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13. Der Flug der JEAN SIBELIUS
13.17 Kontrolle behalten
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, fuhr Hagen London an. »Wie kannst du in dieser Situation noch mit der Waffe herumfuchteln und uns bedrohen?«
Hagen bewegte sich ganz langsam auf London zu.
»Bleib, wo du bist!«, befahl London und unterstrich seine Worte mit einer energischen Bewegung seiner Waffe. »Ich werde ohne zu zögern auf dich schießen, wenn du auch nur einen Meter näherkommst. Wenn Ihr nicht in der Lage seid, einen Job vernünftig abzuschließen, muss ich euch eben dazu zwingen!«
»Welchen Job denn noch, London?!«, schrie Sabina ihn an. »Das Schiff ist ein Wrack, die Ladung ist weg, wir haben keine Beiboote und dort drüben steht irgendwo ein Kampfschiff, das uns bedroht. Das Spiel ist aus! Inzwischen müsste es auch der Letzte von uns begriffen haben. Ich habe nicht vor ...«
Ein Schuss gellte durch die Zentrale. London hatte direkt neben Sabina in die Ortungskonsole geschossen.
»Du hältst jetzt deine verdammte Klappe!«, fuhr London sie an. »Beim nächsten Schuss werde ich genauer zielen.«
Hagen hatte sich instinktiv vor Sabina manövriert, um sie zu schützen.
»Dann lass uns wissen, was du wirklich vorhast«, forderte er.
London wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und begann irre zu lachen.
»Ist das nicht klar?«, fragte er. »Wir werden uns dieses Kampfschiff holen und damit verschwinden!«
»Dann lass mal hören, wie du dir das vorstellst«, sagte Hagen, um Zeit zu gewinnen. »Denn, wie ich das sehe, sind wir derzeit taub und blind. Darüber hinaus stecken wir in einer Schiffszentrale fest, die wir nicht verlassen können.«
»Diese Leute in der FREELANCER sind doch keine Leute von unserem Schlag«, sagte London. »Es sind Menschen, die nicht ohne Weiteres mit ansehen können, wie andere Menschen sterben. Sie werden versuchen, uns zu retten. Dazu müssen sie aber zu uns herüberkommen. Wir müssen nur einfach abwarten und sie überwältigen, wenn sie kommen. Dann gehört uns dieses tolle Schiff und wir werden damit verschwinden.«
Isabella funkelte ihn aus wütend blitzenden Augen an.
»Und was soll mit der Mannschaft geschehen?«, fragte sie.
»Schätzchen«, sagte London. »Muss ich dir erst einen Grundkurs in Piraterie geben? Wir können keine Zeugen gebrauchen – nicht nachdem, was bisher geschehen ist. Ihr dürft alle hier an Bord dieses herrlichen Frachters bleiben. Du bist doch die Kommandantin dieses Schiffes. Der Captain geht immer mit seinem Schiff unter.«
London erheiterte sein eigener Einfall so sehr, dass er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Diesen Moment nutzte Lech Vasecky aus. Er stieß sich heftig ab und prallte mit seinem Körper seitlich gegen London, der dadurch sein Gleichgewicht und seine Kontrolle verlor. Krampfhaft hielt er seine Waffe umklammert und bemühte sich, sie auf Lech zu richten.
»Nicht auch noch du, Lech!«, rief er aus. »Wie kannst du dich auf die Seite dieser Verräter schlagen? Jetzt muss ich mich auch noch von dir trennen!«
London drückte mehrfach ab und die Kugeln flogen kreuz und quer durch die Kabine. Sie hatten es nur der Nervosität Londons und ungeheurem Glück zu verdanken, dass sie nicht ernsthaft verletzt wurden. Allerdings erhielt Lech einen Streifschuss an seinem linken Ärmel des Raumanzuges, der somit für einen Einsatz im All nicht mehr geeignet war.
Hagen wollte schon die Situation ausnutzen, doch London hatte sich schnell genug wieder unter Kontrolle und richtete seine Waffe auf ihn.
