13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.9 Londons Flucht

Kyle Brown tobte vor Wut. Die BLACK BOTTOM war sein Schiff. Er hatte hart dafür gearbeitet, das Geld für den Bau zusammenzubekommen. Fast alle seine Geldgeber hatte er in den letzten Monaten bereits auszahlen können und das Geschäft mit den Überfällen auf Frachtschiffe ließ sich sehr lukrativ an. Der aktuelle Coup sollte seinen letzten, den größten Gläubiger zufriedenstellen – den Koordinator. Niemand wusste, wer sich hinter der Maske dieses Titels wirklich verbarg. Dafür wusste Kyle nur zu genau, wie der Koordinator mit Schuldnern umsprang, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllten.
Der unsägliche Treffer, den die Kommandantin der JEAN SIBELIUS bei seinem Schiff gelandet hatte, schien weitaus ernster zu sein, als zunächst angenommen. London hatte ihm mitgeteilt, dass die Reaktorzelle etwas abbekommen hatte. Dieser Angsthase hatte sogar darauf bestanden, die Triebwerke nicht mehr einzusetzen und die große Laserkanone nicht mehr abzufeuern, um die Reaktorleistung niedrig zu halten. Als Kyle jetzt davon erfuhr, dass ein Beiboot abgelegt hatte und sich Sabina, Lech und sein Bruder an Bord befanden, war er völlig ausgerastet.
»Thomas, welche Waffensysteme sind noch online?«, fragte er seinen letzten verbliebenen Getreuen, den Waffentechniker Thomas Bertold. »Können wir sie aus dem All blasen?«
»Du willst wirklich deinen Bruder umbringen?«, fragte Thomas zweifelnd. »Wir hätten da noch die Raketenbatterien, aber willst du das ernsthaft tun?«
»Richte die Batterien aus!«, brüllte Kyle. »Wenn du so weit bist, gib mir Bescheid. Ich will es selbst tun. Verräter werden hingerichtet.«
»Kyle, es ist dein Bruder!«
»Willst auch du den Befehl verweigern und mich hintergehen?«
Thomas sagte nichts mehr, nahm aber die notwendigen Schaltungen vor. »Wenn du willst, kannst du schießen, Kyle, aber ich will damit nichts zu tun haben.«
In diesem Moment leuchtete die Empfangskontrolle am Funkgerät auf. Kyle nahm den Ruf an.
»Kyle«, drang es aus dem Lautsprecher. »Ich bin's – London. Du wirst inzwischen mitbekommen haben, dass wir die BLACK BOTTOM verlassen haben. Wir mussten es tun. Das Schiff ist nicht viel mehr als ein Wrack, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Du solltest mit Thomas ebenfalls das Schiff verlassen, bevor es zu spät ist.«
»Ich hätte nie gedacht, dass mich mein eigener Bruder verraten würde«, sagte Kyle hasserfüllt. »Aber ich kann die BLACK BOTTOM auch mit zwei Personen fliegen. Ich werde nur nicht zulassen, dass ihr euch so billig davonschleicht. Du weißt, was ich mit Verrätern mache.«
»Du willst doch nicht auf uns schießen?«, kam Sabinas Stimme schrill aus dem Lautsprecher. »Nicht nach allem, was zwischen uns gewesen ist!«
»Ah, da ist ja auch die kleine Schlampe!«, sagte Kyle. »Es wird mir ein Vergnügen sein, auch dich zu erledigen. Mir wird jetzt noch ganz schlecht, wenn ich daran denke, dass ich es mit dir getrieben habe.«
»Du verdammtes Schwein!«, schrie Sabina und die Panik in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
Thomas sah seinen Kommandanten entgeistert an, als er sah, wie er mit der geballten Faust auf den Feuerknopf schlug. Eine Salve von sechs Raketen verließ die Rohre und raste auf das Beiboot zu.
»Ha!«, rief Kyle triumphierend, doch sein Gesicht fror förmlich ein, als er auf dem Monitor sah, dass das Beiboot eine Reihe von waghalsigen Manövern ausführte und sämtliche Raketen ihr Ziel verfehlten.
»Verdammt. London, dieser Dreckskerl!«, rief er laut. »Fliegen kann er, das muss man ihm lassen. Thomas, sofort nachladen!«
»Wir können nicht noch einmal schießen, Kyle. Sie sind schon zu nah an der JEAN SIBELIUS. Wenn wir sie treffen und sie explodiert, haben wir überhaupt keine Beute mehr.«
»Du hast Recht, Thomas«, sagte Kyle, der anscheinend wieder normal wurde. »Wir brechen diese Sache ab. Du gehst sofort in den Reaktorbereich und checkst, ob wir eine Chance haben, die Laserkanonen – die Große und auch die Kleine – wieder flott zu bekommen. Vielleicht ist ja nur die Leitung defekt und wir können sie flicken. Ich möchte so bald wie möglich wieder in der Lage sein, präzise zu schießen.«
»Willst du London und die anderen beiden immer noch töten?«, fragte Thomas verständnislos.
Kyle schenkte ihm ein boshaftes Lächeln, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.