13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.7 Enterkommando

»Hab ich es euch nicht gesagt?«, fragte Isabella. »Jetzt schleusen sie Beiboote aus. Sie wollen uns entern.«
»Und wir können nichts dagegen tun?«, fragte Eduardo Lorca, ihr Bordarzt, der nun auch in der Zentrale stand und auf den Bildschirmen verfolgte, was auf sie zukam.
»Nein, das können wir nicht«, sagte Isabella. »Aber wir können uns noch bei ihnen bedanken. Sie sind fast schon erschreckend ahnungslos, was unsere Schiffslage ihnen gegenüber betrifft. Dieses Schiff nähert sich uns noch immer genau so, wie zu Beginn des Anfluges. Gleich sind sie exakt in unserem Kegel.«
Isabellas Zeigefinger schwebte über dem Aktivierungsknopf des Plasmatriebwerks.
»Verdammt!«, entfuhr es ihr. »Jemand dort drüben hat den Braten gerochen. Sie ändern den Kurs.«
Sie drückte den Knopf und im nächsten Moment griff ein schnurgerader Plasmafinger nach dem gegnerischen Schiff. Es wurde im letzten Drittel der Schiffszelle getroffen und glatt durchschlagen. Jetzt konnten sie nur hoffen, dass sie auch lebenswichtige Teile des Schiffes getroffen hatten.
»Guter Schuss!«, lobte Haruki. »Leider kann ich nicht erkennen, inwieweit er Schäden verursacht hat. Ihr Triebwerk schweigt jedenfalls. Dafür nähern sich uns die Beiboote. Ich fürchte, sie sind bewaffnet.«
Isabella spielte kurz mit dem Gedanken, die JEAN SIBELIUS neu auszurichten, um auch die Beiboote anzugreifen, doch erwiesen sie sich als viel zu wendig.
»JEAN SIBELIUS, unterlassen sie weitere Kampfhandlungen«, drang es aus dem Funkempfänger. »Wir sähen uns sonst gezwungen, von unseren Bordkanonen Gebrauch zu machen. Legen Sie Ihr Triebwerk still und fahren Sie den Reaktor auf Stand-by. Wir werden an Bord kommen. Wenn Sie keinen Widerstand leisten, wird niemandem etwas geschehen.«
»Wer sind Sie?«, fragte Isabella zurück. »Wir fliegen im Auftrag der ESA. Sie haben kein Recht, uns zu stoppen!«
Ein leichtes Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Es interessiert uns nicht, in wessen Auftrag Sie fliegen. Wir nehmen uns das Recht, Sie zu stoppen, weil Sie etwas haben, das wir haben wollen. Wenn Sie vernünftig sind, kommt niemand zu schaden. Darauf haben Sie mein Wort.«
»Das Wort eines Piraten?«, fragte Isabella spöttisch. »Dem kann ich selbstverständlich trauen.«
Mehrere dumpfe Schläge dröhnten durch die JEAN SIBELIUS. Offenbar hatten die Beiboote an ihrem Schiff angelegt.
»Das war es dann wohl«, sagte Renata. »Sie sind da. Jetzt können wir nur noch beten, dass sie uns wirklich verschonen.«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich das Schott zu den Laderäumen öffnete und eine Gruppe von schwer bewaffneten Männern die Zentrale betrat. Ihr Anführer war ein wahrhaftiger Riese von einem Mann. Er gab seinen Leuten ein Zeichen, worauf sie sich sofort verteilten und die Anwesenden mit ihren Waffen in Schach hielten.
»Mein Name ist Hagen Thermorn«, stellte er sich vor. »Aber Namen sind Schall und Rauch. Vielleicht ist es ja auch nicht mein richtiger Name. Sie können sich sicher denken, warum wir hier sind. Ich garantiere Ihnen, dass niemand zu Schaden kommt, wenn Sie alle vernünftig sind. Wer hat hier auf dem Schiff das Kommando?«
»Das dürften im Moment wohl Sie sein, oder?«, fragte Isabella ironisch.
Hagen lachte leise und die Art und Weise irritierte Isabella, denn es war kein boshaftes Lachen. Wäre dieser Mann kein Pirat und würde sie mit einer bewaffneten Armee überfallen, hätte sie ihn sogar sympathisch gefunden.
»Ich schätze Menschen mit Humor, Kleine«, sagte Hagen. »Aber Spaß beiseite: Wer ist Kommandant an Bord dieses Schiffes?«
»Das bin ich«, sagte Isabella mit überraschend fester Stimme. Nun war es an Hagen, überrascht zu sein.