»Halt, halt, mein Freund!«, rief er. »Ich habe noch genügend Munition, um euch alle fertigzumachen. Notfalls werde ich auch ganz allein dieses Kampfschiff entern.«
»London, komm zu dir!«, mahnte Hagen. »Unsere Situation ist vollkommen verfahren. Dein Plan kann nicht funktionieren. Der Preis wäre viel zu hoch. Du willst doch nicht wirklich alle diese Leute hier opfern.«
London lachte irre. »Wer oder was soll mich daran hindern? Du etwa, du großer Kämpfer? Ich werde es zu verhindern wissen, dass Ihr mir in die Quere kommt. Einen Brown wird man niemals fangen und in ein Gefängnis stecken!«
»Das haben wir gesehen!«, schrie Isabella ihn an. »Ihren Bruder hat sein Größenwahn bereits das Leben gekostet! Verdammt noch einmal, wann akzeptieren Sie endlich, dass es vorbei ist?«
Londons Augen bekamen einen eigenartigen Glanz und das Lachen gefror auf seinen Lippen. Sein Gesicht wurde hart und kalt, als er seine Waffe hob und auf Isabellas Kopf richtete.
»Nun hör mal zu du Schlampe«, sagte er gefährlich ruhig. »Niemand – wirklich niemand – und am allerwenigsten du hast das Recht, über meinen Bruder in dieser Form zu sprechen.«
Londons Knöchel wurden weiß, so sehr presste er den Griff seiner Waffe, die noch immer auf Isabellas Kopf gerichtet war.
Hagen ließ London nicht aus den Augen, doch er wusste im Augenblick nicht, wie er Isabella in dieser Situation helfen sollte. Sie war viel zu weit von ihm entfernt.Pelle Larsson und Sean McConnor hatten sich gegenseitig beim Anlegen der schweren Raumanzüge geholfen. Durch eines der kleinen Fenster blickten sie nach draußen und sahen die Reste der JEAN SIBELIUS, die in weniger als hundert Metern Entfernung trieben. Es war nicht zu erkennen, ob dort noch jemand lebte. Pelle hoffte inständig, dass sie rechtzeitig gekommen waren. Er dachte dabei natürlich in erster Linie an Isabella, die Frau seines besten Freundes und Kommandanten der FREELANCER, doch auch die anderen Besatzungsmitglieder mussten gerettet werden.
»Wissen wir eigentlich, wie viele Menschen dort drüben überhaupt sein können?«, fragte Sean. »Wir sollten nämlich gleich Rettungsmaterial mitnehmen. Wer weiß, ob wir noch einmal zurückkehren können, um es zu holen.«
Pelle sah Sean fragend an. »Was sollen wir denn alles mitschleppen? Du willst doch auch Waffen mitnehmen. Welche Waffen haben wir überhaupt an Bord? Das war immer deine Domäne.«
»Ich schlage vor, dass wir einen der jumperähnlichen Schlitten mitnehmen, die in der Polschleuse lagern. Damit können wir einiges an Raumanzügen, Flickzeug, Atemluft und Erste-Hilfe-Ausrüstung transportieren. Die Schlitten dürften auf diese kurze Strecke auch im offenen All zu manövrieren sein.«
»Okay, aber was ist mit den Waffen?«, fragte Pelle. »Ich habe bisher noch nirgends Handfeuerwaffen gesehen.«
»Die FREELANCER ist ein Testraumschiff. Wir haben auch keine normalen Handfeuerwaffen an Bord. Dafür weiß ich, wo man ein paar der neuartigen Laserwaffen versteckt hat, denn wir sollten eigentlich auch sie auf diesem Flug testen. Allerdings hatte niemand daran gedacht, sie in einem echten Einsatz zu gebrauchen.«
»Laserwaffen?«, fragte Pelle ungläubig. »Du willst mich verscheißern, oder?«
