13. Der Flug der JEAN SIBELIUS

13.16 Auf Leben und Tod

»Sie melden sich nicht«, sagte Haruki nach einigen Versuchen. »Ob drüben mehr kaputtgegangen ist, als wir annehmen?«
»Das kann nicht sein!«, wandte Sean ein. »Ich hab einen perfekten Treffer landen können. Allein die Auswirkungen meines Treffers deuten darauf hin, dass ich wirklich nur die Triebwerksbauteile der Ableitbleche weggeschossen habe. Sie können nicht mehr navigieren, da ihnen sonst das Heck wegbrennt.«
»Wieso melden sie sich nicht?«, fragte Jan. »Sie haben keine Chance mehr, uns noch zu entkommen. Jeder vernünftige Mensch würde jetzt aufgeben. Haruki versuch weiter, eine Verbindung zu bekommen.«
»Geht klar«, meinte Haruki. »Es wird allerdings auch Zeit, dass wir endlich Kontakt bekommen, denn ich denke, es wird bald nötig sein, sie dort aus dem Schiff zu bekommen.«
»Wie meinst du das, Haruki?«, fragte Jan. »Was macht die Sache so eilig?«
»Die Asteroiden. Wir sind zwar noch ein gutes Stück vom eigentlichen Gürtel weg, aber es gibt auch hier schon vereinzelt Trümmer, die uns gefährlich werden können. Es sieht so aus, als wenn die JEAN SIBELIUS direkt auf einen solchen Felsen zusteuert. Da sie nicht mehr manövrieren können, sieht es nicht gut aus.«
Jan schnellte aus seinem Sessel und kam zu Haruki herüber. »Lass sehen!«
Haruki zeigte ihm in schneller Folge die Aufnahmen der Ortungserfassung. Die Darstellung war eindeutig: Die JEAN SIBELIUS würde mit dem Felsen zusammenstoßen.
»Das müssen die Verantwortlichen drüben doch auch mitbekommen haben«, meinte Pelle. »Sie müssten doch ein Interesse daran haben, das Schiff zu verlassen.«
»Welche Möglichkeiten haben wir, ihnen zu helfen?«, fragte Jan.
Pelle schaute seinen Freund verständnislos an. »Was soll die Frage? Du weißt doch genau, dass wir keine Beiboote haben und mit unseren Rettungszellen können wir sie nicht aufnehmen. Sie müssten schon in Raumanzügen das Schiff verlassen und sich mit den Anzugdüsen in Sicherheit bringen, bis wir sie aufsammeln können.«
»Das gefällt mir nicht!«, rief Jan aus. »Das gefällt mir überhaupt nicht!«
»Das gefällt keinem von uns!«, sagte Pelle. »Aber uns sind die Hände gebunden.«
»Haruki?«, fragte Jan in der Hoffnung, sie könnten vielleicht doch eine Verbindung bekommen haben, doch Haruki schüttelte nur den Kopf.
Es war bitter. Sie flogen mit der FREELANCER hinter der angeschlagenen JEAN SIBELIUS her und mussten mit ansehen, wie der Frachter unaufhaltsam auf den kleinen Asteroiden zuflog.
»Besteht eine geringe Chance, dass sie den Felsen verfehlen?«, fragte Mandy. »Vielleicht haben sie ja Glück.«
»Leider nein«, sagte Haruki. »Diese Hoffnung muss ich leider zerstreuen. Wenn sie so weiterfliegen, werden sie sogar frontal aufprallen. Halt! Wartet! Es tut sich etwas ... Sie haben die Lagedüsen eingeschaltet.«
»Können sie es damit schaffen?«
»Wenn sie nichts geladen hätten, vielleicht, aber sie haben Ladung an Bord. Das ist zu viel Masse. Das bekommen die kleinen Lagedüsen nicht ausreichend bewegt. Ich glaube, sie versuchen, sich quer zu stellen.«
Sie versammelten sich um die Ortungskonsole und beobachteten, was der Pilot der JEAN SIBELIUS versuchte.
»Das ist unter den gegebenen Umständen gar nicht dumm«, meinte Pelle. »Sie versuchen, sich in der Mitte treffen zu lassen. Es ist ihre einzige Chance, lebend da herauszukommen. Wenn es gelingt, prallt der Reaktorteil auf den Asteroiden und trennt ihn vom Rest des Schiffes.«
»Weißt du, was das bedeutet?«, fragte Jan.
