13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.13 Bauernopfer

Der Schock saß ihnen noch tief in den Gliedern. Sie waren Piraten und allein schon deshalb waren ihnen Gewaltmittel nicht fremd. Doch der Anblick der explodierenden BLACK BOTTOM hatte ihnen einen Stich versetzt. Sie saßen nun auf diesem Frachter fest, der nicht einmal über eine einfache Laserkanone verfügte. Die JEAN SIBELIUS war zwar ein schnelles Schiff, doch war sie auch schwer beladen.
London wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es war ihm schwergefallen, seine Drohung glaubwürdig klingen zu lassen. Er hoffte, dass er sie niemals wahr machen müsste.
»Das ist doch nicht dein Ernst, London?«, fragte Hagen Thermorn. »Wenn sie uns jemals erwischen, sind wir erledigt.«
»Verdammt Hagen, wir müssen irgendeinen Weg finden, hier wegzukommen!«
Er drehte sich zu Isabella um, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
»Das ist dein Mann da drüben, richtig?«, fragte er und gab sich die Antwort selbst. »Ja, es ist dein Mann, da bin ich sicher. Damit hast du für uns einen besonderen Wert, Kleine. Entspann dich. Dich brauchen wir bis zuletzt. Die anderen allerdings ...«
»Sie rühren meine Leute nicht an!«, sagte Isabella mit schriller Stimme, wofür sie sich hasste. Sie war die Kommandantin und durfte keine Angst zeigen. Doch sie hatte Angst. Seit der Vernichtung des Schiffes rechnete sie jeden Augenblick mit einer Racheaktion der Piraten. Sie konnte diesen London nicht einschätzen.
London erhob sich von seinem Sitz und kam zu Isabella herüber. Er griff ihr in die Haare und zog ihren Kopf in den Nacken.
»Wer sollte mich daran hindern?«, presste er zwischen seinen Zähnen hervor. »Ich werde alles tun, was nötig ist, um heil aus dieser Situation herauszukommen. Wenn das bedeutet, Geiseln zu opfern, werde ich das tun. Hast du das verstanden?«
»London hör auf!«, forderte Hagen. »Das bringt doch nichts.«
Hagen schien der Einzige zu sein, der noch klar denken konnte.
»Analysieren wir doch einfach einmal unsere Situation«, sagte er. »Wir sind an Bord eines funktionsfähigen Schiffes, werden aber von einem Kampfschiff bedroht, das in der Lage ist, jeder unserer Bewegungen mühelos zu folgen. Wir haben bewaffnete Beiboote, doch sind sie im Grunde wertlos, da der Gegner sie sicher abschießen könnte, bevor wir auf Schussweite herankämen. Wir haben Geiseln. Sie sind der einzige Grund, warum wir noch nicht beschossen worden sind, also brauchen wir sie noch. Wir haben eine komplette Ladung Speicherkristalle, die uns nichts mehr nützt, da Kyle der Einzige war, der wusste, wo wir die Ladung löschen konnten.«
»Was genau willst du mir damit sagen?«, fragte London mit zusammengekniffenen Augen.
»Wie ich das einschätze, sollten wir die Flucht ergreifen – zum Asteroidengürtel, wo eine Verfolgung schon wegen der Masse der Trümmer nicht möglich ist. Schlimmstenfalls sollten wir die Ladung abwerfen, um mehr Manövrierfähigkeit zu erhalten.«
»Bist du vollkommen übergeschnappt?«, fragte London. »Diese Ladung da hinten ist doch der einzige Grund, warum wir überhaupt hier sind. Ihr Wert ist unschätzbar. Das willst du über Bord werfen? Wenn wir diese Beute durchbringen, haben wir ein für alle Mal ausgesorgt.«
Hagen winkte ab. »Vergiss den theoretischen Wert, London! Wir sind überhaupt nicht in der Position, diese Ware auf den Markt zu bringen. Wenn wir versuchen würden, diese Speicherkristalle in größeren Mengen anzubieten, hätten wir die Geheimdienste der UNO und der Weltmächte schneller am Hals, als uns lieb wäre. Ohne das Vertriebsnetz von diesem großen Unbekannten, den nur Kyle kannte, könnten das in den Laderäumen auch Steine sein – es würde für uns keinen Unterschied machen. Ich will aus dieser Sache heil herauskommen – nicht mehr und nicht weniger. Jetzt zählt nur das Entkommen. Um Beute zu machen, wird es dann schon andere Möglichkeiten geben.«
»Ist sonst noch jemand dieser Ansicht?«, wollte London wissen und blickte von einem zum anderen.
»Also ich würde mich hier auch gern aus dem Staub machen«, sagte Sabina.
»Haben sie schon mal darüber nachgedacht, einfach aufzugeben?«, fragte Danladi Swaso. »Bisher haben sie uns gut behandelt. Wir wären durchaus bereit, diesbezüglich zu ihren Gunsten auszusagen, oder?«
»Übertreiben sie es nicht«, mahnte Hagen. »Wir werden dieses Kriegsschiff dort drüben abhängen. Wenn sie uns daran hindern wollen, zu fliehen, werden sie auf uns schießen müssen und genau das werden sie nicht tun, solange sie alle unsere Gäste sind. Ich sehe daher keinen Grund für uns, den Kopf in den Sand zu stecken.«
»Schick deine Leute in die Beiboote!«, befahl London plötzlich. »Sie sollen den Gegner beschäftigen. Die Boote sind schnell und können nicht so leicht von den schweren Waffen des Kampfschiffes getroffen werden. Das wird sie ablenken, während wir uns auf die Flucht vorbereiten. Wenn es losgeht, werden sie uns nicht so schnell folgen können. In unserer Situation zählt jede Sekunde Vorsprung.«
»Das ist riskant für meine Leute«, wandte Hagen ein.