»Nein wirklich. Sie wurden von einer Schweizer Firma aus den Laserbrennern entwickelt, die man schon länger im All zum Schneiden von Blechen verwendet. Die Brenner wurden so modifiziert, dass sie nicht auf einen Punkt kurz vor dem Projektor fokussieren, sondern den gebündelten Strahl auf ein entferntes Ziel abstrahlen. Um die notwendige Leistung zu erhalten, wurden spezielle Batterien entwickelt, die ihre gesamte Energie in einem einzigen Augenblick abgeben. Sie werden danach ausgeworfen wie eine leere Patronenhülse. Ich glaube, sogar die Projektorspitze muss nach jedem Schuss erneuert werden.«
»Du glaubst? Du klingst, als wenn du diese Waffe nur vom Hörensagen kennst.«
Sean druckste herum. »Na ja, in der Hand gehalten hab ich so ein Ding noch nicht. Aber theoretisch kann ich sie bedienen.«
»Hey, wie weit seid Ihr?«, drang Mandys Stimme aus dem Lautsprecher in der Wand des Reservoirs. »Jan lässt fragen, wann Ihr endlich zur JEAN SIBELIUS hinüberfliegt.«
»Wir sind gleich so weit«, rief Pelle. »Wir holen nur noch einen der Schlitten aus der Polschleuse. Sean will damit Rettungs- und Hilfsmittel nach drüben bringen.«
Von den Waffen erwähnte er nichts, da er nicht vorhatte, in diese Situation noch eine zusätzliche Dramatik hineinzubringen.
Sie setzten ihre Helme auf und verriegelten sie. Nach einer kurzen Sprechprobe war es so weit und sie kletterten aus dem Reservoir in die Röhre, die zu einer der Schleusen an den Ecken der Schiffskonstruktion führte. Es war ein umständlicher und weiter Weg, den sie zurücklegen mussten. Sie hatten sich mit einem langen Seil aneinander gebunden und kletterten abwechselnd über die Hexaederkonstruktion der FREELANCER, immer einer den anderen sichernd, bis sie schließlich den Pol des Schiffes und seine Schleuse erreichten. Pelle öffnete das Schott und blickte ins Innere. Mehrere Schlitten lagen übereinander und warteten darauf, von ihnen ins Freie bewegt zu werden. Pelle kümmerte sich sofort darum, das oberste der Fahrzeuge mit dem benötigten Material zu beladen, das glücklicherweise ebenfalls in der Polschleuse gelagert war. Sean verschwand sogleich in einem Seitengang und tauchte erst nach einigen Minuten wieder auf, unter jedem Arm eine klobige Waffe mit einem kristallinen Lauf und einer optischen Zielvorrichtung und digitaler Verstärkung. Über der Schulter trug er eine vermutlich schwere Tasche, denn er hatte seine liebe Mühe, ihr in der Schwerelosigkeit die richtige Richtung zu geben.
»Meine Güte, was sind das für Klötze!«, entfuhr es Pelle. »Das sind die Laserwaffen? Dann zeig mal, wie man sie verwendet.«
»Ich kenne es zwar nur aus den Infoschriften, die man als Waffenexperte immer per Mail erhält, aber es ist doch das Meiste selbsterklärend.«
Sean verstaute eine der Waffen auf dem Schlitten und setzte die zweite Waffe mit geschickten Handgriffen zusammen. Anschließend nahm er zwei trommelartige Magazine aus der Tasche und schloss sie unter dem Lauf an dem Gerät an, wodurch es noch unhandlicher wirkte.
»Das ist nicht besonders handlich, oder?«, fragte Pelle. »Gibt es das nicht kleiner?«
»Es sind Prototypen«, erklärte Sean. »das Vordere ist das Projektormagazin, das Hintere das Batteriemagazin. Ob die Dinger nun handlich sind, oder nicht – wir haben nichts anderes. Ich werd es einmal ausprobieren.«
Das Schleusenschott stand noch offen, also zielte Sean auf eines der Trümmerteile der JEAN SIBELIUS, die noch vereinzelt umherflogen. Weich ließ sich der Abzug betätigen und völlig lautlos verließ der gebündelte Lichtstrahl des Lasers den Lauf der Waffe, der sofort milchig weiß wurde und damit unbrauchbar. Das getroffene Trümmerteil hatte kurz aufgeleuchtet und war in zwei Teile zerbrochen.
