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13. Der Flug der JEAN SIBELIUS
13.11 Kyle dreht durch
Thomas Bertold war Waffenspezialist und nicht Techniker, aber er hatte sich trotzdem einen Überblick über den Zustand der Reaktorzelle, der Laserkanonen und des Triebwerks der BLACK BOTTOM verschafft. Das Ergebnis war teilweise niederschmetternd. Die Reaktorzelle hatte mehrere Haarrisse bekommen. Sein Gefühl sagte ihm deutlich, dass es an der Zeit wäre, eine Menge Raum zwischen sich und dieses Schiff zu bringen. Er seufzte, als er an Kyle, seinen Kommandanten, dachte. Die Aufgabe der BLACK BOTTOM war für ihn keine Option, also prüfte Thomas Bertold weiter gewissenhaft, ob sie noch eine reale Chance hatten, diese Angelegenheit zu überleben.
Als er mit seiner Analyse fertig war, fühlte er sich zum Teil beruhigt. Zwar wäre es der Gnadenstoß für das Schiff, wenn sie die Triebwerke belasten würden, doch es bestand keine unmittelbare Gefahr, dass die Reaktorzelle endgültig reißen würde. Er kletterte wieder durch die Gänge zurück zur Zentrale, wo ihn Kyle bereits erwartete.
»Nun?«, fragte er. »Wie sieht es aus? Kann die BLACK BOTTOM noch kämpfen?«
Thomas Bertold spürte, wie der Zorn in ihm hochstieg.
»Hast du eigentlich keine anderen Probleme?«, fuhr er ihn an. »Wir haben einen gewaltigen Treffer abbekommen. Ein anderes Schiff wäre schon längst Geschichte. Wir verdanken es nur der schweren Panzerung, dass wir überhaupt noch leben und du willst mit diesem Schrotthaufen auch noch kämpfen! Wenn du mich fragst, sollten wir machen, dass wir hier fortkommen!«
»Dich fragt aber niemand!«, brüllte Kyle und deutete auf die Monitore der Schiffsortung. »Sie dir das an! Wir bekommen Besuch. Wenn ich die Instrumente richtig deute, ist es ein richtig großer Brocken. Also wiederhole ich meine Frage noch einmal: Können wir kämpfen?«
Thomas blickte völlig konsterniert auf die Monitore. Es war im Grunde undenkbar, dass sie hier draußen plötzlich mit einem weiteren Schiff zu tun bekamen. Auch wenn die irdische Handelsflotte mittlerweile eine beachtliche Größe erreicht hatte, so verteilten sich diese Schiffe über einen gewaltigen Raumquadranten. Wäre es anders, könnten Piratenschiffe wie die BLACK BOTTOM ihre Arbeit gleich wieder einstellen, denn gerade die Anonymität des Schiffes war ihre stärkste Waffe. Trotzdem war es geschehen, denn die Instrumente bewiesen eindeutig, dass sich ihnen ein Schiff näherte.
Thomas nickte abwesend. »Die große Laserkanone ist noch für einige Schüsse gut. Die kleinen Geschütze sollten keine zusätzlichen Probleme machen, auch wenn wir sie dauerhaft verwenden. Wir können nur nicht manövrieren. Bei Zündung der Triebwerke wird es uns zerreißen.«
Kyle schlug Thomas jovial auf die Schulter. »Na also. Dann nimm mal an deiner Konsole Platz und richte unsere Waffen auf den Fremden. Wir sollten gerüstet sein.«
Ein Signal verkündete einen eingehenden Funkspruch. Kyle drückte auf die Aktivierungstaste der Funkanlage.
»Kyle?«, drang es aus dem Lautsprecher.