»Mach dich nicht lächerlich«, höhnte London. »Dafür sind deine Leute an Bord. Sie sollen endlich ihren Job machen.«
Hagen gab zögernd nach und informierte seine Truppe, dass sie starten solle, um den Gegner zu verwirren und vielleicht ein paar Treffer zu landen. Er schärfte ihnen jedoch ein, kein unkalkulierbares Risiko einzugehen.
Einige Minuten später sahen sie die ersten Beiboote, die sich auf den Weg machten, das fremde Schiff zu attackieren und zu beschäftigen. Es war London klar, dass die kleinen Laserbordkanonen der Beiboote den Gegner nicht nachhaltig gefährden würden, aber es würde ihn ablenken.
»Was haben Sie eigentlich vor?«, fragte Isabella, die ihre Angst allmählich in den Griff bekam. »Es bringt sie doch nicht wirklich weiter, in den Asteroidengürtel zurückzufliegen. Die FREELANCER wird sie verfolgen, wohin sie auch fliehen werden.«
»Halt dein verdammtes Maul!«, brüllte London sie an. »Sonst werde ich es dir stopfen!«
»London!!«, fuhr Hagen dazwischen. »Sie hat doch recht! Vielleicht können sie uns nicht durch die Asteroiden folgen, weil es dort für Schiffe dieser Größe schwierig ist, zu manövrieren, aber wir müssen irgendwann zurück zur Erde. Sie brauchen doch nur zu warten, bis es so weit ist und dann haben wir sie wieder am Hals.«
»Hagen, wer ist hier der Kommandant?«, fragte London und beantwortete seine Frage selbst. »Ich bin das. Meine Spezialität sind Manöver im komplizierten Raum. Ich werde sie in das Chaos des Asteroidenrings locken und dort werden sie scheitern. Kaum ein Pilot schafft es, dort zwischen den Trümmern nicht zu havarieren. Ich muss sie nur lange genug hinter mir herlocken, dann wird die stolze FREELANCER fluguntauglich werden, verlasst euch darauf.«
Isabella sah, wie London ihr Schiff für einen Alarmstart vorbereitete. Draußen im All tobte ein Scheinkampf, den weder die Beiboote, noch die FREELANCER gewinnen konnte. Die FREELANCER hatte sich erneut in die schon einmal beobachtete Kristallwolke gehüllt, die von den Lasern der Angreifer nicht durchdrungen werden konnte. Leider konnte die FREELANCER damit auch nicht mit ihren Lasern zurückfeuern und die Partikelkanone war zu langsam und schwerfällig. Sie konnte nicht schnell genug nachgeführt werden, um die wendigen Beiboote zu treffen. Es schien eine Pattsituation zu werden.
Plötzlich verstand Hagen, was ihn an diesem Plan gestört hatte.
»London, was ist mit meinen Männern, wenn der Reaktor der JEAN SIBELIUS bereit ist?«, fragte er. »Wenn wir anfangen, sie einzuschleusen, werden sie drüben merken, dass etwas nicht stimmt.«
London grinste böse. »Dann werde ich wohl besser darauf verzichten, sie einzuschleusen, nicht wahr?«
»Das ist nicht dein Ernst, London!«, rief Hagen aus. »Ich trage die Verantwortung für diese Männer! Ich lasse das nicht zu!«
Er ballte die Fäuste und näherte sich London, der seinem Navigator ein Zeichen gab, worauf er plötzlich eine automatische Waffe in der Hand hielt und auf Hagen richtete.
»Mach jetzt keinen Fehler, Hagen!«, warnte London und deutete auf die Monitore. »Du kannst dich ja draußen um deine Leute kümmern. Willst du das? Das sind Söldner, Hagen. Sie wurden dafür bezahlt, ihr jämmerliches Leben für uns aufs Spiel zu setzen und jetzt ist der Moment gekommen, wo ich diesen Einsatz fordere.«
»Du willst sie opfern für ein bisschen Vorsprung, der noch nicht einmal sicher ist?«, fragte Hagen entgeistert.
»Natürlich nicht!«, meinte London. »Ich denke weiter. Je weniger Menschen hier an Bord sind, umso länger reichen unsere Ressourcen, wie Luft, Wasser und Nahrung. In den Beibooten können sie auch ein paar Wochen aushalten. Wenn sie rechtzeitig Notrufe senden, wird man sie aufsammeln, also was soll's? Jetzt schnall dich an, wir starten in wenigen Sekunden.«
Renata Leqlerque, die direkt neben Isabella saß, flüsterte ihr zu: »Es ist doch Jan, der die FREELANCER fliegt, nicht wahr? Wird er es schaffen, uns im Asteroidengürtel zu folgen?«
Isabella presste die Lippen fest zusammen und nickte kaum merklich. Sie würden sich noch wundern, mit wem sie sich angelegt hatten. Da war sie sicher.
In diesem Moment drückte London die Starttaste und übernahm die manuelle Steuerung der JEAN SIBELIUS. Die Triebwerke erwachten spontan zum Leben und beschleunigten das Schiff mit Werten, die alle Besatzungsmitglieder tief in ihre Polster pressten. Isabella spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie hatte doch sonst keine Probleme mit solchem Andruck fertig zu werden. Da fiel ihr wieder ein, dass sie ja schwanger war. Sie hoffte, dass diese Tortur keine Komplikationen auslösen würden. Es war das Letzte, was sie dachte, bevor sie ohnmächtig wurde.