»Wow!«, sagte Pelle. »Das waren wenigstens zweihundert Meter! Diese Gewehre sind mir unheimlich. Ich hoffe, dass wir sie nicht gebrauchen müssen.«
Sean nickte, als er den Knopf für das automatische Nachladen drückte. Die Projektorspitze segelte davon und wurde durch eine neue Spitze aus dem Magazin ersetzt. Ebenso sprang eine neue Batterie in die Ladungskammer. Sean legte die Waffe weg und setzte die zweite Waffe zusammen, damit sie einsatzbereit war.
»Sean, es wird Zeit«, mahnte Pelle. »Wir müssen dort rüber.«
»Ich bin soweit«, sagte Sean und nahm vorn auf dem Schlitten Platz, wo er sich anschnallte und seine Waffe in Reichweite bereithielt.
Pelle betätigte den Zündknopf für die kleinen Triebwerke des Schlittens und ließ ihn langsam aus der Schleuse gleiten.
»Wir haben euch auf dem Bildschirm«, meldete sich Jan über Funk. »Seid bitte vorsichtig!«
»Keine Sorge, Jan«, antwortete Pelle. »Wir sind nicht lebensmüde. Außerdem hab ich mir geschworen, Isabella mitzubringen.«
Jan sagte nichts mehr. Pelle hoffte, nichts Falsches gesagt zu haben. Er hatte auch nicht die Zeit, sich näher mit diesem Problem zu befassen, denn der Weg zur JEAN SIBELIUS war nicht weit und schon kurz nach dem Start musste Pelle abbremsen, um sanft am Ziel anlegen zu können.
Je näher sie der JEAN SIBELIUS kamen, umso besser konnten sie das wahre Ausmaß der Zerstörungen erkennen. Der hintere Teil der JEAN SIBELIUS war wie mit der Faust eines Titanen vom Rest des Schiffes abgerissen worden. Zackig und ausgefranst ragten Teile der Schiffsinnereien in alle Richtungen. Es war ein fliegender Schrotthaufen. Pelle und Sean wurden immer stiller, je genauer sie den Zustand der Restzelle beurteilen konnten. Pelle führte den Schlitten in eine Kurve, um das Wrack von allen Seiten zu betrachten.
»Ob sie rechtzeitig die Sicherheitsschotts schließen konnten?«, fragte Sean. »Wenn sie das nicht geschafft haben, erwartet uns kein angenehmer Anblick.«
»Ich weiß«, sagte Pelle heiser. »Ich frage mich im Moment noch, wie wir überhaupt hineingelangen. Die einzige Schleuse, die ich bisher sehen konnte, ist so weit zerstört, dass sie zum einen nicht dicht ist und zum anderen so stark verbogen, dass wie sie nicht öffnen könnten.«
»Da war noch eine kleine Notschleuse«, meldete Sean. »Knapp über dem Abriss auf der anderen Seite.«
»Vergiss es, ich hab sie auch gesehen. Die ist auch unbrauchbar. Wir sollten den Abriss gründlicher untersuchen. Vielleicht gelingt es uns, dort einzudringen.«
Sean tätschelte seine Waffe und drehte sich zu Pelle um. »Ich weiß, wie wir dort hineinkommen. Ich schieße uns ein Loch in die defekte Schleuse.«
»Zu riskant. Wir könnten vielleicht Überlebende gefährden.«
»Doch nicht hinter einer demolierten Schleuse!«, regte sich Sean auf. »Ich werd uns jetzt einen Zugang schaffen.«
Ehe Pelle noch etwas sagen konnte, legte Sean an und feuerte zwei Mal auf die verbogene Schleuse. Sein Plan ging auf. Nach dem zweiten Schuss löste sich ein großes Stück Metall aus der Schleusenwand und segelte gemächlich fort. Die entstandene Öffnung reichte aus, um sogar mit dem Schlitten hineinzufliegen. Pelle wartete gar nicht erst ab, sondern nahm sofort Kurs auf die Schleusenkammer, die eigentlich einmal ein Beiboot enthalten haben musste. Nun jedoch war der Raum leer. Pelle schaltete die Scheinwerfer des Schlittens ein und setzte das Fahrzeug auf dem Boden auf. Die Magnethalterungen an der Unterseite hielten ihn auf dem Boden fest. Mit dem beweglichen Scheinwerfer des Schlittens verschafften sie sich einen groben Überblick und sahen, dass die Kammer überall breite Risse zeigte. Somit war die Atemluft aus den dahinter liegenden Gängen und Räumen ebenfalls entwichen. Sie hofften, dass es in diesem Wrack irgendwo noch intakte Räume gab, in denen die Besatzung überlebt hatte.