»Ach London, du bist es, du Verräter!«, rief Kyle. »Was willst du von mir?«
»Hör jetzt mit diesem Scheiß auf, Kyle!«, kam es aus dem Funkgerät. »Ihr habt doch sicher auch mitbekommen, dass sich uns ein recht großes Raumschiff nähert, oder?«
»Wir haben sie bereits im Visier«, verkündete Kyle mit zufriedenem Gesicht. »Hier an Bord der BLACK BOTTOM machen wir unseren Job und laufen nicht davon!«
»Kannst du deine Hetzerei nicht einen Moment lassen?«, fragte London. »Sabina hat hier auf der JEAN SIBELIUS eine ungeheuer moderne Ortungsanlage vorgefunden. Sie hat bereits einige Eckdaten der Fremden herausgefunden. Kyle, es ist definitiv kein Frachter.«
»Was soll es denn sonst sein?«
»Ich kann es dir nicht genau sagen, aber die Form ist so ungewöhnlich. Auf den Fernaufnahmen wirkt es, als wenn sich uns eine geometrische Form nähert – wie eine Art von Hexagon, du weißt schon: so ein Körper, der aus sechzehn Flächen gebildet wird. Dann ist das Schiff auch noch ungeheuer schnell. Es bremst mit enormen Werten. Damit ist auch klar, dass es nicht etwa ein Ziel ansteuert, das zufällig in unserer Richtung liegt.«
»Gibt es schon Funkverkehr mit dem fremden Schiff?«, wollte Kyle wissen.
»Bisher nicht. Trotzdem hab ich kein gutes Gefühl. Wir werden unsere Reaktoren prophylaktisch hochfahren, damit wir notfalls schnell entkommen können.«
»Keine gute Idee«, meinte Kyle. »Wenn das geometrische Schiff so schnell ist, wie ihr sagt, wird ein Frachter sicher nicht entkommen können, auch wenn er über einen Plasmaantrieb verfügt. Ihr bleibt hier und wartet ab. Wir werden das Problem mit unseren Lasern regeln. Was immer es auch für ein Schiff ist – es wird nicht gegen Hochenergielaser immun sein.«
»Kyle, ich habe nicht gefragt, was ich tun soll, ich habe dich lediglich informiert, dass wir uns zur Flucht bereit machen werden«, sagte London hart. »Ich halte deinen Konfrontationskurs für falsch und beabsichtige durchaus, noch eine Weile weiterzuleben.«
»Verdammt noch mal, London!«, schrie Kyle ins Mikrofon. »Ich bin Kommandant und habe zu entscheiden! Bilde dir nicht ein, nur weil du mein Bruder bist, würde ich dich schonen, wenn es hart auf hart geht!«
»Das hab ich gemerkt, du Arschloch! Die Raketensalve ist noch nicht vergessen, Kyle. Du bist Kommandant der BLACK BOTTOM. Hier auf der JEAN SIBELIUS habe ich zu entscheiden. Finde dich damit ab. Wenn du klug bist, kommst du mit Thomas zu uns herüber und wir machen uns gemeinsam aus dem Staub.«
Kyle schaltete wütend die Funkanlage ab und blickte wütend zu Thomas Bertold hinüber.
»Kyle, diese eigenartige Form des Schiffes gibt mir zu denken«, sagte er. »Ich meine, mich erinnern zu können, dass es damals so ein ähnliches Schiff gegeben hat, als China den Mond annektieren wollte. Damals hat ein einziges Schiff den Vorstoß der Chinesen gestoppt.«
Kyle verdrehte die Augen.
»Willst du etwa behaupten, wir hätten es mit diesem alten Kasten zu tun? Damit wird die BLACK BOTTOM auch in ihrem jetzigen Zustand fertig«, meinte Kyle selbstbewusst.Isabella war in ihrem eigenen Schiff zur Beobachterin degradiert, doch zumindest hatte man sie nicht aus der Zentrale entfernt, sodass sie über die Entwicklung informiert war. Auch konnte sie sich bisher nicht über schlechte Behandlung vonseiten der Piraten beklagen. Zwar waren sie bis an die Zähne bewaffnet und machten deutlich, dass sie das Schiff unter ihrer Kontrolle hatten, doch genügte es ihnen, die Basismannschaft der JEAN SIBELIUS in Schach zu halten.