»Oh, eine Frau leitet dieses Schiff«, sagte er. »Das findet man nicht oft. Verzeihen Sie, dass ich Ihnen nicht gleich mit dem gebotenen Respekt begegnet bin.«
»Was soll dieses Gerede, Herr ... wie auch immer sie heißen?«, fragte Isabella verärgert. »Was wollen Sie von mir?«
»Wie heißen Sie, Kommandantin?«, fragte Hagen unbeeindruckt. »Ich mag zwar ein Pirat sein, aber das bedeutet nicht, dass man keine Umgangsformen hat. Ich bevorzuge es, nur so viel Gewalt einzusetzen, wie zur Durchsetzung der Ziele notwendig ist. Wenn wir uns darauf einigen können, dass wir derzeit die Gewalt auf Ihrem Schiff verkörpern und Sie Ihren Leuten klar machen, dass es unklug wäre, unangemessenes Heldentum beweisen zu wollen, können wir unsere Arbeit machen und Sie können anschließend wieder Ihrer Wege ziehen. Ich möchte nicht noch einmal erleben, dass Sie ihr Plasmatriebwerk zünden, habe ich mich da klar ausgedrückt?«
Isabella nickte. »Ich garantiere Ihnen, dass von unserer Seite keine weiteren Aggressionen erfolgen werden, wenn wir dafür geschont werden. Mein Name ist übrigens Isabella Lückert.«
»Gut Isabella, ich brauche sofort eine Funkverbindung zum meinem Schiff. Würden Sie das bitte veranlassen?«
Isabella nickte Pat zu. »Pat, machen Sie einen Kanal zum anderen Schiff auf«, befahl sie.
Einen Moment später drang eine erregte Stimme aus dem Lautsprecher:
»Es wird aber auch Zeit, dass du dich meldest, Hagen! Wie sieht es aus, wann beginnt Ihr endlich mit dem Umladen der Kristalle?«
Hagen griff nach dem Mikrofon an der Konsole und antwortete: »Kyle, ich kann im Moment mit deiner Stimmung nicht gut umgehen. Ich habe mich soeben mit der Kommandantin der JEAN SIBELIUS geeinigt, dass sie uns keine Steine in den Weg legen werden und wir sie dafür schonen. Wir werden mit der Arbeit beginnen, sobald es geht.«
»Was soll das heißen: Ihr habt euch geeinigt? Hagen Ihr habt die Waffen! Scheiße, lasst sie sprechen und Ihr spart euch dieses ganze Gerede. Ob du sie jetzt erledigst, oder später, spielt doch sowieso keine Rolle.«
»Kyle, ich habe ihnen mein Wort gegeben. Wenn sie sich an die Vereinbarung halten, wird nicht geschossen – ich meine das ernst!«
»Das liegt nicht in deinem Ermessen, Hagen. Dein Job sind die Kristalle. Schaff sie rüber. Den Rest werde ich persönlich erledigen, oder hast du geglaubt, ich würde es riskieren, Zeugen zu hinterlassen?«
Wütend schaltete Hagen die Verbindung einfach aus.
»Wer war das?«, fragte Isabella geschockt. »Sie haben doch gesagt ...«
»Ich stehe zu meinem Wort!«, rief Hagen barsch. »Das war mein Kommandant. Ich hab keine Ahnung, was in ihn gefahren ist! Bitte geben Sie meinen Leuten die Schlüssel zu den Laderäumen. Wir möchten nicht ewig an Bord Ihres Schiffes verweilen.«
In diesem Moment sprach das Funkgerät wieder an. London Brown meldete sich auf einer anderen Frequenz: »Hagen? Hörst du mich?«
Hagen blickte in die Runde und überlegte, ob er die Besatzung der JEAN SIBELIUS hinausschicken sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er griff nach dem Mikrofon.
»Ich höre dich. Was gibt es?«
»Hagen, ich weiß nicht, was mit meinem Bruder los ist. Ich glaube, er verliert den Verstand. Der Treffer hat das Schiff stärker beschädigt, als wir zunächst dachten. Noch ist es nicht dramatisch, aber wir haben einen Riss in der Reaktorzelle. Die Strahlung entweicht glücklicherweise in eine andere Richtung, sodass wir bisher nichts abbekommen haben, aber ich garantiere für nichts, wenn die Leistung hochgefahren wird und die Triebwerke gezündet werden. Kyle will aber unbedingt mit der BLACK BOTTOM zurückfliegen. Ich habe ihm gesagt, dass es uns den Kopf kosten kann, insbesondere, wenn wir auch noch die Ladung der JEAN SIBELIUS übernehmen. Er will das Risiko aber unbedingt eingehen. Er meint, wir brauchten die Waffen der BLACK BOTTOM.«
»Wie kritisch beurteilst du die Lage?«, wollte Hagen wissen. »Wird es lediglich eine Schleichfahrt, oder ist es noch riskanter?«
»Ich befürchte ernsthaft den Totalverlust des Schiffes, wenn wir Fahrt aufnehmen«, sagte London. »Ich bin nicht bereit, für diesen Wahnsinn zu sterben. Sabina und Lech denken genauso. Wir haben noch ein Beiboot. Wir werden zu euch rüberkommen, wenn Kyle es nicht bemerkt. Er würde uns nicht gehen lassen.«
»Was ist mit Thomas? Wie denkt er darüber?«
»Thomas hält zu Kyle. Er will bleiben und die Vernichtung der JEAN SIBELIUS vornehmen, sobald die Ware in der BLACK BOTTOM ist.«
»Dieser Wahnsinnige!«, entfuhr es Hagen. »Kommt rüber, wir werden umdisponieren.«
»Was soll das bedeuten?«, fragte Isabella. »Was meinen Sie damit, dass Sie umdisponieren wollen?«
»Wir werden nicht mehr umladen«, sagte Hagen. »Sie haben es doch selbst gehört: Wir haben im Grunde kein Schiff mehr, was wir Ihnen verdanken. Aus diesem Grunde müssen wir nun die Ladung zusammen mit Ihrem Schiff stehlen. Wir müssen Ihre Gastfreundschaft nun noch etwas länger in Anspruch nehmen.«