»Wir sollten ein paar Ausrüstungsgegenstände mitnehmen, wenn wir uns jetzt auf den Weg machen«, schlug Sean vor.
»Das hatte ich sowieso vor. Ich werde mir die Tasche mit dem Flickzeug umhängen. Könntest du die Erste-Hilfe-Ausrüstung nehmen?«
Wortlos nahm Sean die Tasche, hängte sich aber zusätzlich auch einen Beutel mit Ersatzmagazinen für ihre Waffen um.
»Was soll das? Glaubst du wirklich, das ist angesichts des Zustands der JEAN SIBELIUS notwendig?«
»Pelle, wach‹ auf!« sagte Sean. »Wenn wir hier wirklich Überlebende finden werden – was ich hoffe -, kann es sein, dass es auch Piraten sind, die überlebt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns mit einem schlichten ›Danke‹ empfangen werden. Diese Leute hätten allen Grund, uns anzugreifen. Immerhin ist es unser Werk, dass sie in dieser Situation stecken und es gibt auf der Erde keinen Staat, der nicht vehement gegen Piraterie vorgeht. Wir sollten gewappnet sein, wenn wir jetzt weitergehen.«
Pelle überprüfte den Ladezustand seiner Helmlampe und stellte beruhigt fest, dass er für die nächsten zehn Stunden reichen würde. Entschlossen griff auch er nach einer der Laserwaffen und deutete auf einen besonders breiten Riss in der Schleusenwand.
»Dort müssten wir eigentlich hindurchpassen«, sagte er. »Vermutlich liegt dahinter ein Gang. Es kann eigentlich nicht weit bis zur Zentrale sein.«
Vorsichtig quetschten sie sich durch den Riss, wobei der jeweils andere darauf achtete, dass keine Schäden am Raumanzug verursacht wurden. Pelle hatte recht: Hinter der Schleusenwand verlief ein Gang, der eigentümlich verdreht wirkte. Es mussten ungeheure Kräfte gewirkt haben, als das Heck abgerissen wurde. Es war vollkommen dunkel. Ursprünglich musste dieser Gang dazu gedient haben, Schwerkraft zu simulieren, denn er führte scheinbar einmal um das ganze Schiff herum. Man brauchte daher nur das Schiff in eine leichte Rotation zu versetzen und hatte dann durch die Zentrifugalkraft den Eindruck einer leichten Schwerkraft. Jetzt jedoch war davon nichts zu spüren, sodass die beiden sich vorsichtig abstoßen mussten, um dann langsam durch den Gang zu gleiten. Um zur Zentrale zu gelangen, mussten sie einen Abzweig nach ›oben‹ finden. Ständig mussten sie Gegenständen ausweichen, die umherflogen, weil sie sich irgendwo gelöst hatten. Endlich entdeckten sie eine Leiter, die nach oben führte. Sean leuchtete in die nach oben führende Röhre hinein, doch war nicht zu erkennen, wohin sie führte.