Isabella verfolgte die Arbeit der Ortungsspezialistin Sabina Doyle und musste ihr zugestehen, dass sie wirklich gut war. Ohne auch nur einmal ihren Funker Pat Rooney befragt zu haben, bediente sie die Instrumente des Schiffes, als wenn sie auf diesem Schiffstyp ausgebildet worden wäre. Aufgemerkt hatte sie, als Sabina Doyle das sich nähernde Schiff entdeckt und sogar die Form des Schiffes herausgekitzelt hatte. Sie merkte, dass Renata, ihre Navigatorin, sie von der Seite ansah. Als sich ihre Blicke trafen, wusste Isabella, dass Renata dasselbe dachte: Es war Jans Schiff, der Prototyp, den er im Auftrag der Militärs testete. Sie bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. Sollten die Piraten doch herumrätseln, mit wem sie es zu tun bekamen. Sie wusste, dass es sich dabei um ein Kampfschiff handelte. Gleichzeitig begann sie jedoch zu befürchten, dass Jan etwas zustoßen könnte. Immerhin wusste er ja nicht, dass sie von Piraten gekapert worden waren. Das Schiff der Piraten war sicherlich bewaffnet. Wenn nun Jan überhaupt nicht wusste, was hier vorgefallen war ... Sie verwarf den Gedanken wieder. Er musste wissen, was los war, denn warum kam er sonst mit solch hohen Leistungswerten an ihren Standort?
Sie war so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, dass sie fast verpasste, wie sich der Pirat London mit einem Mann an Bord des Piratenschiffes stritt, der offenbar sein Bruder war. Sie hatte den Eindruck, als wenn dieser Kyle an Bord des anderen Schiffes die Auseinandersetzung suchen würde. Sie fragte sich, wie Jan dieses Problem überhaupt lösen könnte. Ihre Gegner waren gut bewaffnet und sie selbst waren hervorragende Geiseln. Isabella seufzte.
»Was haben Sie?«, fragte Hagen Thermorn, der den Seufzer mitbekommen hatte. »Haben Sie geglaubt, das Eintreffen des Schiffes könnte Ihre Lage ändern? Schlagen Sie es sich aus dem Kopf. Wir sind es gewohnt, mit solchen Problemen fertig zu werden.«
»Der Fremde strebt eine Parkposition an«, meldete Sabina. »Er bleibt relativ weit von unserem Schiff weg, das ist eigenartig.«
Hagen studierte die Bilder der Ortung. Dann meinte er: »Das ist nicht eigenartig. Sie wissen Bescheid, das ist alles.«
»Unmöglich!«, rief London. »Woher sollen Sie wissen, was hier an Bord los ist?«
»Ganz einfach. Die Crew hier hat einen Funkspruch in Richtung Erde abgesetzt, bevor wir an Bord gekommen sind. Ist es nicht so, Kommandantin? Selbst, wenn der Spruch nicht sehr ausführlich gewesen sein kann, ist es dennoch einem klugen Kommandanten möglich, sich alles Weitere zusammenzureimen. Vermutlich rechnen sie drüben damit, dass wir über bewaffnete Beiboote verfügen. Die Entfernung gibt ihnen zusätzliche Zeit, falls wir sie angreifen und ich möchte davon abraten, dieses Schiff mit unseren Beibooten anzugreifen.«
»Warum?«, wollte London wissen. »Wir könnten sie damit doch prima in die Zange nehmen. Wir müssen unsere Karten auch ausspielen.«
»Nicht, wenn man ein schlechtes Blatt auf der Hand hat«, entgegnete Hagen. »Ich habe ein solches Schiff schon einmal gesehen. Es war zwar etwas anders, aber die Grundkonstruktion ist ähnlich. Damals hatte es die Chinesen vom Mond vertrieben. Ich fürchte, dies dort ist ein Schiff, das für diesen Zweck gebaut wurde. Meiner Meinung nach ist das ein Kampfraumschiff.«
London wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment sprach das Funkgerät an und eine kräftige Stimme meldete sich:
»Hier spricht Haruki Ono von Bord der FREELANCER. Uns liegen Informationen vor, wonach das Frachtschiff JEAN SIBELIUS sich in der Hand von Piraten befinden soll. Bitte melden Sie sich, JEAN SIBELIUS.«
»Hier spricht London Brown, Kommandant an Bord der JEAN SIBELIUS«, antwortete London sofort. »Ihre Informationen sind nicht korrekt. Hier an Bord ist alles in Ordnung. Wir danken Ihnen trotzdem dafür, dass Sie sich um uns gekümmert haben.«