, war an Kampfraumschiffe nicht zu denken. Erst nach dem leidigen Zwischenfall mit dem chinesischen Übernahmeversuch wurden Stimmen laut, die forderten, dass die Stationen auf dem Mond auch Schutz aus dem All benötigen würden. So wurde von den Mitgliedern der Europäischen Union ein Programm zur Entwicklung eines Kampfraumschiffes finanziert und in Auftrag gegeben, welches von der ESA in Zusammenarbeit mit der NASA durchgeführt wurde. Der Prototyp des ersten, von Plasma getriebenen Schiffes, die GINA DACCELLI, hatte für die FREELANCER Pate gestanden. Jan hatte sich mit der GINA DACCELLI seine ersten Sporen verdient und so hatte es sich ergeben, dass er früh dem FREELANCER-Projekt zugeteilt worden war. Er hatte es als Chance und Herausforderung gesehen und sich mit Feuereifer in die Arbeit gestürzt. Erst nach und nach stellte er fest, dass dieses Schiff kein Schiff wie die anderen werden würde, sondern, dass es definitiv ein Kampfschiff war. Jan nahm sich fest vor, mit der endgültigen Inbetriebnahme des Schiffes aus dem Projekt auszusteigen, doch zunächst waren noch unzählige Tests durchzuführen und Jan war nun mal als Kommandant und Testpilot der FREELANCER angestellt.
Ein Signal riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne nachzudenken, drückte er den Schalter der internen Kommunikation.
»Ich hab den Fehler gefunden!«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Es war nichts weiter als ein verschmorter Speicherchip in der Steuereinheit der Plasmaverteilung.«
»Pelle, du bist ein Genie!«, rief Jan erfreut. »Ich hatte schon befürchtet, wir müssten wieder in die Werft zurückfliegen.  Du hast doch noch Ersatzchips dieses Typs, oder?«
»Das ist es nicht. Wir haben wirklich genug davon an Bord, aber es muss einen Grund dafür geben, dass diese Dinger durchschmoren. Ich werde eine Notiz machen, dass entweder eine bessere Kühlung installiert wird, oder man es mit einer Lastverteilung probiert, um die einzelnen Chips zu entlasten. Ich hab keine Lust, wegen des Ausfalls eines solch lächerlichen Teils abzustürzen, wenn das ausgerechnet über einem Planeten oder über dem Mond geschieht.«
»Da hast du recht«, stimmte Jan zu, während er auf die Monitore der Systemüberwachung schaute. »Wir sind übrigens wieder online. Du kannst in die Zentrale kommen.«
Jan stieß sich von der Kommunikationskonsole ab und rollte mit seinem Sessel zum Pilotenstand zurück. Es war purer Luxus an Bord dieses Schiffes, dass man eine Art Schwerkraft spüren konnte. Die zentrale Zelle mit der Zentrale und den Mannschaftskabinen war in einem Zylinder untergebracht, der ständig um seine Achse rotierte. Das einzige Problem war die Stabilität der Datenleitungen zu den peripheren Sektionen des Schiffes, wie dem Antrieb, gewesen, aber man hatte es durch die Installation einer Kupplung in den Polbereichen des Zylinders gelöst. Jan rastete seinen Sessel in den Bodenschienen vor seinem Pilotenpult ein und aktivierte die Instrumente. Dabei fiel sein Blick auf das Foto von Isabella, seiner Frau, das er stets bei sich hatte. Er seufzte. Schon einige Wochen hatte er sie nicht mehr gesehen. Seit sie für die ESA diese neuen Frachter flog, war sie immer gleich für mehrere Wochen unterwegs. In wenigen Tagen wurde die JEAN SIBELIUS – das Schiff, mit dem sie zum Asteroidengürtel des Sonnensystems unterwegs war – endlich im inneren System zurückerwartet. Er freute sich bereits riesig darauf, Isabella wiederzusehen.
Pelle betrat die Zentrale und ließ sich schwer in seinen Sessel fallen.
»Ich hab provisorisch einen überdimensional dicken Kühler auf dem Chip angebracht. Damit dürften wir erst mal keine Probleme mehr haben. Dem heutigen Test steht hoffentlich nichts mehr im Wege.«
Jan nickte zustimmend und gab Sean McConnor ein Zeichen. Sean war der Waffenspezialist an Bord der FREELANCER. Er sollte die neue Partikelkanone testen, deren Prototyp an Bord installiert worden war. Die Partikelkanone war eine konsequent weitergedachte Anwendung des Korpuskularantriebes, bei dem kleinste Teilchen in einem zyklotronähnlichen Beschleuniger auf Geschwindigkeiten gebracht wurden, die nur wenig unterhalb der des Lichts lagen, bevor sie über das Abstrahlfeld ins All gestrahlt wurden. Bei der Kanone war es ähnlich, nur dass die Partikel über eine ganze Kette von Ringmagneten so stark gebündelt wurden, dass der Strahl selbst wie ein Laserstrahl wirkte, nur dass es sich nicht um Licht handelte, sondern um kleinste Materieteilchen.
»Dann soll ich also tatsächlich noch Arbeit bekommen?«, fragte Sean, der gemütliche Schotte, dem man gar nicht zutraute, dass er sich mit Waffen auskannte.
»Ich glaube es erst, wenn wir einen Testasteroiden im Visier haben und ich auf ihn feuern kann.«
Jan grinste. Es war in den vergangenen Tagen immer wieder etwas dazwischen gekommen und immer waren es Kleinigkeiten, die sie daran hinderten, ihr Zielgebiet anzufliegen. Im Grunde war er froh, dass sie nur auf Asteroiden schießen würden, denn es gab zurzeit nichts auf der Welt, das einem Schuss aus ihrer Kanone widerstehen könnte. Allein der Gedanke, damit auf eine von Menschen besetzte Einrichtung oder ein anderes Schiff zu schießen, ließ ihn frösteln. Warum mussten Menschen eigentlich immer jede Erfindung gleich auf ihre Tauglichkeit als Waffe überprüfen? Er konnte sich noch gut an die Invasion der Chinesen auf dem Mond erinnern. Damals war er gezwungen, den Antrieb eines von Plasma getriebenen Schiffes gegen zwei gegnerische Schiffe einzusetzen. Jan wurde schlagartig ernst, als er daran zurückdachte. Er hatte sich danach geschworen, niemals den Streitkräften beizutreten. Und nun? Nun war er Kommandant eines Prototyps des schrecklichsten Kampfraumschiffes, das die Menschheit jemals gebaut hatte. Er hoffte, dieses Kapitel bald abschließen zu können, um sich zivilen Aufgaben widmen zu können.
»Ich habe den Kurs längst im Computer«, sagte Renata Leqlerque, die Navigatorin. »wir könnten starten.«
Jan blickte auf seine Monitore und seufzte. »Ich hab es befürchtet, sie wollen, dass wir die Tests unbeobachtet weit draußen – noch jenseits der Marsbahn machen. Damit ist ein baldiger Urlaub auf dem Mond in weite Ferne gerückt.«
Er aktivierte die Triebwerke und ließ die FREELANCER mit maximaler Beschleunigung ihrem Ziel entgegenfliegen. Der Andruck presste sie tief in ihre Tempur-Polster. Jan schwor sich, die Tortur so lange wie möglich zu ertragen, um das Zielgebiet schnell zu erreichen. Ein Gedanke an Isabella schoss ihm durch den Kopf. Es würde wieder einmal nichts werden mit einem Treffen in ihrer Wohnung auf dem Mond.