»Worauf wartest du?«, wollte Pelle wissen. »Wir müssen dort hinauf. Nur so gelangen wir ins Zentrum des Schiffes. Irgendwo dort oben muss es einen Gang in Längsrichtung des Schiffes geben. Wenn wir den haben, finden wir auch die Zentrale.«
Sean hängte sich die Waffe über die Schulter und begann, die Leiter hinaufzusteigen. Die sichtbaren Zerstörungen nahmen hier schnell ab und bald hatten sie den zentralen Gang gefunden, der sie zur Zentrale führen sollte.Die Situation innerhalb der Zentrale der JEAN SIBELIUS wurde immer unerträglicher. London legte seine Waffe überhaupt nicht mehr aus der Hand, da er befürchten musste, dass ihn die anderen sonst überwältigen würden. Hagen lauerte ständig darauf, dass London eine Schwäche zeigte, denn dann würde der geübte Kämpfer kurzen Prozess mit seinem früheren Gefährten machen. Hagen hatte – wie auch die anderen Piraten – inzwischen nicht mehr das Verlangen, sich den Weg ohne Rücksicht auf das Leben ihrer Geiseln kompromisslos freizuschießen. Sicher, sie waren Kriminelle, doch saßen sie nun alle im selben Boot. Hagen blickte zu Sabina hinüber, die sich an der zerstörten Ortungskonsole festhielt. Sie sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Hagen befürchtete, dass sie etwas plante, und schüttelte unmerklich seinen Kopf. Er wollte nicht, dass ihr etwas geschah.
Sabina hatte in der Zwischenzeit einige Überlegungen angestellt. Sie ging fest davon aus, dass man von der FREELANCER ein Rettungsteam herüberschicken würde. Sie schätzte, dass eventuell sogar schon jemand im Schiff war und sie nur nichts davon mitbekommen hatten, weil sie keine Instrumente mehr besaßen, die das feststellen konnten. Die beiden anderen Frauen, Renata Leqlerque und Isabella Lückert hatten sich zu Sabina hinübertreiben lassen. Im Laufe der letzten Stunden waren sich die Frauen – auch wenn sie aus unterschiedlichen Lagern kamen – nähergekommen.
»Was tust du da?«, fragte Isabella flüsternd, damit London nichts davon mitbekam. Doch ihre Sorge war unbegründet. London war genügend dadurch abgelenkt, Hagen in Schach zu halten, den er für den Gefährlichsten hielt.
»Ich versuche, unsere Retter zu warnen«, flüsterte Sabina.
»Der Funk ist kaputt«, flüsterte Renata. »Das kannst du vergessen.«
»Isabella stell dich so hin, dass London meinen rechten Arm nicht sehen kann.«
»Was hast du vor?«
Ohne ihre Lippen wirklich zu bewegen, sagte sie: »Wenn ich aus unseren Batterien Spannung auf die Sendeanlage gebe, gibt es zumindest einen Störimpuls – ein Knacken. Ich werde versuchen, damit zu morsen. Ich habe noch das Morsealphabet gelernt. So lange London seinen Raumhelm nicht aufsetzt, wird er das Knacken nicht bemerken. Unsere Retter – sofern sie schon hier in der Nähe sind – werden Raumanzüge tragen müssen. Sie werden es hören.«
»Und wenn sie es nicht verstehen?«, fragte Renata.
»Zumindest mein Mann kann es«, sagte Isabella. »Und Pelle auch. Wir haben eine gute Chance. Sabina, du bist großartig.«
Sabina lächelte leicht. »Sag das, wenn es funktioniert hat. Trotzdem danke für das Kompliment.«
Vorsichtig schob sich Isabella vor Sabina, die ihre Hand wie zufällig auf der Aktivierungstaste der Sendeanlage ruhen ließ und diese rhythmisch ein- und ausschaltete.Jan saß in der Zentrale der FREELANCER und fühlte sich wie ein Tiger im Käfig. Es machte ihn fertig, nichts tun zu können. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er an seinen Nägeln kaute. Er hatte zwar selbst die Funkstille vereinbart, um eventuell mithörenden Piraten keine wichtigen Informationen zu geben, aber er hielt es einfach nicht mehr aus.
»Haruki, ich muss jetzt wissen, was dort los ist«, sagte er. »Mach mir eine Verbindung zu Pelle und Sean.«
Einen Augenblick später konnte er mit ihnen sprechen.