Sie sahen sich alle einen Moment fragend an, dann wurde ihnen klar, worauf Jans Frage abzielte. Von einem Moment zum anderen verwandelte sich ihre bisherige Ruhe in betriebsame Hektik.
»Auf die Plätze!«, befahl Jan und schlüpfte auf seinen Pilotensitz. »Reaktor volle Leistung. Sicherheitswarnungen nicht beachten. Anschnallen nicht vergessen!«
Jan fühlte, wie ihm das Adrenalin durch die Adern schoss. Sie mussten so schnell wie möglich hier weg. Sie waren viel zu nah an der JEAN SIBELIUS, wenn der Reaktor an dem Asteroiden zerschellen würde. Sie wussten zwar nicht genau, was geschehen würde, wenn es zum Aufprall kam. Entweder wurde der hintere Teil des Schiffes abgetrennt, oder er schlug direkt dort auf. In jedem Fall würde jedoch keine Steuerung für den Reaktor mehr existieren. Er würde explodieren – eine nukleare Explosion im All. Sie würde nicht die verheerenden Auswirkungen haben, wie eine vergleichbare Explosion auf der Erde. Dennoch würde auch hier ein elektromagnetischer Puls von ungeahnter Stärke erzeugt werden, der in der Lage war, sämtliche Elektronik der FREELANCER zu zerstören. Das wäre auch ihr Ende. Es war nicht mehr genug Zeit, um zu errechnen, in welcher Entfernung sie sicher sein würden. Sie mussten sehen, so weit wegzukommen, wie es die restliche Zeit zuließ.
Jan drückte die Tasten für den Plasmaantrieb. Die FREELANCER setzte sich in Bewegung. Niemand sprach jetzt. Jedes Besatzungsmitglied starrte auf den Monitor, der die JEAN SIBELIUS zeigte, die nun quer zur Flugrichtung stand und weiter auf den Asteroiden zuraste. Sie hofften, dass sie noch weit genug entfernt sein würden, wenn es so weit war.
Dann geschah es: Der Frachter zerbrach innerhalb eines Augenblicks in zwei Teile. Der vordere Teil entfernte sich taumelnd und schlingernd, während der hintere Teil förmlich aufplatzte und Tonnen über Tonnen der begehrten Speicherkristalle ins All ergoss. Sie konnten nicht erkennen, wo der Reaktorteil geblieben war, weil die Kristalle wie eine dichte Wolke die Sicht versperrten. Dann blitzte es grell auf. Es geschah in absoluter Stille. Es war nur schwer vorstellbar, dass es sich um eine nukleare Explosion gehandelt haben sollte. Jan beobachtete kritisch seine Instrumente, deren Anzeigen plötzlich nur noch unsinnige Werte anzeigten. Das Triebwerk arbeitete noch. Das Deckenlicht hatte kurz geflackert, brannte aber nun wieder normal.
Dann kamen die Geräusche. Es begann mit einem Kratzen, das zu einem wahren Orkan anschwoll, der das gesamte Schiff erzittern ließ.
»Das sind die verdammten Kristalle!«, schrie Pelle gegen den Lärm an. »Die Explosion hat sie irrsinnig beschleunigt. Ich bin froh, dass ich jetzt nicht da draußen bin.«
Es hörte so schnell auf, wie es begonnen hatte. Die nachfolgende Stille kam ihnen im ersten Augenblick unheimlich vor. Jan schaltete den Antrieb ab.
»Bestandsaufnahme!«, rief er. »Gibt es Ausfälle?«
»Die Systeme laufen«, meldete Pelle. »Die Elektronik hat offenbar nichts abbekommen. Einige Kameralinsen haben wir durch das Kristallbombardement eingebüßt, aber das ist zu verkraften.«
»Wie steht es mit der Hülle? Ist sie unversehrt?«
»Es wird kein Hüllenbruch oder Leck gemeldet«, sagte Pelle. »Was mich bei unserer Molybdän-Stahl-Zelle auch gewundert hätte.«
»Gut«, sagte Jan. »nächste Frage: Kann der vordere Teil der JEAN SIBELIUS das überstanden haben?«
Sie sahen sich alle betroffen an. Diese Frage konnten sie nicht beantworten.