»Wie weit seid ihr?«, fragte er Pelle. »Habt Ihr die Zentrale gefunden?«
»Wir hatten anfangs Schwierigkeiten mit Trümmerteilen in den Gängen, aber jetzt nehmen die Zerstörungen ab. Wir können die Schleuse der Zentrale schon sehen und sind gleich da.«
»Gibt es Lebenszeichen?«, fragte Jan hoffnungsvoll. »Vielleicht Klopfzeichen oder Funkmeldungen?«
»Negativ«, sagte Pelle. »Entweder haben sie uns noch nicht bemerkt, oder ihr Funk ist total ausgefallen, wer weiß? Bald sind wir schlauer.«
»Was war das eben?«, fragte Sean. »Es hat im meinen Kopfhörern geknackt.«
»Ich habe es auch gehört«, bestätigte Pelle.
Sie lauschten eine Weile, während Jan über die Funkstrecke ebenfalls dieses Knacken hören konnte, das sich regelmäßig wiederholte und immer schneller wurde.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Sean. »Sind wir in irgendein Störfeld geraten?«
»Nein warte«, sagte Pelle. »Ich glaube … ich vermute ...«
»Morsezeichen!«, rief Jan. »Da ist jemand im Schiff, der das Morsealphabet beherrscht! Ich schreib das sofort mit. Ich bin etwas aus der Übung. Direkt beim Hören kann ich es leider nicht mehr verstehen, aber wenn ich es sehe, wird es gehen.«
»Chef, wir können es gleich durch den Decoder laufen lassen«, meinte Haruki. »Zwar nutzt man heute kaum noch Morsezeichen, aber man hat es im Verschlüsselungssystem noch immer gespeichert. Warte, gleich geht es los.«
Gespannt blickten sie auf den kleinen Monitor des Verschlüsselungscomputers und erfuhren, dass es offenbar jemanden aus den Reihen der Piraten gab, der sich nicht davon abbringen ließ, diesen Kampf zu gewinnen. Der Schreiber informierte in kurzen Worten darüber, wie es den einzelnen Überlebenden ging und was die Retter erwarten würde, wenn sie unvorbereitet die Zentrale aufbrachen. Einige der Leute besaßen Raumanzüge, die nur einen kurzfristigen Schutz boten. Um sie würde man sich sofort kümmern müssen, wenn der Druck in der Zentrale abfiel. Jan las den Text sofort laut vor, damit Pelle und Sean wussten, worauf sie sich einstellen mussten.
»Wer ist denn der rätselhafte Schreiber dieser Informationen?«, wollte Pelle wissen. »Wir haben über alle Besatzungsmitglieder der JEAN SIBELIUS etwas erfahren. Es muss einer von den Piraten selbst sein.«
»Wir wissen nicht, wer uns das Material gemorst hat«, sagte Jan. »Aber wir wissen jetzt, dass wir nur einen einzigen Mann fürchten müssen – diesen London Brown. Er ist entweder vollkommen durchgedreht, oder ein hoffnungsloser Fanatiker. Wie gehen wir vor?«
»So, wie ich es beurteile, werden wir das Schott aufschießen müssen«, mutmaßte Sean. »Freiwillig werden sie nicht öffnen. Das wird schon dieser London Brown verhindern. Können wir irgendwie mit dem Schreiber der Nachrichten Kontakt bekommen?«
»Das glaube ich eher nicht. Ich vermute, dass er im Geheimen tippt und London es noch gar nicht bemerkt hat. Oh, wartet – hier kommt noch etwas. Hier steht, dass London auf zwei Uhr, ausgehend von Schottmitte, stehen soll.«
Sean lachte humorlos auf. »Es gibt nur einen einzigen Grund, warum er uns so eine Information gibt. Wir sollen ihn erledigen. Wir sollen darauf gefasst sein, wo er steht, wenn wir in die Zentrale eindringen und sofort schießen.«
»Mir gefällt das nicht«, sagte Pelle.
»Meinst du, mir gefällt das? Aber sind wir doch mal realistisch. Wir wissen, dass es den Leuten noch ganz gut geht, wenn auch bei einigen der Raumanzug nicht mehr völlig intakt ist. Wir haben zwar Flickzeug, das ein Leck spontan vulkanisieren kann, aber wir können uns nur um eines kümmern: entweder um die Leute oder um diesen durchgeknallten Piraten. Wenn wir da reingehen, muss es schnell gehen.«
Pelle verzog das Gesicht. Er war kein Killer. Es widerstrebte ihm, einen Menschen einfach niederzuschießen, selbst wenn es sich dabei um einen Verbrecher handelte.
Sean bemerkte den inneren Zwiespalt Pelles und fügte hinzu: »Was überlegst du noch? Dieser London hatte keine Hemmungen, seine eigenen Leute in kleinen Beibooten mitten im All auszusetzen, nur um uns in einen Entscheidungsnotstand zu bringen. Er setzte ihr Leben einfach aufs Spiel. Denk an Isabella, die noch da drin ist, oder Renata Leqlerque, die Navigatorin. Willst du deren Leben aufs Spiel setzen, um einen Verbrecher zu schonen? Komm Pelle, wir müssen das jetzt erledigen. Von mir aus setze ich den Schuss auf London. Wir haben keine andere Wahl.«
»Na gut, ich sehe ein, dass wir nicht mehr länger warten sollten«, lenkte Pelle ein. »Aber ich möchte wirklich nicht auf Menschen schießen müssen.«
»Ich bin Waffenexperte, Pelle«, sagte Sean. »Ich mach das schon. Ich habe auch schon einen Plan.«
Er stellte sich in Schottmitte auf und zeigte mit der Hand auf einen Punkt, der auf einem Zifferblatt etwa auf zwei Uhr zeigen würde. Dann zog er einen Filzstift aus einer Tasche und markierte die Stelle auf dem Schott.
»Du wirst dich mit deiner Waffe dort hinten, hinter der Säule platzieren und diesen Punkt anvisieren. Wenn ich dir ein Zeichen gebe, schießt du so lange, bis du ein Loch im Schott siehst. Aber die Schüsse müssen unmittelbar hintereinander erfolgen – nicht erst lange warten. Also schießen, nachladen, schießen und so weiter. Sobald du durch bist, hörst du auf. Dann bin ich dran. Ich werde versuchen, durch das Loch die Zielperson zu erledigen.«
»Das soll funktionieren?«, fragte Pelle skeptisch.
»Ich bin ein guter Schütze«, meinte Sean grinsend. »Bleib aber unbedingt hinter der Säule. Es kann nämlich sein, dass der Innendruck das beschädigte Schott endgültig zerreißt.«
»Bist du verrückt? Wenn das geschieht, sind sie darin alle tot!«
Sean schüttelte den Kopf. »Blödsinn! Sie tragen alle einen Raumanzug. Es bedarf nur eines Handgriffs, um die Helme zu schließen. Wir müssen uns nur Sorgen um die Leute mit den leckgeschlagenen Anzügen machen. Bist du so weit?«
Pelle nickte. Vorsichtig ließ er sich zu der Säule treiben, die ihm als Deckung dienen sollte, während Sean in einem Seitengang verschwand. Er musste von der Seite schießen, wenn er London erreichen wollte. Dann gab er Pelle über Helmfunk das Zeichen. Pelle prüfte, ob seine Waffe korrekt eingerichtet war, dann legte er die klobige Waffe an und sah durch das optische Visier. Im Fadenkreuz sah er ganz deutlich den Punkt, den Sean auf das Schott gemalt hatte. Er atmete noch einmal tief durch, dann zog er den Abzug durch. Völlig unspektakulär sah er für einen kurzen Moment einen hauchdünnen Lichtstrahl zwischen Waffe und Schott, gefolgt von einem Gewitter von Funken, die in alle Richtungen davonflogen. Am Schott zeigte sich ein gut faustgroßer, verbrannter Fleck.
»Weiter, Pelle!«, feuerte Sean ihn an.
Pelle löste die verbrauchten Elemente und lud nach. Der nächste Schuss.