»Wir müssen zurück«, sagte Mandy. »Wenn sie das überlebt haben, brauchen sie jetzt  dringend unsere Hilfe.«
»Mandy, du hast den Kurs noch im Computer!«, sagte Jan. »Bring uns zurück! Wir wollen sehen, ob noch etwas zu retten ist.«
Die FREELANCER setzte sich in Bewegung – diesmal mit erheblich geringeren Schubwerten. Jan kaute an seinen Nägeln, während sie sich dem Ort der Explosion näherten. Er machte sich große Vorwürfe. Das alles wäre nicht geschehen, wenn sie nicht auf die Triebwerke des Frachters geschossen hätten. Er hoffte, dass die Besatzung der JEAN SIBELIUS das Bombardement der Kristalle überstanden hatte. Kurz bevor sie in die Nähe des Kleinasteroiden gelangten, übernahm Jan wieder selbst die Steuerung des Schiffes. Haruki fluchte lang und anhaltend. Die Kristalle hatten einige wichtige Rezeptoren zerstört, die nur in einem zeitraubenden Außeneinsatz repariert werden konnten.
»Die verdammten Kristalle!«, schimpfte er immer wieder. »Sie mögen ja ein Vermögen wert sein, aber es ist nicht spaßig, wenn sie einem um die Ohren fliegen. Ich muss richtig heftig improvisieren, um aus den wenigen Daten, die ich bekommen kann, ein vernünftiges Gesamtbild zu bekommen.«
»Was kannst du uns denn überhaupt liefern, Haruki? Findest du Überreste der JEAN SIBELIUS?«
»Ich hab einen größeren Ortungsreflex, der sich mit geringer Geschwindigkeit vom Asteroiden entfernt. Es könnte das Schiff sein, aber meine Instrumente sind derzeit nicht sehr exakt. Wir brauchen so schnell wie möglich optische Beobachtung.«
»Ich bekomme gleich ein Bild!«, verkündete Mandy, die nach längerer Suche einen kompletten Satz intakter Kameralinsen an der Außenseite der FREELANCER gefunden hatte. »Haruki mach mir einen Kanal frei, dann schalte ich es auf eure Monitore.«
Kurz danach sahen sie die JEAN SIBELIUS, oder besser das, was noch davon übrig geblieben war. Etwa zwei Drittel des Schiffes waren regelrecht verschwunden. Lediglich der Teil, in dem die Zentrale und die Kabinen waren, existierte noch. Der Rest war vom Asteroiden beim Aufprall abgetrennt worden. Noch wussten sie nicht, ob die Passagiere der JEAN SIBELIUS diese Katastrophe überlebt hatten, doch standen die Chancen besser als befürchtet, denn offenbar hatte sich der Bug des Frachters exakt im Schatten des Asteroiden befunden, als der Reaktor in einer gewaltigen Explosion vernichtet worden war.
»Bekommen wir eine Verbindung?«, wollte Jan wissen. Seine Stimme klang belegt, denn er befürchtete das Schlimmste.
»Leider nein, Jan«, sagte Haruki. »Die Empfänger schweigen, aber das muss nichts heißen. Vermutlich ist die Technik im Frachter nun total ausgefallen, nachdem die Energieversorgung weggerissen wurde.«
»Sie müssen noch Notbatterien haben«, sagte Jan. »Damit müssten sie immerhin noch einen Notruf absetzen können.«
»Und wenn es nicht die Batterien sind, sondern die Funkanlage selbst?«, fragte Mandy. »Wir werden ausschleusen und hinüber fliegen müssen. Vorher werden wir keine sicheren Aufschlüsse bekommen.«
»Du hast recht«, sagte Jan. »Ich werde mir einen Raumanzug aus dem Reservoir holen.«
»Das halte ich für keine gute Idee«, unterbrach Sean ihn. »Wir sind nur zu fünft. Du wirst hier als Pilot dringend gebraucht. So, wie ich es sehe, können wir derzeit nur mich und Pelle entbehren. Nur wir sollten hinüberfliegen und nach dem Rechten sehen. Ich verstehe ja deine Sorge um Isabella, aber wir müssen auch an unsere eigene Sicherheit denken.«
Man sah es Jan an, dass er nicht damit einverstanden war, aber er konnte sich der Logik in den Worten Seans nicht entziehen. Schweren Herzens sagte er:
»Gut, ich sehe ein, dass ich an Bord bleiben muss. Aber seid vorsichtig und nehmt auf jeden Fall eine Waffe mit. Wir wissen nicht, wie die Piraten an Bord reagieren - und sie sind in jedem Falle bewaffnet.«
»Wir werden vorsichtig sein«, versprach Sean und gab Pelle ein Zeichen, ihm ins Reservoir zu folgen. »Ich werde auf jeden Fall Waffen mitnehmen.«